# taz.de -- Die Bundeswehr und die Deutschen: Eine Armee ohne Ziel | |
> Olaf Scholz hat Klartext gesprochen. Doch Deutschland ist pazifistisch | |
> geprägt – und eine politische Kultur ändert sich nicht so leicht. | |
Der 24. Februar 2022 markiert [1][das Ende der Illusionen]. Putins Angriff | |
steht nicht nur für das Scheitern einer von Naivität und Schuldkomplexen | |
getragenen Russlandpolitik. Das Drama, das sich vor den Augen der | |
Weltöffentlichkeit in der Ukraine abspielt, hat das Potenzial, den Blick | |
der Deutschen auf die Bundeswehr zu verändern. Doch ob es wirklich zur | |
Zeitenwende kommt, erscheint keineswegs ausgemacht. Kulturen verändern sich | |
nicht über Nacht, und die Skepsis gegenüber dem Militär ist tief im | |
politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik verankert. | |
Schon die Anfänge der Bundeswehr waren von gesellschaftlichen Protesten | |
begleitet. Nach Massenverbrechen, Tod und Zerstörung des Zweiten | |
Weltkrieges hatten viele Deutsche vom Militär genug. Der große Unterschied | |
zur heutigen Zeit ist, dass sich die Regierungen der Bonner Republik allen | |
gesellschaftlichen Protesten zum Trotz klar zur Bundeswehr und zu ihrem | |
Auftrag bekannt hatten. Kein Kanzler und kein Verteidigungsminister | |
zweifelte im Angesicht der zum Angriff aufmarschierten | |
Warschauer-Pakt-Truppen am Sinn der Streitkräfte. | |
Erleichtert wurde diese klare politische Haltung dadurch, dass die | |
Bundeswehr nur zur Abschreckung gedacht war. Einen Krieg auch zu führen war | |
jenseits aller Vorstellungskraft. Jedem war klar, dass ein atomarer | |
Schlagabtausch nur im globalen Untergang enden konnte. Wer Uniform trug, | |
musste also nicht wirklich damit rechnen, je einen Schuss im Ernstfall | |
abzufeuern. Man spielte den Krieg – und das konnte auch die Gesellschaft | |
mehrheitlich akzeptieren, auch wenn die jährlichen Herbstmanöver zuweilen | |
nervten. | |
1990/91 war die Welt eine andere geworden. Am Ende der Geschichte | |
angekommen, schien man keine Soldaten mehr zu brauchen. Feinde gab es nicht | |
mehr, und die Landesverteidigung war eine Sache für die Mottenkiste. | |
Deutschland beteiligte sich nun an Auslandseinsätzen – zur | |
Friedenssicherung, wie es offiziell hieß. Nach anfänglicher Skepsis | |
akzeptierten die Deutschen diese neue Rolle. 1996 waren nur noch 18 Prozent | |
der Bevölkerung gegen Missionen außerhalb des Nato-Gebietes. Erleichtert | |
wurde diese Zustimmung, weil die deutschen Soldaten nicht kämpfen mussten, | |
sondern eher Polizeiaufgaben übernahmen. Mit dem klassischen Bild [2][des | |
Kriegers] hatte die neue Realität wenig zu tun. | |
An der generellen Haltung, deutsche Soldaten wenn nur irgend möglich aus | |
Kampfeinsätzen herauszuhalten, änderte auch die Episode der deutschen | |
Beteiligung am [3][Kosovokrieg 1999] nichts, im Gegenteil. Deutsche | |
Tornado-Kampfflugzeuge hatten sich zwar am Luftkrieg gegen Jugoslawien | |
beteiligt, aber dies ließ sich nur gegen massive Widerstände innerhalb der | |
rot-grünen Regierungskoalition durchsetzen. | |
Die Bevölkerung war hier im Übrigen weiter: Nur ein knappes Drittel lehnten | |
die Nato-Luftangriffe ab. Fortan schickte die Regierung die Bundeswehr mal | |
hier und mal dort hin. Es ging dabei vor allem darum, mit dabei zu sein und | |
dadurch außenpolitischen Einfluss zu mehren. Die konkrete Ausgestaltung der | |
