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# taz.de -- Hochschulen und der Ukrainekrieg: Lehrauftrag im Kriegsgebiet
> Die Europa-Universität Viadrina unterhält enge Verbindungen in die
> Ukraine. Nun versucht sie, möglichst viele Menschen von dort zu retten.
Bild: Sorgen sich um die Menschen in der Ukraine: Friedensgebet in Frankfurt (O…
Bevor der ukrainische Historiker Kyrylo Tkachenko seinen Impulsvortrag
startet, schiebt er eine Entschuldigung vorweg: „Ich bin in Kiew gerade, es
kann sein, dass ich jederzeit aufbrechen muss.“ Endlich habe er seine Frau
und seine Eltern überredet, sich und die Kinder in [1][Sicherheit vor den
russischen Bomben] zu bringen und die Stadt zu verlassen. „Das geschieht
jetzt“, sagt Tkachenko auf Deutsch in seiner Kiewer Küche, von der er live
zugeschaltet ist.
Im Hintergrund sieht man bunte Kinderzeichnungen am Kühlschrank. Eine
Viertelstunde will Tkachenko an diesem Freitagnachmittag über das
„Ukraine-Bild in Deutschland und Ukraine-Forschung in Krisenzeiten“ reden �…
auf Einladung der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), an der
er von der Ukraine aus promoviert.
Es sind Wissenschaftler:innen wie Tkachenko, um die sich
Kolleg:innen in Deutschland derzeit sorgen. Laut Angaben der
Hochschulrektorenkonferenz (HRK) waren im vergangenen Sommersemester 116
deutsche Hochschulen und damit etwa jede vierte an einer Kooperation mit
der Ukraine beteiligt.
„Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die als Folge der
russischen Aggression ihr Land verlassen müssen, werden wir im Rahmen
umfassender Hilfsprogramme Unterstützung anbieten“, verspricht die HRK in
einer gemeinsam mit den wichtigsten deutschen Wissenschaftsorganisationen
verfassten Stellungnahme. Nur: Wie konkret kann die Hilfe aussehen, wenn
Städte eingekesselt sind, die Flucht lebensgefährlich ist und männliche
Ukrainer ihr Land nicht verlassen dürfen?
Anruf bei der Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Julia von
Blumenthal. Mit vier ukrainischen Hochschulen unterhält die Viadrina enge
Beziehungen: zwei davon in Kiew, je eine in Lwiw und Charkiw. Vor allem um
die Kolleg:innen aus Charkiw macht sich von Blumenthal große Sorgen. Die
Stadt steht seit Tagen unter schwerem Beschuss, mehrere Gebäude der
Nationalen W.-N.-Karasin-Universität wurden durch die russische
Bombardierung schwer beschädigt.
## „Alles, was wir können“
„Wir wissen, dass wir in dieser schweren Situation nur bedingt helfen
können“, sagt von Blumenthal. „Aber wir tun alles, was wir können.“ Dann
zählt sie auf: Online-Veranstaltungen zur Ukraine, bei denen
Kolleg:innen von vor Ort als Expert:innen geladen sind, Solidarität
spüren und auch ein Sprachrohr zur Welt bekommen. Die Vergabe von
Online-Lehraufträgen, um sie auch finanziell zu unterstützen – sofern das
Kriegsgeschehen (und die Internetverbindung) dies zulasse.
Und, für die, die sich nach Deutschland retten können: Hilfe beim Ankommen
und bei der Vermittlung von Stipendien und Stellen. Mehrere Personen seien
schon über die Verbindungen der Hochschule bis zur polnisch-deutschen
Grenze gelangt und, gleich auf der anderen Seite, im Gästehaus der Viadrina
untergebracht worden.
Zudem hat die Uni einen Hilfsfonds für die Ukraine eingerichtet und 100
Plätze im Wohnheim für aus der Ukraine geflohene Menschen bereitgestellt.
Die Viadrina prüft, wie sie für Studierende und Wissenschaftler:innen
der Partner-Unis die Möglichkeit schafft, für Studien- und
Forschungsaufenthalte nach Deutschland zu kommen. „Seit Beginn der
russischen Invasion gibt es für uns eigentlich kein anderes Thema mehr“,
sagt Präsidentin von Blumenthal.
In ganz Deutschland versuchen Hochschulen derzeit Hilfe zu leisten:
Studierende sammeln Hilfsgüter, Unileitungen richten Nothilfefonds für
ukrainische Studierende ein oder organisieren Benefizkonzerte zugunsten von
Kriegsflüchtlingen. Programme zum Schutz bedrohter
Wissenschaftler:innen wie die Philipp-Schwartz-Initiative haben
reagiert und erlauben Nachmeldungen für „akut gefährdete“ ukrainische
Wissenschaftler:innen.
