# taz.de -- Syriza vor der Wahl in Griechenland: Links ist die Hoffnung | |
> Griechenlands linke Partei Syriza saß nun vier Jahre in der Opposition. | |
> Am Sonntag hofft sie auf den Wahlsieg. Doch noch ist offen, wer vorne | |
> liegt. | |
Bild: Neue Hoffnung auf den alten Ministerpräsidenten Alexis Tsipras | |
Thessaloniki taz | Wie große Wunden klaffen die riesigen Baustellen entlang | |
der jahrtausendealten Handelsstraße Egnatia im Zentrum der griechischen | |
Metropole Thessaloniki. Mit Plastikbahnen abgedeckte, bereits Rost | |
ansetzende Rolltreppen führen in den Untergrund. | |
An jeder Ecke der oberirdisch immer noch sehr rohbauhaften Haltestellen | |
steht Tag und Nacht ein Sicherheitsmann. Wann die U-Bahn fertig sein wird? | |
Dimitris Routos lacht. Das wird wohl noch etwas dauern. Aber das ist eine | |
lange Geschichte, sagt er. | |
An der Metro in der zweitgrößten Stadt Griechenlands wird schon sehr lange | |
gebaut. Erst ab 1986 ein paar Jahre, dann wurde 2006 noch mal völlig neu | |
angefangen. 2012 sollte sie eigentlich fertig sein, so der Plan. | |
Doch die Finanzprobleme, Rechtsstreitigkeiten und etliche archäologische | |
Funde sorgten für immer neue Verzögerungen. So wurde aus dem ehrgeizigen | |
Projekt das Stuttgart21 von Hellas. Bislang wurden 1,5 Milliarden Euro in | |
das aktuell größte griechische Infrastrukturprojekt investiert, ein nicht | |
unerheblicher Teil kommt von der EU. | |
## Seit Schülerzeiten Genosse | |
Wenn es nach Regierungschef Kyriakos Mitsotakis geht, soll es nun Anfang | |
2024 endlich so weit sein. Aber solche Versprechungen haben auch schon | |
frühere griechische Ministerpräsidenten gemacht. Sein Vorgänger Alexis | |
Tsipras von der linken Partei Syriza weihte sogar bereits 2018 feierlich | |
die erste Metrostation ein. | |
Die U-Bahn sei zu 95 Prozent fertiggestellt und Anfang 2020 werde sie in | |
Betrieb genommen, verkündete der Linkspolitiker. Doch nach dem | |
Regierungswechsel 2019 gab die neue konservative Regierung eine erneute | |
Verschiebung auf April 2023 bekannt. Diese Frist ist inzwischen auch wieder | |
verstrichen. | |
Tsipras Parteifreund Dimitris Routos nimmt es mit Galgenhumor. Immerhin | |
hätten die Bauarbeiten zu der umfangreichsten archäologischen Ausgrabung in | |
der nordgriechischen Geschichte geführt. Dabei wurden erstaunlich gut | |
erhaltene Überreste der legendären Via Egnatia gefunden wurden, jener | |
antiken Handelsstraße, die einst Konstantinopel mit der Adria verband. „Das | |
ist die größte Entdeckung in Griechenland seit mehr als 50 Jahren“, sagt | |
er. | |
Dass sich Mitsotakis entgegen den Plänen der Vorgängerregierung dazu | |
entschlossen hat, die U-Bahn nicht darum herumzubauen, sondern das 76 Meter | |
lange und 7,5 Meter breite antike Straßenstück trotz großer Proteste von | |
Bürger:innen und Archäolog:innen Stein für Stein abtragen zu lassen, | |
um es nach Abschluss der Arbeiten an der betroffenen Metrostation wieder | |
aufzubauen, hält er für Irrsinn. Aber es passt zu dessen katastrophaler | |
Politik, findet er. | |
Das Treffen mit Routos findet an der heutigen Egnatia statt, der lärmenden | |