Missionen richtete sich dann nach innenpolitischen Notwendigkeiten. Also: | |
möglichst zivil auftreten und auf keinen Fall schießen. Der Soldat war ein | |
miles protector, der rettet, schützt und hilft, ein bewaffneter social | |
worker. So ging es 2002 auch an den Hindukusch – und das Konzept schien | |
zunächst aufzugehen. | |
Im Norden des Landes, wo die Bundeswehr eingesetzt war, blieb es weitgehend | |
friedlich, und die Propagandabilder von Soldaten mit glücklichen Frauen und | |
Kindern machten sich gut im Heimatdiskurs. Der Entschluss, sich [4][am | |
Isaf-Einsatz in Afghanistan] zu beteiligen, bedeutete auch das | |
klammheimliche Ende der Landes- und Bündnisverteidigung. Beides ließ sich | |
mit den begrenzten Ressourcen nicht mehr stemmen. Man war von Freunden | |
umgeben, wie es Bundespräsident Johannes Rau am 9. Dezember 2002 | |
formulierte. Wozu sich dann also noch auf einen großen Krieg vorbereiten? | |
Der Afghanistan-Einsatz lief zunächst nach Plan. Deutschland beteiligte | |
sich am Wiederaufbau, Kämpfe gab es nur noch im fernen Süden und Osten des | |
Landes. Doch 2006 war es mit der heilen Welt im deutschen Sektor vorbei. | |
Die Bundesregierung tat sich aber schwer damit, die neuen Realitäten zu | |
akzeptieren. Sie schickte ihre Soldaten in einen Krieg, verbot ihnen aber, | |
Krieg zu führen. Ein Erwachen gab es erst, als am 4. September 2009 ein | |
deutscher Oberst zwei entführte Tanklaster bombardieren ließ und dabei auch | |
Zivilisten ums Leben kamen. Erst jetzt konnte die Regierung vor der | |
hässlichen Seite des Krieges nicht mehr die Augen verschließen und musste | |
sich der öffentlichen Diskussion stellen. | |
Die Schlussfolgerung im politischen Berlin war klar: So etwas darf nie | |
wieder passieren. Man war in einen Krieg hineingeschlittert, den man nie | |
führen wollte. Werden diejenigen, die damals politische Verantwortung | |
trugen, gefragt, warum es nie eine ehrliche Diskussion über den | |
ISAF-Einsatz gab, berufen sie sich stets auf die kritische Haltung der | |
deutschen Bevölkerung, die mit Kampfeinsätzen partout nichts zu tun haben | |
wollte. Darauf habe man Rücksicht nehmen müssen. | |
Doch neuere Studien zeigen, dass eine relative Mehrheit der deutschen | |
Bevölkerung selbst Kampfeinsätze nicht ausschloss. Sie wollte nur keinen | |
Blankoscheck für solche Missionen erteilen und erwartete eine | |
nachvollziehbare Begründung. Diese konnte aber weder die Regierung noch das | |
Parlament je liefern. Und weiter: Das [5][freundliche Desinteresse an der | |
Bundeswehr], von dem Bundespräsident Horst Köhler 2005 sprach, hat die | |
sozialwissenschaftliche Forschung längst widerlegt. Das eigentliche | |
Problem einer realistischen Betrachtung von Streitkräften und ihren | |
Aufgaben ist somit weniger die breite Gesellschaft, sondern in allererster | |
Linie die Politik. | |
Dieser Befund gilt auch für die Zeit nach 2014, als sich der | |
sicherheitspolitische Fokus notgedrungen wieder auf die Landes- und | |
Bündnisverteidigung richtete. Auch nach der Annexion der Krim gab es keine | |
wirkliche Kehrtwende Berlins. Die Bundeswehr musste zwar den | |
Offenbarungseid leisten und eingestehen, dass sie zu einer möglichen | |
Verteidigung des Baltikums keinen nennenswerten Beitrag leisten konnte. An | |
diesem Befund hat sich auch in den vergangenen acht Jahren nichts | |
grundlegend geändert. Aber warum eigentlich nicht? Schließlich gab es unter | |
