| # taz.de -- Die These: Wir brauchen eine Erasmus-Armee | |
| > „Der Russe“ als Feindbild ist zurück – und schon fordern manche in | |
| > Deutschland eine Rückkehr der Wehrpflicht. Besser wäre es, europäisch zu | |
| > denken. | |
| Bild: Warum keine europäische Armee? Wehrpflichtige bei der Bundeswehr im Apri… | |
| Wäre Deutschland eigentlich „bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut | |
| hat, auch zu verteidigen“? Und: „Was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese | |
| in Gefahr ist?“ Diese Fragen stellte zwei Tage vor dem Einmarsch Putins in | |
| die Ukraine der Osteuropa-Historiker [1][Karl Schlögel in dieser Zeitung]. | |
| Seitdem haben sich die Ereignisse derart beschleunigt, dass es bereits | |
| einige Antworten auf diese zunächst noch rhetorischen Fragen gibt: Ein | |
| „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr | |
| [2][soll eingerichtet werden], und künftig sollen mehr als 2 Prozent der | |
| jährlichen Wirtschaftsleistung in die Verteidigung fließen. Waffen werden | |
| ins Krisengebiet Ukraine geliefert, auch mit Zustimmung der Grünen. | |
| Auf Twitter fragen sich derweil junge Menschen, [3][was sie eigentlich tun | |
| müssten], wenn es im eigenen Land Krieg gäbe. Und erste Abgeordnete im | |
| Bundestag [4][diskutieren bereits über die Wiedereinsetzung der | |
| Wehrpflicht], wenn auch in reformierter Form, nämlich in Gestalt eines | |
| „Gesellschaftsjahrs“. Nicht bloß Unionspolitiker argumentieren in diese | |
| Richtung, auch der Sicherheitsexperte der SPD-Fraktion, Wolfgang Hellmich, | |
| sagte gegenüber der Rheinischen Post: „Die Debatte über eine allgemeine | |
| Dienstpflicht müssen wir dringend führen. Denn dafür brauchen wir einen | |
| gesellschaftlichen Konsens.“ | |
| ## Das Anschwellen des Wehrwillens | |
| In der Tat gibt es in der Gesellschaft gerade einiges auszuhandeln, wenn es | |
| um Krieg und Frieden geht, wie ein Blick in Kommentarspalten und soziale | |
| Medien ergibt. Dort kann man ein deutliches Anschwellen des Wehrwillens | |
| feststellen bis hin zur Beschäftigung mit Waffensystemen und der Frage, wie | |
| man Militärfahrzeuge mit Mitteln aus dem eigenen Haushalt außer Gefecht | |
| setzt. | |
| Zeitenwende oder bloß Coronakoller? Nach zwei Jahren der Verunsicherung und | |
| Frustration die Lust, mal einen Molotowcocktail auf einen Panzer zu werfen? | |
| Oder doch eher der konkreten Angst geschuldet, dass man gerade nicht weiß, | |
| an welcher Grenze die russischen Truppen Halt machen, denen man [5][laut | |
| Auskunft des eigenen Heeresinspekteurs] „ziemlich blank“ gegenübersteht. | |
| Interessant ist, dass dieses Land in Aufrüstung gerade von | |
| Zivildienstleistenden regiert wird, wie Olaf Scholz (Jahrgang 1958, | |
| Pflegeheim), Robert Habeck (Jahrgang 1969, arbeitete mit Menschen mit | |
| Behinderung) und Christian Lindner (Jahrgang 1979, Hausmeister in der | |
| Theodor-Heuss-Akademie), der es allerdings nach seiner rein pragmatischen | |
| Entscheidung, zugunsten seines Business zu verweigern, später als Reservist | |
| bis zum Major brachte. | |
| Zu Scholz’ Zeiten musste man zwecks Verweigerung oft noch vor einer | |
| Kommission antanzen, die einen fragte, was man denn zu tun gedenke, wenn | |
| „der Russe“ vor einem stehe mit einem Gewehr und drohe, die eigene | |
| Mutter/Frau/Freundin zu vergewaltigen. Zu „meiner Zeit“ konnte man schon | |
| schriftlich mit Textbausteinen aus dem C64 verweigern – und damals wäre es | |
| mir nun wirklich absolut undenkbar und sinnlos erschienen, Wehrdienst zu | |
| leisten: Der Zweite Weltkrieg steckt meiner Familie bis heute in den | |
| Knochen und der Kalte Krieg, mit dem ich aufgewachsen bin, war gerade erst | |
| vorüber. | |
| ## Eine unangenehme Zeitreise zurück ins 20. Jahrhundert | |
| Doch auch wenn man sich im Moment auf unangenehme Weise ins 20. Jahrhundert | |
| zurückversetzt fühlt, müssen die Antworten auf Bedrohungsszenarien nicht | |
| ebenso antiquiert sein: „Die Wehrpflicht, so wie wir sie noch kennen, ist | |
| in der jetzigen Situation nicht erforderlich“, sagte ebenfalls in dieser | |
| Woche der ranghöchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Eberhard Zorn, den | |
| Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Bundeswehr und ihre Aufgaben hätten | |
| sich verändert: „Für den Kampf im Cyberraum, um nur ein Beispiel zu nennen, | |
| sind Wehrpflichtige absolut ungeeignet“, erklärte er. „Wir brauchen gut | |
| ausgebildetes, in Teilen sogar hochspezialisiertes Personal, um das gesamte | |
| Aufgabenspektrum abzudecken.“ Auch führende SPD-Mitglieder wie Kevin | |
