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# taz.de -- Ukraine in der deutschen Forschung: „Wir wollen konkrete Hilfe“
> Ukrainische Studierende kämpfen gegen das schwindende Interesse am
> Angriffskrieg. Deutsche Unis widmen dem Land nur langsam mehr
> Aufmerksamkeit.
Bild: Unissued Diplomas zeigt Geschichten getöteter ukrainischer Studierender,…
Frankfurt (Oder) taz | Andriy, 23, studierte Agrarwissenschaften in Cherson
und träumte davon, in der Großstadt zu leben. Ivanna, 19, studierte
Landschaftsarchitektur in Schytomyr und malte gern. Wie viele andere
Studierende in der Ukraine konnten sie ihr Studium nie abschließen, sie
wurden vorher im Zuge des russischen Überfalls auf die [1][Ukraine]
getötet. Andriy wurde zusammen mit seinem Bruder, seinem Vater und einem
Freund von russischen Soldaten erschossen, Ivanna wurde mit ihren Kindern
durch russische Fliegerbomben getötet.
Ihre Geschichten sowie die weiterer 37 getöteter Studierender erzählt die
von ukrainischen Studierenden initiierte Wanderausstellung „Unissued
Diplomas“. Auf DIN A3 großen Kacheln im Stil von Diplom-Dokumenten würdigt
die Ausstellung das Leben der 40 jungen Menschen, beschreibt sie in kurzen
Porträts mit Foto. Mit diesen „nicht ausgestellten Diplomen“ reist die
Ausstellung um die Welt, an über 250 Standorten wurde sie bisher schon
gezeigt. Aktuell sind 20 dieser Porträts an der Europa-Universität Viadrina
in Frankfurt (Oder) zu sehen.
Dass die „Unissued Diplomas“ ihren Weg an die Viadrina gefunden haben, ist
kein Zufall. Mehr als 150 Ukrainier:innen studieren hier, die Uni zählt
[2][Partnerschaften mit sieben ukrainischen Hochschulen] und gilt als
Leuchtturm der Ukraine-Forschung in Deutschland. So hat die Viadrina seit
2018 den [3][deutschlandweit einzigartigen Lehrstuhl für „Entangled History
of Ukraine“] eingerichtet und im vergangenen Jahr ein dazugehöriges
Forschungszentrum gegründet.
Und aktuell kann sich die Viadrina über eine DAAD-Förderung in Höhe von 2,5
Millionen Euro bis 2028 freuen – als eine von nur zwei Universitäten
bundesweit. Mit den Mitteln des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
sollen sie ihre Ukraine-Kompetenz weiter ausbauen.
## Ukrainische Sprachkurse nur an 12 Unis
In der Ukraine-Forschung tut sich im deutschsprachigen Raum erst langsam
etwas. Zwar gibt es an einzelnen Unis wie Münster, Greifswald oder Gießen
spezielle Lehr- und Forschungsangebote, allerdings meistens in Form von
außeruniversitären Forschungsprojekten oder Sommerschulen. Nur zwölf
Hochschulen in Deutschland bieten überhaupt ukrainische Sprachkurse an.
Ukrainische Themen werden, wenn überhaupt, im Rahmen der Slawistik oder
Osteuropastudien abgehandelt.
Jan Claas Behrends, der an der Viadrina einen Lehrstuhl für osteuropäische
Geschichte innehat, erkennt in der fehlenden Einbeziehung ukrainischer
Themen einen Missstand: In Deutschland seien Forschung und Lehre lange
russlandzentriert gewesen. Die einzelnen Länder der ehemaligen Sowjetunion
wie die Ukraine oder Belarus, aber auch die Länder im Kaukasus,
Zentralasien und dem Baltikum wurden und werden selten spezifisch
betrachtet. Außerdem seien nach dem Kalten Krieg die Osteuropastudien im
Ganzen stark abgebaut worden.
