# taz.de -- Studieren als Schülerin: Zwischen Schule und Uni | |
> An ihrer Waldorfschule lernt unsere Autorin Kupfertreiben und Eurythmie, | |
> an der Uni besucht sie Makroöknomik-Kurse. Wie sich Studieren mit 16 | |
> anfühlt. | |
Bild: Mit dem Rad geht es zur Uni | |
BERLIN taz | Meine Finger spielen unruhig mit den Kabeln meines Kopfhörers, | |
würde ich vor Aufregung Fingernägel kauen, wären sie vermutlich nicht mehr | |
vorhanden. Meine Nervosität hat sicherlich mit den Abschlussprüfungen zu | |
tun, die für [1][Berliner Schüler*innen] morgen anstehen. Aber nicht | |
nur: In zwei Minuten beginnt meine erste Vorlesung an der [2][Technischen | |
Universität Berlin.] Für mich ist das etwas komplett Neues: Ich bin 16 | |
Jahre und Schülerin an einer Berliner Waldorfschule. | |
Auf die Idee, bei dem Programm „Studieren ab 16“ mitzumachen, hat mich mein | |
Mathelehrer gebracht. Wahrscheinlich habe ich während seines Unterrichts | |
wieder einmal äußerst gelangweilt geguckt. Zunächst war ich überaus | |
skeptisch. Warum sollte jemand vor dem Hauptschulabschluss und mit den | |
[3][lückenhaften Mathegrundlagen der Waldorfschule] auf die Idee kommen, | |
sich für ein Schülerstudium anzumelden? | |
Doch schließlich war nicht ich, sondern mein Lehrer auf die Idee gekommen, | |
also begann ich, über ein mögliches Modul nachzudenken. Die riesige Auswahl | |
an Studienfächern, von Informatik über Astrophysik bis hin zu Zellbiologie | |
und Philosophie, überforderte mich zunächst. | |
## Morgens Schule, danach Uni | |
Schließlich meldete ich mich für Makroökonomik und eine Ringvorlesung zum | |
Klimaschutz in Kooperation mit Fridays for Future an. Mit der Wahl von | |
Makroökonomik versprach ich mir, politisches Handeln in Bezug auf | |
Wirtschaft besser einordnen zu können. Die Ringvorlesung wählte ich aus | |
Interesse an allen Themen rund um die Klimakrise. | |
Und damit begann mein Doppelleben: Zwischen 8 und 15 Uhr spielt sich mein | |
Leben in der Schule ab. Vielfältigkeit und Individualität stehen hier im | |
Vordergrund. In meinem Stundenplan finden sich Mathematik, Deutsch und | |
Englisch, aber auch Fächer wie Kupfertreiben und Eurythmie. | |
Nach der Schule beginnt mein Zweitleben als Schülerstudentin. Ich schwinge | |
mich auf mein Fahrrad und fahre von Kreuzberg bis nach Charlottenburg, wo | |
die TU angesiedelt ist. Von einem rot leuchtenden Schulgebäude mit einem | |
Minimum an rechten Winkeln geht es in eines, bei dessen Erbauung die Anzahl | |
an rechten Winkeln wohl die geringste Rolle spielte. Mit seinen acht | |
übereinander liegenden schwarzen Fensterreihen, horizontal unterteilt von | |
weißen Stahlplatten, erinnert der TU-Vorbau an einen überdimensionalen | |
Lüftungsschacht. Hier besuche ich seit Beginn des Sommersemesters meine | |
Vorlesungen. In Präsenz. Nur die erste Vorlesung fand Online statt. | |
Die größte Herausforderung für mich liegt darin, mit den zwei so | |
unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zu jonglieren. Anfangs erschien es | |
mir unmöglich, mit dem Tempo an der Uni mitzuhalten. Ich fühlte mich wie im | |
Sportunterricht. Keuchend versuchte ich, mit dem Rest mitzuhalten. Anders | |
als beim Ausdauerlauf wurde ich an der Uni zu meiner Überraschung aber | |
zunehmend schneller. Allerdings fällt es mir jetzt zunehmend schwerer, das | |
deutlich langsamere Tempo in der Schule ohne große Frustration zu ertragen. | |
## 50 Unis bieten Junior- oder Frühstudium an | |
Die Möglichkeit für Schüler*innen, bereits vor dem Abitur den | |
Universitätsalltag kennen zu lernen, ist nicht neu. An der Universität Köln | |
mischen sich seit über 20 Jahren interessierte Jugendliche unter die | |
Student*innen. Ausgerichtet ist das Programm auf im Schulunterricht | |
unterforderte oder besonders neugierige Schüler*innen. Das mag vielleicht | |
nach Hochbegabung klingen, laut der Studienberaterin ist ein Großteil der | |
Teilnehmer*innen jedoch schlicht „durchschnittlich gut, nur | |
überdurchschnittlich motiviert.“ Zusammen mit normalen Student*innen | |
besuchen wir Schülerstudent*innen Vorlesungen, Tutorien und Seminare, | |
wir erhalten sogar einen Bibliotheksausweis. | |
Inzwischen haben sich mehr als 50 Universitäten und Hochschulen dem Kölner | |
Projekt angeschlossen und bieten ein sogenanntes [4][Junior- oder | |
Frühstudium] an. Die TU-Berlin begann 2006 mit dem Projekt „Studieren ab | |
16“. Finanziert wurde es anfangs unter anderem von der Deutschen Telekom | |
Stiftung. Nach Ende der Drittmittelfinanzierung entschied die TU, das | |
Projekt fortzusetzen und aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Jedes Semester | |
beschließen 80-100 Schüler*innen aus Berlin und dem nahegelegenen | |
Umland, diese Chance wahrzunehmen. Der Projektleiterin Claudia Cifire | |