Hauptverkehrsstraße von Thessaloniki. Zwischen zwei U-Bahn-Baustellen hat | |
die Linkspartei Syriza hier ihre lokale Zentrale. Gegenüber dem | |
Dikastirionplatz in der dritten Etage eines etwas heruntergekommenen | |
Bürohauses, in dessen Parterre ein Pfandleiher residiert. [1][Anders als | |
noch vor vier Jahren] sind die Bäume vor dem Haus gestutzt, schon von | |
Weitem ist jetzt der Schriftzug der Partei an der Fassade zu erkennen. | |
Bis vor zwei Jahren war Routos ehrenamtlich stellvertretender | |
Parteisekretär in der Stadt. Jetzt ist der 68-Jährige als Basismitglied für | |
Syriza aktiv. Seit seinen Schülerzeiten ist Routos Genosse. Bereits Ende | |
der Sechziger, in der Zeit der faschistischen Obristendiktatur in | |
Griechenland, schloss er sich der damals illegalen eurokommunistischen | |
KKE-Inland an, einem Vorläufer von Syriza. | |
Bis er 2013, als er während der großen Finanzkrise mit 1.350 Euro Rente in | |
Frühpension geschickt wurde, arbeitete Routos 45 Jahre lang für griechische | |
und internationale Banken. Ein überzeugter Linker ist er gleichwohl über | |
all die Zeit geblieben. Für ihn ging ein Lebenstraum in Erfüllung, als | |
Syriza im Januar 2015 die Parlamentswahlen gewann und die Regierung | |
übernahm. | |
Im Juli 2015 folgte das beeindruckende „Oxi“-Referendum der Griech:innen | |
gegen das EU-Austeritätsdiktat. Doch unmittelbar danach kapitulierte der | |
linke Ministerpräsident Alexis Tsipras vor der vom damaligen deutschen | |
CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble angeführten Eurogruppe. | |
Viele wandten sich enttäuscht von Syriza ab. Zu groß war für sie der | |
Widerspruch zwischen den realen Möglichkeiten und ihren Ansprüchen an | |
Syriza geworden. Routos blieb. „Wir müssen einfach weiter um die Chance | |
kämpfen, das Land zu verändern“, sagte er [2][bei der ersten Begegnung mit | |
ihm im September 2015], kurz vor den vorgezogenen Neuwahlen, die Syriza | |
trotz aller Ernüchterung überraschend erneut gewinnen konnte. | |
Vier Jahre später, nach zermürbenden Kämpfen gegen die EU-Institutionen und | |
den IWF um harte Sparauflagen, Gehalts- und Rentenkürzungen und erzwungene | |
Privatisierungen wurde die Syriza-Regierung abgewählt. Seitdem beherrscht | |
die konservative Nea Dimokratia (ND) das Land. Routos hofft, dass sich das | |
mit der Parlamentswahl am kommenden Sonntag wieder ändern wird. „Die | |
Menschen sind sehr wütend auf Mitsotakis“, sagt er. | |
## Steuererleichterungen für Reiche | |
Tatsächlich ist die Bilanz der derzeitigen Regierung nicht gut: Die | |
Staatsverschuldung hat sich in ihrer Amtszeit um rund 50 Milliarden Euro | |
erhöht, das öffentliche Gesundheitswesen ist ausgeblutet. Eines der ersten | |
ND-Gesetze zielte darauf ab, zugunsten der Arbeitgeber Tarifverhandlungen | |
zu erschweren, also die Gewerkschaften zu schwächen. | |
Während Reiche Steuererleichterungen bekamen, kämpft der große Rest mit | |
Reallohnverlusten. Der Zugang zu den Universitäten wurde beschränkt. Hinzu | |
kommt eine skandalöse Abhöraffäre: Systematisch wurden | |
Oppositionspolitiker:innen und Journalist:innen vom | |
Geheimdienst ausgespäht, darunter der Parteichef der sozialdemokratischen | |