Und wenn die Expertise in der Wissenschaft fehlt, ist sie in Gesellschaft,
Politik und Medien oft erst recht nicht zu finden. Jan Claas Behrends
erinnert sich beispielsweise zurück an 2020, als es in Belarus zu heftigen
Protesten gegen Präsident Lukaschenko kam und aufgefallen sei, dass es in
Deutschland so gut wie keine Kompetenz zu Belarus gegeben habe: „Da wusste
in den Medien niemand, wen man dazu anrufen könnte.“
Osteuropa-Kompetenz in der Wissenschaft ist gerade in Konflikt- und
Kriegssituationen essenziell. Sie muss aber auch in der Politik gehört
werden. Jan Claas Behrends kritisierte jüngst zusammen mit anderen
namhaften Historikern wie Heinrich August Winkler in einem Brandbrief den
Ukraine-Kurs der SPD, insbesondere den Fraktionschef Rolf Mützenich, der
zuletzt im Bundestag von einem „Einfrieren“ des Ukrainekriegs sprach.
Zahlreiche Historiker hatten schon Jahre vor dem russischen Angriff auf die
Ukraine vor ebenjenem gewarnt – und stießen bei Politiker:innen auf
taube Ohren.
Unter Studierenden beobachtet Behrends, dass das Interesse an ukrainischen
Themen zwar seit dem Februar 2022 wieder abnehme – es aber weiterhin eine,
wenn auch eher kleine Kerngruppe an interessierten Studierenden gebe. Das
kann auch Andrii Portnov bestätigen, der den Lehrstuhl für „Entangled
History of the Ukraine“ an der Viadrina innehat. In diesem Sommersemester
bietet Portnov ein Seminar zum Thema Genozid in Osteuropa an, seine
wissenschaftliche Mitarbeiterin Bozhena Kozakevych ein Seminar über die
Ukraine in der Zwischenkriegszeit.
## Forscher erwartet wachsendes Interesse
Portnov, der selbst aus Dnipro kommt, ist sich sicher, dass die Ukraine in
den nächsten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit bekommen wird. Schon jetzt
könne man erkennen, dass es beispielsweise viel mehr Anerkennung für die
Transkription ukrainischer Namen und Wörter gebe. „Das ist aber leider vor
allem durch den Krieg passiert und war mehr ein politisches als ein
akademisches Bestreben.“ Portnov beobachtet auch, dass es immer mehr Bücher
und Dissertationen über die Ukraine gibt. Aber erst seit 2022 gebe es mehr
Verständnis dafür, dass die Ukraine ein „selbstständiges Subjekt mit
eigenen Interessen“ sei.
Ein Problem für den Ausbau der Ukraine-Kompetenz in Deutschland liegt nicht
zuletzt in der Rekrutierung von ausreichend qualifizierten Lehrenden.
Andrii Portnov sieht vor allem in der fehlenden Sprachkompetenz ein großes
Problem, denn ohne die sei die Ukraine-Forschung nicht sehr seriös. Die
Viadrina habe besonders in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle inne, „denn
wir sind bisher das einzige Institut, was Unicert-Zertifikate für
Ukrainisch ausstellt“.
Ihre Expertise kann die Viadrina nun mit den 2,5 Millionen Euro des DAAD
weiter ausbauen. Eduard Mühle, seit einem Jahr Präsident der Viadrina und
selbst Osteuropa-Historiker, gibt einen Ausblick auf die geplanten
Projekte: Gerade würden Gastdozenturen und ein konkretes Forschungspogramm
vorbereitet. Der Ukraine-Schwerpunkt an der Viadrina soll aber auch nach
Ende der Förderdauer hinaus erhalten bleiben.
Für ukrainische Austauschstudierende dürfte das aber ein schwacher Trost
sein. Die 19-jährige Olha Krahel etwa, die die Ausstellung „Unissued
Diplomas“ an die Viadrina gebracht hat, erkennt ein sinkendes Interesse für
das Leid in der Ukraine. „Wir wollen kein Mitleid, wir wollen
Aufmerksamkeit und konkrete Hilfe.“
24 Apr 2024
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[2] /Europa-Universitaet-und-die-Ukraine/!5844901
[3] /Hochschulen-und-der-Ukrainekrieg/!5836573
## AUTOREN
Paula Schöber
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Frankfurt Oder
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