zufolge befinden sich rund ein Drittel von ihnen bereits im 2. oder gar 3. | |
Semester. | |
Wer will, kann sogar eine Prüfung absolvieren und damit bereits | |
Leistungspunkte für ein späteres Studium sammeln. Hier gilt die sogenannte | |
Freischussregelung: Eine nicht bestandene Prüfung wird nirgends vermerkt, | |
eine bestandene kann zur Verkürzung des späteren Studiums beitragen. | |
Tatsächlich schließen immer wieder Schüler*innen ihre gewählten Module | |
mit Bestnoten ab. | |
Die naturwissenschaftlichen Kurse sind unter den Jugendlichen am | |
beliebtesten, zunehmend aber auch Fächer im Bereich der | |
Geisteswissenschaften. Bedauerlicherweise sind Informatik-Studentinnen | |
immer noch eine Seltenheit, die Studienberaterinnen berichten allerdings, | |
dass Fächer wie Mathematik relativ ausgeglichen besucht sind, in Chemie | |
sogar die Mädchen eine Mehrheit darstellen. Zwei Mal im Jahr schreibt die | |
TU alle Schulen in Berlin und Brandenburg, die zum Abitur führen, an, um | |
auf das Angebot aufmerksam zu machen. | |
Ein Großteil von ihnen kommt aus Gymnasien, hin und wieder befinden sich | |
auch Gesamtschüler*innen, Abendschüler*innen und gelegentlich auch mal | |
ein/e Waldorfschüler*in unter den Teilnehmer*innen. Besonders stolz | |
berichteten mir alle Koordinatorinnen von dem großen Anteil an jungen | |
Erwachsenen mit Migrationshintergrund. „Da sind Jugendliche, die gerade | |
einmal drei Jahre in Deutschland sind und bereits zu uns an die Uni | |
kommen“, erzählt die Projektleiterin der Universität Hamburg voller | |
Hochachtung. | |
Grundsätzlich unterscheiden sich die Juniorstudienangebote hauptsächlich in | |
ihren Teilnahme-Voraussetzungen. An der Universität Tübingen beispielsweise | |
sind ein aktuelles Zeugnis, ein Empfehlungsschreiben des Lehrers sowie ein | |
Motivationsschreiben sowie das Einverständnis der Schule erforderlich. Für | |
die Anmeldung an der TU ist lediglich das Einverständnis der Schule | |
gefragt. Noten sehen sie hier nicht als validen Indikator für eine | |
erfolgreiche Teilnahme am Schülerstudium. Informatiknerds sollen nicht | |
aufgrund schlechter Noten in Geisteswissenschaften daran gehindert werden, | |
ihren Interessen an der Universität nachzugehen. Mit meiner 10-jährigen | |
Erfahrung als Waldorfschülerin kann ich dem nur zustimmen. | |
Meine erste Vorlesung beginnt. Der Zoomlink öffnet sich, mein Bildschirm | |
verwandelt sich in ein Meer aus kleinen schwarzen Kacheln. Selbst nach zwei | |
Jahren Online-Vorlesungen befinden sich die über 300 Student*innen | |
plötzlich in zwei unterschiedlichen Zoom Meetings. Sobald die technischen | |
Schwierigkeiten überwunden sind, geht es mit einer kurzen organisatorischen | |
Besprechung los. Das Thema der heutigen Vorlesung ist die aktuelle | |
wirtschaftliche Lage in Deutschland und dem Euroraum, vor allem aber die | |
wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. | |
## Breiterer Blick auf Themen | |
Die nächsten 1,5 Stunden bestehen hauptsächlich darin, Graphen zu | |
betrachten, deren Kurven fast synchron mit dem Anfang der Coronakrise einen | |
erschreckenden Knick machen. Verstehen tu ich sicherlich nicht einmal die | |
Hälfte, deshalb bin ich aber auch nicht hier. Ich bin hier, um etwas Neues | |
zu lernen und demnächst auch gezackte Linien mit unheimlich viel Bedeutung | |
zu zeichnen. | |
Heute kann ich dank der bisherigen Vorlesungen in Makroökonomik Begriffe | |
wie Sparquote, Bruttoinlandsprodukt oder auch Inflationsrate in | |
Zeitungsartikeln einordnen und teilweise sogar selbst berechnen. In der | |
breit gefächerten Ringvorlesung zum Klimaschutz habe ich unter anderem über | |
die Bedeutung von Geothermie, die Risiken der Kernenergie oder auch die | |
Rolle des Journalismus in der Klimakrise gelernt. Insbesondere die | |
Kombination aus Makroökonomik und den neusten Forschungsergebnissen im | |
Bereich Klimaschutz macht mir komplexe Probleme begreiflicher. | |
Wem Schule nicht genügt und das spätere Studium verkürzen möchte oder | |
einfach nur einen Einblick in das Student*innen Leben erlangen will, | |
sollte die Chance eines Schülerstudiums unbedingt wahrnehmen. (Ich selber | |
will damit auf jeden Fall weitermachen.) Auch wenn ich nächstes Semester | |
aufgrund eines Auslandsaufenthaltes nicht weiter studieren kann, werde ich | |
aber sicher nicht erst nach dem Abi wieder einen Hörsaal betreten. | |
7 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schulsenatorin-in-der-Kritik/!5860263 | |
[2] /Volkswirt-ueber-Postkonsumgesellschaft/!5849335 | |
[3] /Waldorfschulen-werden-100-Jahre-alt/!5621534 | |
[4] https://www.hochschulkompass.de/studium/hilfe-bei-der-studienwahl/studieren… | |
## AUTOREN | |
Carmen Wabnitz | |
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