# taz.de -- Die Geschichte von „Bella Ciao“: Die erfundene Tradition | |
> Vor 80 Jahren begann die italienische Resistenza, „Bella Ciao“ ist ihr | |
> berühmtestes Lied. Wurde es tatsächlich von den Partisan*innen | |
> gesungen? | |
Bild: „Wenn ich sterbe, ihr Partisanen, Bella Ciao, bella ciao, bella ciao, c… | |
Aus den Minaretten der türkischen Stadt Izmir hätte der übliche Ruf zum | |
Gebet erklingen sollen, doch plötzlich kam es anders. Aus den Lautsprechern | |
der Moscheen war nicht die gewöhnliche Stimme des Muezzins zu hören, | |
sondern [1][das antifaschistische Lied „Bella Ciao“]. | |
Die meisten Imame schritten schnell ein, aber es war trotzdem zu spät. Die | |
Aktion, anscheinend von Hackern verübt, verbreitete sich rasch in den | |
sozialen Medien – und machte den Präsidenten Erdoğan umso wütender. | |
Staatliche Medien sprachen von einem „Skandal“, von einer „widerlichen | |
Attacke“. | |
Das passierte im Mai 2020. In der Türkei ist das italienische Lied „Bella | |
Ciao“ schon längst bekannt, zu hören war es zum Beispiel bei den | |
Gezi-Protesten 2013. Auch in Kurdistan und in Chiapas ist „Bella Ciao“ als | |
Freiheitslied populär, in jüngster Zeit wurde es in der Ukraine, im Iran, | |
in Chile und Hongkong gesungen – und die Liste der Länder, in denen es zum | |
Symbol verschiedener Aufstände geworden ist, ist noch länger. | |
Die Aktivisten und Aktivistinnen von Occupy Wall Street sangen „Bella | |
Ciao“, die von Fridays For Future dichteten daraus einen Klima-Song („We | |
need to open our eyes, And do it now now noooow“). [2][Bei linken Demos | |
wird es fast immer abgespielt], bei Querdenker-Demos hört man es aber auch. | |
Inzwischen existieren mehrere Remix-Versionen, die daraus einen beliebten | |
Party-Hit gemacht haben, die spanische Netflix-Serie „Haus des Geldes“ hat | |
es endgültig zum popkulturellen Motiv gekrönt. Man könnte also sagen: Trotz | |
seines Alters geht es diesem Lied gut, sehr gut sogar. | |
## Hymne der italienischen Resistenza | |
„Bella Ciao“ ist in die Geschichte als Hymne der italienischen Resistenza | |
eingegangen. Diese hat im September 1943, also vor 80 Jahren, nach der | |
Absetzung von Benito Mussolini und dem Waffenstillstand mit den Alliierten | |
begonnen. Wie viele Menschen als Partisanen und Partisaninnen gegen die | |
deutschen Besatzungstruppen und die faschistische Republik von Salò | |
kämpften, ist schwierig zu sagen, laut einigen Schätzungen sind es zirka | |
250.000 Italienerinnen und Italiener gewesen, wobei viele von ihnen sich | |
erst in den letzten Kriegsmonaten daran beteiligten. | |
Vermutlich war [3][die italienische Resistenza] nach der jugoslawischen die | |
größte in Europa, in Anbetracht der italienischen Gesamtbevölkerung, die | |
damals um die 45 Millionen Menschen zählte, betrug sie allerdings nur ein | |
Bruchteil dessen. | |
45.000 Widerstandskämpfer*innen verloren dabei ihr Leben, ihre | |
dramatischen Geschichten mündeten in unzählige Bücher, Erzählungen und | |
Kunstwerke. Und natürlich in Lieder wie „Bella Ciao“ – obwohl die | |
Historiker sich inzwischen einig sind: Wenn man für die Resistenza einen | |
Symbolsong festlegen sollte, dann müsste es wahrscheinlich stattdessen | |
„Fischia il vento“ heißen. | |
„Fischia il vento“, auf Deutsch „Es pfeift der Wind“, war die offizielle | |
Hymne der Garibaldi-Brigaden, die der Kommunistischen Partei angeschlossen | |
waren. Verfasst wurde es vom Widerstandskämpfer und Arzt Felice Cascione, | |
der selbst bei einem Feuergefecht gegen die faschistischen Einheiten starb, | |
zur Melodie des russischen Liebesliedes „Katjuscha“. | |
Was „Bella Ciao“ angeht, liegt seine Entstehungsgeschichte im Unklaren. | |
Wurde das berühmteste Partisanenlied tatsächlich von den Partisanen | |
erfunden und gesungen? Viele Historiker sagen: nein. Oder zumindest: nur | |
vereinzelt. | |
## Herkunft des Liedes ist unklar | |
Der Text von „Bella Ciao“ ist wahrscheinlich inspiriert von einem alten | |
Lied, das schon im 19. Jahrhundert in Norditalien verbreitet war. Die Musik | |