| Kühnert sprachen sich gegen eine Wiedereinführung aus. Markus Söder (CSU) | |
| ist ebenfalls dagegen – Bodo Ramelow (Linkspartei) [6][hingegen dafür]. | |
| Die Debatte geht weiter. Könnten denn Zwangsdienste tatsächlich eine | |
| glaubwürdige Antwort der Demokratie auf die Bedrohung durch autoritäre | |
| Mächte sein? Wären junge Menschen im Westen überhaupt bereit, sich [7][von | |
| Boomern zwangsweise in den Krieg schicken zu lassen]? Gleichzeitig scheinen | |
| sich derzeit viele junge Menschen tatsächlich [8][internationalen Brigaden] | |
| anzuschließen, die nun helfen sollen, die Ukraine gegen die russische Armee | |
| zu verteidigen. | |
| Zu Beginn dieser schrecklichen Woche spazierte ich abends auf der Grenze | |
| zwischen Slowenien und Italien am Meer entlang. Hier, wo einst der „Eiserne | |
| Vorhang“ verlief zwischen dem blockfreien Jugoslawien und Westeuropa, ist | |
| nun „Mitteleuropa“. In der Bucht vor Koper stauen sich die | |
| Containerschiffe, weil die internationale Logistik durch Corona | |
| durcheinandergekommen ist. Gegenüber, in einer der Werften des | |
| italienischen Triest, liegt unübersehbar die „Sailing Yacht A“ des | |
| russischen Oligarchen Andrei Melnitschenko im Dock, es wird rund um die Uhr | |
| an ihr gearbeitet, man hat es womöglich eilig. Auf der Autobahn sieht man | |
| derzeit viele Wagen mit ukrainischen Kennzeichen, noch mehr als sonst. Und | |
| hier, direkt am Meer, große Weinberge im Rücken, liegt eine Feriensiedlung | |
| der slowenischen Armee. Kleine Häuschen mit Spitzdach, man kann zu Fuß | |
| direkt zum Strand laufen; im Sommer machen die Soldat*innen hier Urlaub | |
| mit ihren Familien, jetzt ist alles verwaist. | |
| ## Deutschland, ein Militärbulle? | |
| Kann die Antwort auf die Frage, wie und ob wir bereit sind, Europa zu | |
| verteidigen, nicht einzig und allein Europa sein? Kann es denn wirklich das | |
| Ziel sein, dass Deutschland „eine der schlagkräftigsten Armeen Europas“ | |
| bekommt, wie es der Ex-Zivildienstleistende und Reservemajor Lindner gerade | |
| formuliert hat und Deutschland so tatsächlich zu jenem „Militärbullen“ | |
| mutiert, den Martin Schulz zu Recht verhindern wollte? | |
| Es fühlte sich eigenartig an, als im slowenischen Radio die Nachricht | |
| verlesen wurde, dass Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzlich für seine | |
| Armee bereitstellen will. Dieses Land, das oft gar nicht begreift, welche | |
| Angst es seinen Nachbarn macht, dick und bräsig in der Mitte Europas. | |
| Was also, wenn man diese 100 Milliarden in eine europäische Berufsarmee | |
| investieren würde? Und mit ihnen die Milliarden der anderen EU-Staaten, die | |
| nun ebenfalls mehr in ihr Militär stecken. Was, wenn junge Menschen aus | |
| ganz Europa sich aussuchen könnten, in welchem Land sie untergebracht und | |
| ausgebildet werden? Es eine Art Erasmus-Programm für junge Militärs gäbe? | |
| Was, wenn man deren Ausbildung derart aufwerten würde, wie es an vielen | |
| Polizeiakademien längst geschehen ist? Was, wenn diese europäische Armee, | |
| die mit Ressourcen ausgestattet wurde, die eigentlich an anderer Stelle | |
| gebraucht würden, auch an diesen Stellen eingesetzt werden könnte? Also im | |
| Bereich des Klimaschutzes, der Wiederaufforstung, des Baus von Deichen? | |
| Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ im Jahr 1989 hat der EU den Euro gebracht | |
| und ihre Integration befördert. Vielleicht müssen wir lernen, auch die | |
| Wiedererrichtung des Vorhangs als Chance zu begreifen. Die Gründung einer | |
| europäischen Armee war bislang eher ein Thema für Sonntagsreden, etwas, das | |
| man in der Zukunft angehen sollte – auch weil es eben nicht so einfach ist. | |
| Aber bevor wir uns allesamt von der Gegenwart überrollen lassen, sollten | |
| wir versuchen, vernunftgeleitete Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. | |
| 4 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Osteuropa-Historiker-ueber-Putin/!5833567 | |
| [2] /Aufruestung-in-Deutschland/!5838517 | |
| [3] https://twitter.com/Lam3th/status/1498623959285260295 | |
| [4] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wehrpflicht-politiker-von-union-… | |
| [5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundeswehr-heeres-inspekteur-kri… | |
| [6] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bodo-ramelow-spricht-sich-fuer-a… | |
| [7] https://twitter.com/elhotzo/status/1498640520981229571?s=20&t=NKn9i5RTy… | |
| [8] https://www.derstandard.de/story/2000133753411/internationales-freiwilligen… | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Reichert | |
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