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) deutlich mehr Geld und | |
auch mehr Personal. | |
Doch trotz aller vollmundig angekündigter „Wenden“ blieb die große Reform | |
aus. Die Bundeswehr ist nach wie vor dysfunktional organisiert, und vor | |
allem gab die Regierung kein Ziel vor, was die Bundeswehr können und welche | |
Rolle sie innerhalb der Nato einnehmen sollte. Rückblickend zeigt sich, | |
dass die Streitkräfte nur dann besser hätten aufgestellt werden können, | |
wenn sich das ganze Kabinett dieser Aufgabe angenommen hätte. Doch wichtige | |
Reformschritte wurden von der SPD blockiert, und bei Angela Merkel hatte | |
das Thema keine Priorität. | |
In Merkels Russlandpolitik spielte das Militär keine Rolle. Begriffe wie | |
„Kriegsbereitschaft“ waren im politischen Berlin nicht zu vermitteln, auch | |
wenn alle wussten, dass es in letzter Konsequenz genau darum ging. Zwar | |
forderten Experten geradezu flehentlich, endlich mehr zu tun. Gehör fanden | |
diese Äußerungen nicht. Letztlich beließ es die Regierung bei einer | |
Ankündigungsrhetorik; das Parlament nahm es achselzuckend hin. Schließlich | |
glaubte praktisch niemand, dass die Bundeswehr je wirklich gebraucht werden | |
würde. | |
## Häme über kaputtes Gerät | |
Gewiss waren die hämischen Kommentare über Panzer, die nicht fuhren, und | |
Flugzeuge, die nicht fliegen, peinlich. Aber sie erzeugten nicht den | |
öffentlichen Druck, den es gebraucht hätte, um etwas grundsätzlich zu | |
ändern. Die Einsätze von Nato, UN und EU konnte man noch durchführen. Das | |
reichte aus, um international Flagge zu zeigen. Aus Konflikten in Libyen | |
und Syrien hielt man sich ganz heraus und überließ Autokraten das Feld. | |
[6][In Mali] und im Kampf gegen den IS leistete Deutschland einen zweit- | |
oder drittrangigen Beitrag. Mehr schien nicht notwendig zu sein, zumal | |
andere Themen wie Migration, Klima und Corona bald die ganze Aufmerksamkeit | |
der Regierung auf sich zogen. Die Bundesrepublik kam aus ihrem | |
[7][„strukturellen Pazifismus“] (Joseph Verbovsky) nicht heraus. | |
Deshalb ist die Regierungserklärung von Olaf Scholz so bemerkenswert. Die | |
Ankündigung, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und fortan mehr als | |
2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung bereitzustellen, | |
ist erstaunlich. Unerwartet ist aber auch seine Wortwahl, etwa dass die | |
Bundeswehr jeden Quadratmeter des Nato-Territoriums verteidigen werde. In | |
dieser Klarheit hat dies seit mehr als dreißig Jahren niemand | |
ausgesprochen. | |
Fraglich bleibt, was diesen Worten folgt. Eine politische Kultur verändert | |
sich nicht mit einer Regierungserklärung. Man wird sehen, ob Scholz es | |
ernst meint, die Bundeswehr kriegsbereit zu machen und so einen Beitrag zum | |
Schutz der europäischen Werte und der Demokratie zu leisten. Zwei Drittel | |
der Deutschen befürworten dies. Die Gesellschaft ist also erneut nicht das | |
Problem. Die Verantwortung liegt bei der Politik. Es bleibt zu hoffen, dass | |
sie ihr diesmal gerecht wird. | |
Der Autor ist Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der | |
Gewalt an der Universität Potsdam. Zuletzt erschien von ihm: „Deutsche | |
Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik“ (Berlin 2020). | |
7 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
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