wird hingegen auf verschiedene populäre Melodien zurückgeführt. Laut | |
manchen Quellen wurde eine ähnliche Tonfolge von den Reispflückerinnen in | |
Norditalien gesungen, laut anderen entstammt es einem jiddischen, einem | |
französischen oder einem dalmatischen Lied. | |
Die entscheidende Frage – und zwar, ob „Bella Ciao“, wie wir es heute | |
kennen, tatsächlich in der Resistenza gesungen wurde – wird von vielen | |
Historikern allerdings angezweifelt. | |
Cesare Bermani sieht es anders. Für den Historiker ist das Lied in | |
irgendeiner Form von einer in den Abruzzen gegründeten Partisanenbrigade, | |
der Brigata Maiella, gesungen und von den damaligen Liederbüchern ignoriert | |
worden. | |
Doch ist eines so gut wie sicher: „Bella Ciao“, das Partisanenlied | |
schlechthin, [4][jenes Partisanenlied, das jetzt überall in der Welt | |
gesungen wird], war in der italienischen Resistenza sehr wenig verbreitet – | |
wenn überhaupt. Erst später, in den sechziger Jahren, wurde seine Tradition | |
„erfunden“, und das Lied wurde zu dem, was es noch heute ist: zum Symbol | |
des Widerstandes. | |
## Ein kommunistisches Lied hatte keine Chance | |
Dennoch setzte sich ausgerechnet „Bella Ciao“ als beliebtestes | |
Resistenza-Lied durch. Zwar wäre ein anderes wie zum Beispiel [5][„Fischia | |
il vento“] passender gewesen, um den Kampf der Partisanen zu zelebrieren. | |
Aber in einem von den Christdemokraten regierten Land, wie es Italien bis | |
zu den Neunzigerjahren war, hatte ein kommunistisches Lied – in dem von | |
einem „roten Frühling“ die Rede war und das von einer russischen Melodie | |
getragen wurde – keine Chancen. | |
„Bella Ciao“ hat hingegen keine klare politische Konnotation und konnte | |
somit die verschiedenen Seelen der Resistenza vereinen. Die italienische | |
Widerstandsbewegung ist nämlich ein facettenreiches Phänomen gewesen: Neben | |
den Kommunisten kämpften auch die Sozialisten, die Christdemokraten, die | |
Liberalen, die Republikaner, die Anarchisten und auch die Monarchisten | |
gegen die deutschen Besatzungstruppen und die italienischen Faschisten – | |
und in der Nachkriegszeit konnten und wollten sie sich alle in einem Lied | |
wiederfinden. | |
Außerdem war da noch seine Einprägsamkeit, sein Rhythmus. “In der Tat | |
trugen auch Änderungen des Musikgeschmacks und die Begleitung mit | |
Händeklatschen zum Erfolg des Liedes bei“, schreibt der Historiker Bermani. | |
Will heißen: Nicht nur bei andächtigen Zeremonien funktioniert „Bella Ciao�… | |
gut, sondern auch auf der Straße nach mehreren Litern Bier. Egal, wo man | |
sich befindet. | |
## „Und wenn ich als Partisan sterbe“ | |
Denn in „Bella Ciao“ geht es um die Todesahnung eines Partisanen, der eines | |
Morgens aufwacht und seine Liebe verlassen muss, weil ein nicht weiter | |
definierter Eindringling ihn dazu zwingt. Es geht also um den Widerstand | |
gegen einen Feind, um den Kampf für die Freiheit. Wer dieser Feind genau | |
ist, das wird nicht explizit gesagt, alles ist sehr vage formuliert. Und so | |
konnte „Bella Ciao“ zur Hymne vieler Aufstände weltweit werden. | |
Für die italienischen rechtsextremen Parteien wie Fratelli d’Italia von | |
[6][Giorgia Meloni] – die schon immer versuchen, die Resistenza | |
kleinzureden und zu bagatellisieren – bleibt es aber ein Dorn im Auge. | |
Nicht wegen seines Textes, denn schließlich wird das Wort „Faschist“ nicht | |
mal erwähnt. Sondern wegen all dessen, was es symbolisiert: das Streben | |
nach einem demokratischen Land, das sich vom Faschismus klar distanziert. | |
Passiert ist das in Italien noch nicht. | |
30 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://youtu.be/4CI3lhyNKfo?si=0wHa5M5s4wi70_UA | |
[2] /Protest-gegen-Klimawandel/!5939623 | |
[3] /75-Jahre-Befreiung-Italiens-vom-Faschismus/!5677040 | |
[4] /Syriza-vor-der-Wahl-in-Griechenland/!5932121 | |
[5] https://youtu.be/e9V71oaCKyI?si=geZBvGl87HFlZoCy | |
[6] /Ein-Jahr-Meloni/!5959210 | |
## AUTOREN | |
Francesca Polistina | |
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