## Hilfe vom Bund?
DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee glaubt nicht, dass das reicht, um allen
ukrainischen Studierenden und Wissenschaftler:innen „eine Perspektive
bieten“ zu können. Sollte der Krieg in der Ukraine länger dauern, müsse die
Bundesregierung die Hochschulen finanziell unterstützen. Darüber liefen
bereits Gespräche, teilt der DAAD auf taz-Anfrage mit. Wo sich alle
Beteiligten jedoch sofort einig waren: dass sämtliche Kooperationsprojekte
mit russischen Partner-Unis auf Eis gelegt werden – auch an der
Europa-Universität Viadrina. Alles andere sei in der aktuellen Situation
das falsche Signal, so von Blumenthal.
Für die Europa-Universität Viadrina gilt das vielleicht ganz besonders.
1991 wurde sie mit dem Auftrag gegründet, die deutsch-polnische
Zusammenarbeit zu fördern und Impulse für die europäische Integration zu
entwickeln. Heute hat die Viadrina mehr als 250 Partner-Unis weltweit,
überwiegend in Mittel- und Osteuropa. Die 5.209 Viadrina-Studierenden
kommen aus 107 Ländern. Die Ukrainer:innen stellen dabei – nach
Deutschen, Pol:innen und Türk:innen – die viertgrößte Gruppe. Dazu
kommt, dass an der Viadrina der deutschlandweit einzige Lehrstuhl für die
Geschichte der Ukraine angesiedelt ist und zahlreiche Ukrainer:innen an
der Uni forschen oder arbeiten.
Einer von ihnen ist Oleksii Isakov. Der 32-Jährige koordiniert an der
Viadrina seit sieben Jahren das Austauschprogramm Erasmus+, das sich
gezielt an Studierende außerhalb der EU richtet. An die Viadrina kommen
darüber Austauschstudierende aus der Ukraine, Georgien, Kosovo und
Russland. „Den ukrainischen Austauschstudierenden haben wir bereits
zugesichert, dass sie länger bleiben können“, sagt Isakov. „Und denen, die
für das kommende Semester eine Zusage haben, stellen wir die ab April
geplante finanzielle Unterstützung schon jetzt in Aussicht, wenn sie früher
kommen möchten.“
## Steigende Nachfrage
Täglich bekommen Isakov und die rund 20 weiteren Mitarbeiter:innen im
International Office der Viadrina Hilfsanfragen über ihre
Programm-Netzwerke. Etwa von einer Studentin aus Kiew, die schon nach
Deutschland geflohen ist und wissen will, ob sie ihr Wirtschaftsstudium in
Frankfurt fortsetzen kann. „Fachlich und sprachlich passt das – sieht also
gut aus“, sagt Isakov. Mittlerweile hat er der Studentin die gute Nachricht
überbracht.
„Dass ich von Deutschland aus meinem Land und Menschen aus der Ukraine
helfen kann, gibt mir viel Kraft“, sagt Isakov, dessen Familie aus der
Hafenstadt Odessa kommt und aktuell dort bleibt. „Immer wieder denke ich,
dass ich gerne meine Heimat vor Ort verteidigen möchte. Gleichzeitig ist
mir aber klar, dass ich ohne jegliche Militärerfahrung von Deutschland aus
viel mehr Hilfe sein kann.“
Die deutschen Hochschulen werden Leute wie ihn gut brauchen können. Bisher
sind seit Kriegsbeginn [2][über 60.000 Ukrainer:innen nach Deutschland
eingereist]. Wie viele Akademiker:innen darunter sind, ist nicht
bekannt. Oleksii Isakov rechnet damit, dass die Anfragen in den kommenden
Wochen deutlich steigen werden.
Für die, die in der Ukraine zurückbleiben, bleiben nur Kampf und Hoffnung.
Als der Historiker Kyrylo Tkachenko mit seinem Impulsvortrag beginnt, sagt
er den bemerkenswerten Satz: „Putin kann den Krieg nicht mehr gewinnen.“ Zu
sehr habe er sich das ukrainische Volk zum Feind gemacht. Die Frage sei
nur, wie viele Menschen Putin mit sich ins Verderben zieht.
Tkachenkos Familie zum Glück nicht mehr. Sie ist mittlerweile, einige Tage
nach dem Online-Vortrag, in Sicherheit – auch dank der Hilfe von Menschen,
die an der Europa-Universität Viadrina arbeiten.
8 Mar 2022
## LINKS
[1] /Humanitaere-Korridore-in-der-Ukraine/!5836545
[2] /Gefluechtete-aus-der-Ukraine/!5839669
## AUTOREN
Ralf Pauli
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