Pasok, Nikos Androulakis. „In anderen Ländern wäre allein deswegen | |
Mitsotakis schon lange nicht mehr im Amt“, sagt Routos. „Das ist eine | |
Regierung von Gaunern.“ | |
Und dann gab es auch noch Ende Februar das fürchterliche Zugunglück auf der | |
Strecke zwischen Athen und Thessaloniki: Ein Intercity stieß mit einem | |
Güterzug zusammen. 57 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Das | |
schwerste Eisenbahnunglück in der griechischen Geschichte führte zu großen | |
Protesten und Streiks, weil die Regierung dafür verantwortlich gemacht | |
wurde. Der Verkehrsminister musste zurücktreten, der Bahnchef verlor seinen | |
Job. | |
Doch ob all die Skandale und Versäumnisse der Mitsotakis-Regierung wie auch | |
die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Griech:innen für einen | |
Regierungswechsel reichen, ist äußerst ungewiss. Auch wenn es am Sonntag | |
ein enges Rennen zwischen den beiden größten Parteien werden könnte. | |
Die Räume in der Thessaloniker Syriza-Zentrale sind frisch gestrichen. Vor | |
kurzem hat es in dem Gebäude gebrannt. Das Feuer hat die Büros der Partei | |
zwar nicht erreicht, aber der Rauch hinterließ Spuren. Nun sind sie alle | |
wieder beseitigt. Ebenso wie die Plakate, die an den Wänden hingen, | |
inklusive eines Porträts von Rosa Luxemburg. Es soll aber wieder aufgehängt | |
werden, versichert ein Syriza-Mitarbeiter. | |
Im Flur liegen große Stapel mit vierseitigen Blättern für den Wahlkampf. | |
Auf der in Lila und Rot gehaltenen Vorderseite ist das Bild von Alexis | |
Tsipras zu sehen, im Innenteil sind die Programmpunkte aufgelistet, die | |
Syriza nach einem Wahlsieg umsetzen will. | |
## Nicht euphorisch, aber auch nicht niedergeschlagen | |
Verteilt werden die Kurzprogramme mit Tsipras Konterfei an einem | |
regnerischen Mittwochmorgen im Stadtteil Sykies, einem ärmeren Viertel im | |
Nordosten Thessalonikis, zehn Autominuten vom Zentrum entfernt. Hier ist | |
Dimitris Routos aufgewachsen. | |
Auf der überdachten Terrasse das Cafes „Schwarze Katze“ trifft er auf | |
Dimitris Akritidis, den Syriza-Vorsitzenden von Sykies. Er ist mit einer | |
Gruppe Parteifreund:innen hier, sie wollen gleich auf dem Wochenmarkt | |
nebenan Wahlkampfmaterial verteilen und mit Leuten sprechen. Auf dem Tisch | |
liegt ein großer Stapel mit den Kurzprogrammen. Die Kellnerin macht ein | |
Foto. Die Syriza-Leute lächeln und halten Tsipras Bild in die Kamera. Die | |
Stimmung ist nicht euphorisch, aber auch nicht niedergeschlagen. | |
Gegen 11 Uhr macht sich die Gruppe auf und verteilt zwischen Ständen mit | |
Gemüse und Obst, losem Reis und auf Eis gelagertem Fisch. Die Syriza-Leute | |
kennen hier viele, sogar die beiden jungen Straßenmusikanten mit der | |
Gitarre. Immer wieder bleiben sie stehen und unterhalten sich, trotz des | |
einsetzenden Nieselregens. „Die Leute haben Mitsotakis satt“, sagt der | |
Syriza-Ortsvorsitzende Akritidis. Er weiß jedoch auch: „Aber nicht alle | |
kommen zu uns.“ Für ihn ist das Wichtigste, nach einem Syriza-Wahlsieg | |
„Gerechtigkeit in der Ökonomie“ herzustellen. | |
Die griechische Wirtschaft hat sich im Vergleich zu den Jahren der | |
