# taz.de -- Deutsche Kolonialvergangenheit in Afrika: Erbärmliche Gesten | |
> Deutschland wird von der kolonialen Erblast und der eigenen | |
> Gewaltgeschichte eingeholt. Das deutsche Wesen bedarf endlich einer | |
> Genesung. | |
„Verdammt seien die Deutschen! Gott! Ich flehe dich an, höre meinen letzten | |
Willen, dass dieser Boden niemals mehr von Deutschen betreten werde!“ Dies | |
waren am 8. August 1914 einem Augenzeugen zufolge die letzten Worte von | |
Rudolf Manga Bell, bevor er gemeinsam mit seinem Vertrauten Adolf Ngoso Din | |
gehängt wurde. | |
Die deutschen Henker benötigten keine Übersetzung. Manga Bell hatte als | |
Spross der kamerunischen Königsfamilie Douala Manga Bell, deren Oberhaupt | |
er 1908 wurde, zwischen 1891 und 1897 die Lateinschule im schwäbischen | |
Aalen, danach das Gymnasium in Ulm besucht und zahlreiche Freundschaften | |
mit Einheimischen geschlossen. | |
Das Todesurteil wegen Hochverrats war in einem Pseudo-Verfahren vom | |
Bezirksgericht Duala im „Schutzgebiet“ Kamerun binnen weniger Stunden tags | |
zuvor verhängt worden. Der im wahrsten Sinn kurze Prozess sprach deutscher | |
Rechtsprechung Hohn. Nicht nur basierte die Anklage auf erfundenen | |
Behauptungen. Auch war den prominenten Anwälten der Angeklagten – [1][den | |
sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Hugo Haase] und Paul Levi | |
(auch Anwalt [2][Rosa Luxemburgs]) – die Teilnahme am Verfahren verwehrt. | |
Der Skandal war Teil der kolonialen Willkürherrschaft des deutschen | |
Kaiserreichs in Kamerun. Diese brach die dem Volk der Duala im | |
„Schutzvertrag“ von 1884 gemachten Zusicherungen und beraubte sie ihrer | |
garantierten Existenzgrundlage. Rudolf Manga Bell wurde von den | |
Duala-Gemeinschaften mit der Wahrnehmung deren Interessen beauftragt. | |
Im Unterschied zu den meisten antikolonialen Widerstandsformen jener Zeit | |
vertraute er dem von ihm geschätzten deutschen Rechtssystem. Er verfasste | |
Beschwerdebriefe und Eingaben an staatliche Behörden und den Reichstag und | |
entsandte Adolf Ngoso Din als Emissär nach Deutschland. Im Mai 1914 wurden | |
beide verhaftet. Der Beginn des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 1914 | |
verhinderte nicht deren mit einem Scheinprozess bemäntelte Exekution. Der | |
Befund eines Justizmords durch Paul Levi war eindeutig. Inzwischen sind die | |
Fakten auch in der deutschen Öffentlichkeit verbreitet und zugänglich. Sie | |
könnten als Allgemeinwissen gelten – so denn jemand darum wissen möchte. | |
Aber selbst solches Wissen bedeutet nicht, sich um begangenes Unrecht zu | |
kümmern. Dabei stellt der Koalitionsvertrag der Ampelregierung fest: „Wir | |
wollen koloniale Kontinuitäten überwinden.“ Immerhin wird damit eingeräumt, | |
dass es diese gibt. Sie manifestieren sich auch in der Passivität, | |
koloniales Unrecht da rückgängig zu machen, wo es zumindest als ein | |
symbolischer Akt möglich wäre. | |
Im Falle von Manga Bell und Ngoso Din fragte schon im November 2014 der | |
Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele die Bundesregierung, weshalb die | |
beiden Opfer nicht rehabilitiert würden. Damals antwortete Michael Roth als | |
Staatsminister im Auswärtigen Amt, eine entsprechende Forderung der Duala | |
