| # taz.de -- Erasmus-Direktor über Jubiläum: „Erasmus inklusiver machen“ | |
| > Über das Austauschprogramm der EU sind Millionen junge Menschen ins | |
| > Ausland gegangen. Nun soll die soziale Teilhabe am Programm verbessert | |
| > werden. | |
| Bild: Ein Herz für Europa, diese Woche feiert das Erasmus-Programm seinen 35. … | |
| taz: Herr Geifes, in diesem Jahr ist die Zahl der Erasmus-Anträge im | |
| Vergleich zu 2019 um 20 Prozent gestiegen. Womit hängt das Ihrer Ansicht | |
| nach zusammen? Mit der Hoffnung junger Menschen, endlich wieder unbekümmert | |
| ins Ausland gehen zu können? Oder den neuen Erasmus-Fördersätzen? | |
| Stephan Geifes: Wahrscheinlich mit beidem. In der gestiegenen Nachfrage | |
| nach Erasmus zeigt sich eine neue Lust auf Mobilität nach Corona. Während | |
| der Pandemie galt das Prinzip „Gesundheit zuerst“ und trotzdem ging es im | |
| Programm immer weiter. Die gestiegenen Fördersätze spielen aber sicher auch | |
| eine Rolle. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die Zahl der beantragten | |
| Auslandsaufenthalte, die die Hochschulen jedes Jahr an den [1][DAAD] | |
| weiterleiten, während der Pandemie nur unwesentlich zurückgegangen waren. | |
| Die Nachfrage im Programm war also auch trotz der Corona-Einschränkungen | |
| und Unsicherheiten unverändert hoch. | |
| Viele Erasmus-Studierende sind aber nur virtuell ins Ausland gereist – und | |
| haben so etwas Wesentliches verpasst: das Gefühl, einen neuen Ort, neue | |
| Menschen, eine neue Kultur kennenzulernen. Wie stehen die Aussichten auf | |
| ein tatsächliches Auslandsstudium im Herbst? | |
| Der Aufenthalt vor Ort ist natürlich ein wichtiger Bestandteil und war es | |
| auch unter Corona. Tatsächlich war die rein virtuelle Mobilität viel | |
| kleiner als zunächst vermutet: In 2020 waren es nur 100 und in 2021 knapp | |
| 1.000 Geförderte – physisch vor Ort waren im Vergleich dazu 2020 rund | |
| 21.000 und 2021 rund 34.000. Aktuell muss jeder Geförderte und jede | |
| Geförderte wieder eine Mindestzeit vor Ort verbringen, wie es vor Corona | |
| der Fall war. Für ein Auslandssemester im Herbst sieht es bislang sehr gut | |
| aus. Gleichzeitig sehen wir, dass bestimmte Studierende aus persönlichen | |
| Gründen nicht so lange ins Ausland reisen können. Zum Beispiel weil sie | |
| Kinder haben oder ihre Eltern pflegen. Deshalb haben wir die Mindestdauer | |
| im Ausland von drei auf zwei Monate herabgesetzt. Das setzt die | |
| Hemmschwelle herab. | |
| Die Pandemie hat [2][Erasmus] inklusiver gemacht? | |
| Ja, wir wollen auch Personen erreichen, die sonst nicht ins Ausland | |
| gegangen wären. Natürlich ist die Wirkung größer, je länger man ins Ausland | |
| geht. Aber auch bei einem kürzeren Aufenthalt werden die Ziele erreicht: | |
| Die Person setzt sich mit einer anderen Sprache, einem anderen | |
| Hochschulsystem, mit einem anderen interkulturellen Setting auseinander. Es | |
| können nun auch Studierende gefördert werden, die „nur“ zwischen 5 und 30 | |
| Tagen ins Ausland gehen und den Rest der Zeit virtuell am Programm | |
| teilnehmen. | |
| Ein langjähriger Kritikpunkt an Erasmus ist, dass die Fördersätze in den | |
| Gastländern oft nicht zum Leben reichen – und damit bestimmte Studierende | |
| ausschließen. Auch hier wollen Sie inklusiver werden. | |
| Wir wollen die soziale Teilhabe am Programm ausweiten. Erasmus inklusiver | |
| zu machen – das ist eine Priorität der aktuellen Programmgeneration bis | |
| 2027. Neben der generellen Erhöhung der Förderbeiträge bei Auslandsstudium | |
| und -praktika erhalten Studierende aus Nichtakademikerfamilien und | |
| erwerbstätige Studierende unter bestimmten Voraussetzungen künftig einen | |
| monatlichen Zuschlag von 250 Euro. Wir wissen, dass beide Gruppen | |
| unterdurchschnittlich häufig ins Ausland gehen. Der Bonus betrifft also | |
| einen ziemlich großen Teil der Studierenden in Deutschland, ich schätze | |
| rund 50 Prozent der Studierendenschaft. | |
| Um es konkret zu machen: Für diese Studierenden wären dann je nach Zielland | |
| bis zu 850 Euro Förderung statt bisher 450 Euro drin. Wie viel Prozent der | |
| sozial benachteiligten Studierenden wollen Sie denn künftig erreichen? | |