Staatsschuldenkrise etwas erholt. Aber in Sykies und auch im Zentrum | |
Thessalonikis stehen noch immer viele Geschäfte leer, auf den Straßen sind | |
nicht wenige Obdachlose zu sehen. Gleichzeitig gibt es mehr Luxusläden. | |
Von der Erholung profitieren nicht alle. Die stark gestiegenen | |
Lebenshaltungskosten machen vielen Griech:innen zu schaffen. Auf dem | |
Markt kostet ein konventionelles Ei je nach Größe zwischen 20 und 25 Cent – | |
so viel wie in Deutschland. Drei mittelgroße Salatgurken gibt es auf dem | |
Markt für 2 Euro. Milch ist etwa so teuer wie in Deutschland, Süßigkeiten, | |
Alkohol und Kosmetik kosten mehr. Die Löhne sind in Griechenland aber | |
weitaus niedriger. | |
Der Mindestlohn für ledige Berufseinsteiger:innen liegt bei knapp | |
über 700 Euro. Das Durchschnittseinkommen ist etwa halb so hoch wie in | |
Deutschland. Um die Preissteigerungen zu dämpfen, will Syriza nach einem | |
Wahlsieg die Mehrwertsteuer für Lebensmittel von 13 auf 6 Prozent senken | |
und für Grundnahrungsmittel ganz streichen. Die Syriza-Leute hoffen mit | |
solchen Ankündigungen punkten zu können. | |
Zwei Tage später steht Akritidis gegen 20 Uhr auf einer Bühne, wenige | |
Kilometer entfernt. Hier werden die örtlichen Syriza-Kandidat:innen | |
vorgestellt. Auf einem Platz zwischen einer Schule und der Filiale der | |
Mikel-Café-Kette haben die Syriza-Leute Stühle aufgebaut, an der Bühne | |
hängen überall Tsipras-Plakate. Der 48-Jährige ist im Syriza-Wahlkampf | |
omnipräsent. | |
Linke hätten zwar eigentlich etwas gegen Personenkult, sagt Routos. „Aber | |
Tsipras ist ein Geschenk für uns.“ Wenn er später in seinem Auto von der | |
Veranstaltung wegfährt, wird er eine Wahlkampfrede seines Parteichefs im | |
Radio hören. Syriza hat einen eigenen Sender, der sie live überträgt. | |
## Varoufakis als Konkurrent | |
Rund 100 Leute sind auf den Platz gekommen, viele kennen sich. Mehr als ein | |
Dutzend Kandidat:innen drängeln sich auf der Bühne. Es nieselt, aber es | |
gibt zuerst nur einen, dann immerhin zwei Regenschirme für sie. Der | |
Ortsvorsitzende Akritidis stellt jede:n kurz vor, die Kandidat:innen | |
sagen zwei, drei Sätze – mal mehr, mal weniger kämpferisch. Am Ende ertönt | |
aus den Lautsprechern „Bella Ciao“, das Lied der italienischen Partisanen. | |
In einer Techno-Version. Die Kandidat:innen halten sich an den Händen, | |
als wollten sie sich Mut machen. | |
Eine von ihnen ist Sofia Fountoukidou. Sie fällt mit ihrem schicken grauen | |
Hosenanzug auf. „Jeder wird etwas davon haben, wenn wir gewinnen“, hat sie | |
gesagt, als sie auf der Bühne stand. Die 36-Jährige ist Wissenschaftlerin, | |
sie hat in den Niederlanden zu Mensch-Roboter-Interaktion geforscht und | |
arbeitet jetzt in der Abteilung für digitale Produktentwicklung an der | |
Universität Cambrigde. | |
Foutoukidou ist eine Rückkehrerin. Sie hat Syriza vor acht Jahren zusammen | |
mit Yanis Varoufakis verlassen, nachdem der im Juli 2015 als Finanzminister | |
zurückgetreten ist und sich mit Tsipras überworfen hatte. Für dessen neue | |
Partei MeRa25 hat sie 2019 in Thessaloniki kandidiert und einen Sitz im | |
Parlament errungen – doch den hat dann Varoufakis eingenommen. Das | |