würde es bislang nicht geben – als ob es dieser bedarf. | |
## Rehabilitierung gefordert | |
Seit Beginn dieses Jahres zirkuliert eine Petition, die diese | |
Rehabilitierung fordert. Zu deren Initiatoren gehört mit Prinzessin | |
[3][Marilyn Douala Bell] eine Urenkelin und mit Jean-Pierre Félix Eyoum ein | |
Großneffe des Hingerichteten. Letzterer lebt als Lehrer in Deutschland, | |
Prinzessin Marilyn leitet in Kameruns Hauptstadt das Kunstzentrum | |
Doual’art. | |
Sie wurde 2021 mit der Goethe-Medaille „für die Aufarbeitung der deutschen | |
Kolonialgeschichte in Kamerun und für den gesellschaftlichen Dialog über | |
die Auswirkungen des Kolonialismus“ geehrt. Als Gast des Goethe-Instituts | |
hält sie sich die letzte Mai-Woche in Berlin und Hamburg auf. | |
Ihren Besuch nahm die Abgeordnete Sevim Dağdelen (Die Linke) die geforderte | |
Rehabilitierung zum Anlass für eine Kleine Anfrage. Die Antwort der | |
Bundesregierung ist ernüchternd. Auf die Frage, ob es, wie seinerzeit von | |
Michael Roth zugesagt, ein Gespräch mit dem Außenminister über den Umgang | |
mit einer Bitte um Entschuldigung und Vergebung gegeben habe, heißt es | |
lapidar: „Nachweise über ein Gespräch im Sinne der Fragestellung sind den | |
vorliegenden Akten nicht zu entnehmen“. | |
Die Bundesregierung bestätigt, dass ihr die Petition und die Rolle von | |
Prinzessin Marilyn bekannt ist. Doch bleibt unter Verweis auf „durchaus | |
sensible Identitätsfragen in den Nachfolgegesellschaften“ eine verbindliche | |
Reaktion dazu aus. | |
## Größenwahn per Humboldt Forum | |
Nach über einem Jahrhundert an Amnesie grenzender Verdrängungsleistung wird | |
Deutschland von der kolonialen Erblast eingeholt. Dazu tragen nicht nur | |
zahlreiche postkoloniale Initiativen und [4][afrodeutsche Stimmen bei]. | |
Auch an Geschichtsklitterung grenzende größenwahnsinnige Projekte wie das | |
Berliner Humboldt Forum haben eine Diskussion ausgelöst, die für das lange | |
mit Gedächtnisschwund behaftete Kapitel deutscher Gewaltgeschichte in | |
Übersee sensibilisiert. | |
Das 2015 erfolgte Eingeständnis, dass die kaiserlichen „Schutztruppen“ | |
(welch Euphemismus!) in „Deutsch Südwestafrika“ den ersten Völkermord des | |
20. Jahrhunderts verübten, machte einige Kolonialgräuel einer breiteren | |
Öffentlichkeit bekannt. Im Mai 2021 wurde von den Sonderbeauftragten | |
Deutschlands und Namibias eine zum „Versöhnungsabkommen“ stilisierte | |
Übereinkunft paraphiert. | |
Darin wird gerade mal ein Siebtel der veranschlagten Baukosten von | |
Stuttgart 21 als Entschädigung für die strukturellen Konsequenzen dieser | |
kolonialen Zerstörung lokaler Gemeinschaften angeboten. Diese erbärmliche | |
Geste grenzt an eine Beleidigung der Nachfahren der damaligen Opfer und ist | |
einer mehrerer Gründe, weshalb die namibische Regierung das Dokument noch | |
immer nicht ratifiziert hat. | |
Nein, am deutschen Wesen ist die Welt nicht genesen. Vielmehr bedarf das | |
deutsche Wesen weiterhin der Genesung – gerade wenn es um einen halbwegs | |
aufrichtigen und adäquaten Umgang mit seiner kolonialen Gewaltgeschichte | |
geht. | |
25 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Henning Melber | |
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