| Wir haben bisher keine genauen Zahlen darüber, wie viele Erstakademiker und | |
| erwerbstätige Studierende an Erasmus teilnehmen. Aber von dem Feedback, das | |
| wir von den Hochschulen und Bundesländern bekommen, nehmen diese beiden | |
| Gruppen das Angebot, mit Erasmus ins Ausland zu gehen, deutlich seltener | |
| wahr. Das wollen wir ändern. Übrigens steht der Bonus über 250 Euro auch | |
| Studierenden mit Kind oder Personen mit chronischen Krankheiten oder | |
| Beeinträchtigungen zur Verfügung. Wenn sich abzeichnet, dass der Bonus | |
| nicht ausreicht, können Programmteilnehmende aus diesen letztgenannten | |
| Gruppen auch einen Antrag auf Übernahme der Realkosten stellen. Sie können | |
| auf diese Weise bis zu 15.000 Euro pro Semester erhalten. Für Studierende | |
| mit Kind ist das neu. Auch für Familien wollen wir das Programm attraktiver | |
| machen. | |
| Eines der beliebtesten Zielländer für Studierende aus Deutschland war lange | |
| Großbritannien. Nach Londons Austritt aus dem Erasmusprogramm drohen | |
| Studierenden aus der EU auf der Insel hohe Studiengebühren. Allerdings | |
| fördert Erasmus seit vergangenem Jahr auch Austauschprogramme mit | |
| Nicht-EU-Ländern – auch mit Großbritannien. Wie ist der aktuelle Stand? | |
| Wir bedauern den Brexit und den Ausstieg aus dem Erasmusprogramm sehr. Er | |
| ist nicht gut für die Wissenschaft in Deutschland und in Großbritannien. Im | |
| Moment läuft der Austausch aus alten Programmelementen noch bis Mai 2023 | |
| weiter, eine Rückkehr Großbritanniens in das Erasmusprogramm ist möglich, | |
| aber derzeit leider nicht von Großbritannien gewünscht. Nach der aktuellen | |
| Förderrichtlinie können deutsche Hochschulen aber bis zu 20 Prozent ihrer | |
| Erasmusplätze für Nicht-Erasmus-Länder vergeben – also auch für | |
| Großbritannien. Die britischen Universitäten müssen in diesem Fall aber auf | |
| die Studiengebühren verzichten. | |
| Und das machen sie? | |
| Nach den Rückmeldungen, die ich von deutschen Hochschulen habe, besteht auf | |
| britischer Seite ein großes Interesse, weiter zu kooperieren. Es ist | |
| wichtig, das nach außen zu kommunizieren. Viele Studierende glauben, ein | |
| Erasmusaustausch mit Großbritannien sei nicht mehr möglich. Das stimmt aber | |
| nicht. Es ist komplizierter geworden, vor allem bei Praktika. Aber es gibt, | |
| je nach Hochschule in Deutschland und Großbritannien, weiterhin Plätze. Und | |
| für die sind dann auch keine Studiengebühren fällig. | |
| Seit dem ersten Erasmusaustausch vor 35 Jahren sind rund zehn Millionen | |
| junge Menschen über Erasmus gefördert worden. Bis 2027 will die EU diese | |
| Zahl verdoppeln. Muss Erasmus mithelfen, Europa zusammenzuhalten? | |
| Erasmus ist eine Erfolgsgeschichte, die über die akademische Zusammenarbeit | |
| hinausgeht. Diejenigen, die an Erasmus teilgenommen haben, engagieren sich | |
| mehr für Europa. Wir sehen das daran, dass ehemalige Erasmusstudierende | |
| signifikant häufiger an Europawahlen teilnehmen als Altersgenossen ohne | |
| Erasmusteilnahme. Dazu kommt, dass sie sich dank der interkulturellen | |
| Erfahrungen auch stärker für die Diversität in der eigenen Gesellschaft | |
| engagieren. Es ist ein Zeichen, dass die EU die Programmmittel für die | |
| aktuelle Förderrunde verdoppelt hat. Erasmus hat eine stabilisierende | |
| Wirkung auf unser Zusammenleben in Europa. | |
| Welchen Beitrag kann Erasmus für Länder leisten, in denen Krieg herrscht | |
| wie zuletzt Afghanistan [3][oder jetzt die Ukraine?] | |
| Afghanistan ist kein zentrales Kooperationsland des Erasmusprogramms. | |
| Dennoch konnte immerhin einzelnen Personen aus Afghanistan geholfen werden. | |
| Für die Ukraine hat die EU sehr schnell reagiert und den Erasmustopf | |
| unkompliziert für ukrainische Studierende geöffnet. Das hat es den | |
| Hochschulen erlaubt, Gelder, die sie schon für zugebilligte Austauschplätze | |
| haben, sofort unbürokratisch zu nutzen. Darüber hinaus sind die | |
| Erasmusmittel in 2022 für spezielle Hochschulkooperationen mit der Ukraine | |
| in Deutschland von zwei auf drei Millionen Euro erhöht worden. | |
| 15 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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