griechische Wahlrecht macht das möglich. | |
Viele bei Syriza sind nicht gut auf Varoufakis zu sprechen. Aus dem | |
einstigen Genossen ist ein Konkurrent geworden. Und doch könnte die Partei | |
auf dem Weg zur Rückeroberung der Macht ausgerechnet auf den | |
Wirtschaftswissenschaftler mit dem Popstarflair angewiesen sein – wenn es | |
mit der sozialdemokratischen Pasok allein nicht reichen sollte, eine | |
Mehrheit unter den 300 Abgeordneten des Parlaments zu bekommen. | |
Denn wenn nicht alle Umfragen völlig falsch liegen, gibt es diesmal weder | |
für die Nea Dimokratia noch für Syriza die Chance auf eine Alleinregierung. | |
Das liegt vor allem daran, dass anders als früher diesmal das Parlament | |
rein nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird. Das ist Folge einer von | |
Syriza 2016 durchgesetzten Wahlrechtsreform, die die Mitsotakis-Regierung | |
2020 allerdings wieder kassiert hat. Anders als in Deutschland gelten | |
solche Änderungen aber erst bei der übernächsten Wahl. | |
## Schwieriges Wahlrecht | |
Bislang bekam die stärkste Partei automatisch 50 Sitze zusätzlich, weswegen | |
die Nea Dimokratia 2019 mit nur 39,9 Prozent der Stimmen die absolute | |
Mehrheit der Mandate holen konnte. Das wird beim nächsten Mal auch wieder | |
so sein. Diesmal aber nicht. Weswegen Mitsotakis bereits auf Neuwahlen im | |
Juli setzt, um weiter allein regieren zu können. | |
Etwaigen Koalitionsoptionen hat er eine schroffe Absage erteilt – anders | |
als Syriza. Aber falls sich überhaupt rechnerisch die Gelegenheit ergeben | |
sollte, wird es sehr schwer werden. Denn laut den griechischen Regeln hat | |
eine Partei gerade einmal zwei Tage Zeit, um sich mit möglichen Partnern zu | |
verständigen. Monatelange Koalitionsverhandlungen wie in Deutschland sind | |
nicht möglich. | |
In der vergangenen Woche hat [3][Varoufakis im Interview mit der taz] den | |
Eindruck erweckt, an ihm würde ein Bündnis nicht scheitern, sondern an | |
Syriza. Doch Syriza ist durchaus zu Gesprächen mit Varoufakis bereit. „Es | |
hängt von ihm ab, nicht von uns“, sagt Euklid Tsakalotos, der | |
Varoufakis-Nachfolger als Finanzminister, im Gespräch mit der taz. | |
Auch Tsakalotos ist zum Wahlkampf nach Thessaloniki gekommen. Zwei Tage | |
nach der Veranstaltung in Sykies steht er in Evosmos im Nordwesten der | |
Hafenstadt auf einem Platz vor einer Kirche. Nach Evosmos kamen in den | |
1920er Jahren viele Griech:innen, die aus der Türkei vertrieben wurden. Auf | |
dem Platz erinnert eine Tafel an die Zwangsumsiedlung nach der Niederlage | |
im griechisch-türkischen Krieg 1922, die „kleinasiatische Katastrophe“. | |
Auch die Großeltern von Dimitris Routos mussten damals ihre Heimat | |
verlassen. | |
Wie in Sykies ist die Bühne wieder mit etlichen Tsipras-Plakaten | |
geschmückt. Euklid Tsakalotos steht davor, umringt von Parteifreund:innen. | |
Sie wollen ein Foto mit ihm. Erst als [4][der Wirtschaftswissenschaftler | |
und heutige Parlamentsabgeordnete] von der Bühne aus angekündigt wird, | |
lassen sie ihn in Ruhe. | |
Tsakalotos holt zwei in blauer Farbe beschriebene Zettel aus seiner | |
Brusttasche, die aussehen, als wären sie aus einem Schulheft gerissen. Er | |
wird während seiner Rede nur selten einen Blick darauf werfen. Wortreich | |
rechnet er mit der Mitsotakis-Regierung ab, beklagt den Niedergang des | |
öffentlichen Gesundheitswesens und die sozialen Folgen der aktuellen | |
Politik. „Wir wollen keine Armut wie in Bulgarien oder Bangladesch“, ruft | |
er und breitet das Syriza-Wahlprogramm aus: Stopp von Zwangsversteigerungen | |
von Einfamilienhäusern, deren Eigentümer überschuldet sind, die | |
Mehrwertsteuersenkung, die Rücknahme der umstrittenen Bildungsreform. | |
## „Bella Ciao“ zum Abschied | |
Am Ende steht Tsakalotos zwischen Kandidat:innen aus der Region. Auch | |
hier wird zum Abschluss „Bella Ciao“ gespielt, diesmal in einer | |
Balkan-Ska-Variante. Und danach noch das berühmte chilenische | |
Widerstandslied „El pueblo unido“: „Das vereinte Volk wird niemals besiegt | |
werden.“ Die meisten der rund 300 Kundgebungsteilnehmer:innen singen | |
mit, etliche recken die Faust. Auch Tsakalotos, er sieht ergriffen aus. Die | |
Szene wirkt wie eine Erinnerung an jene rebellischen Tage vor 2015, als die | |
Syriza-Anhänger:innen noch den Traum von einem ganz anderen Griechenland | |
träumten. | |
Wenige Tage vor der Wahl ist der Ausgang völlig offen. In den – chronisch | |
unzuverlässigen – Umfragen liegt die Nea Dimokratia zwischen 35 und 37,6 | |
Prozent, Syriza zwischen 28 und knapp 33 Prozent. Dahinter folgen die Pasok | |
mit um die 10 Prozent, die traditionskommunistische KKE mit etwa 7 Prozent | |
und MeRA25 mit um die 4 Prozent. Die rechtsextreme Elliniki Lysi kann damit | |
rechnen, die in Griechenland geltende Dreiprozenthürde zu überspringen. | |
Nach der Wahl wird die in Thessaloniki geborene Staatspräsidentin Katerina | |
Sakellaropoulou erst einmal den Vorsitzenden der Partei mit einer | |
Regierungsbildung beauftragen, die die meisten Stimmen bekommen hat. Sollte | |
das Mitsotakis sein, ohne eine absolute Mehrheit zu haben, rechnen | |
politische Beobachter:innen damit, dass er den Regierungsauftrag | |
sofort zurückgibt. Dann hätte Tsipras die Möglichkeit, eine Koalition zu | |
schmieden. | |
Es käme jedoch einem Wunder gleich, wenn ihm das gelingen könnte. Die Pasok | |
ist tief gespalten und MeRA25 von Varoufakis ein mehr als unsicherer | |
Kandidat, die KKE hat wie üblich jede Zusammenarbeit mit anderen Parteien | |
ausgeschlossen. | |
Euklid Tsakalotos gibt sich trotzdem optimistisch. Noch sei offen, wer | |
vorne liegen wird. „Es kann sehr knapp werden“, sagt er. Entscheidend sei, | |
wie sich die vielen derzeit noch Unentschlossenen entscheiden werden. „Wenn | |
wir die stärkste Partei werden, dann wird sich die Pasok uns anschließen“, | |
zeigt er sich überzeugt. „Und wenn wir für die Mehrheit auch MeRA25 | |
brauchen, wird sie meiner Meinung nach dabei sein.“ Aber das dürfte wohl | |
eher Zweckoptimismus sein. | |
Mit dieser Haltung blickt auch Dimitris Routos in die Zukunft. Vielleicht | |
wird die U-Bahn ja tatsächlich in den kommenden Jahren fertig. „Und dann | |
hoffentlich von dem Ministerpräsidenten Alexis Tsipras eingeweiht“, sagt | |
er. Und schmunzelt. | |
19 May 2023 | |
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