# taz.de -- Der Hausbesuch: Tomatenversteher aus Oberschwaben | |
> Michael Schick ist leidenschaftlicher Tomatenzüchter. 1.300 verschiedene | |
> Sorten hat er in seinen Gewächshäusern und in seinem Samenarchiv | |
> gesammelt. | |
Bild: „Eigentlich wollte ich bei 500 aufhören“, sagt Michael Schick und me… | |
Im Winter, wenn die [1][Tomatensaison] längst zu Ende ist, sind in den | |
Supermarktregalen immer noch welche zu finden. Trifft Michael Schick dort | |
Bekannte, gibt er ihnen auch mal einen Tipp, wie sie den totalen Frust | |
vermeiden können, denn Tomaten im Winter schmecken nicht. | |
Draußen: Die Katze Lätzchen durchstreift den weitläufigen Naturgarten, | |
während Michael Schick von einer Tomatenrarität zur nächsten eilt. | |
Verschlungene Pfade führen zu lauschigen, gut beschatteten Sitzecken, in | |
den Beeten haben auch Beikräuter ihren Stellenwert. Ein Gleichklang | |
zwischen Kultur und Wildnis. Wo „richtig reingestampftes Altmaterial“ mit | |
einer Kompostauflage das [2][Hochbeet-Prinzip] aufgreift, wächst ein | |
Dickicht aus Gemüse. Die kleinen Gewächshäuser sind die Herzkammer des | |
Gartens, der in fließendem Übergang zur Gärtnerei wird. Einige Stöcke | |
wachsen unter aufgespannten Regenschirmen. | |
Drinnen: Von allen Zimmern aus fällt der Blick nach draußen, wo das | |
Gartenreich einen den Jahreszeiten gehorchenden, wandelbaren Schmuck | |
beisteuert. Das holzsichtige Mobiliar ist älteren Datums, genauso wie das | |
Haus selbst – ein ehemaliges Austragshaus für Altbauern, gelegen in der | |
Dorfmitte von Bronnen, das wiederum in Oberschwaben liegt. Schick hat es | |
von seiner Tante erworben, umgebaut und mit einem wintergartenartigen Anbau | |
versehen. Früher hat der Gärtner dort ebenfalls Tomatenpflanzen | |
großgezogen, doch mit der Zeit sah das seine Frau nicht mehr so gern. Die | |
zweite Herzkammer des Betriebs ist in einem Nebenraum untergebracht. Es ist | |
das Archiv mit den Tomatensamen, das zugleich Auslieferungslager ist. | |
Wenige Holzboxen sind dafür ausreichend.Arbeitskleidung: Der Hausherr trägt | |
gern einen Strohhut. Das gehöre sich für einen Gärtner so. Wenn er seinen | |
Pflanzen was Gutes tun wolle, mixe er ihnen seinen „Hexentrank“ und nebele | |
sie damit ein. Rapsöl, Backpulver und Wasser ergäben einen Cocktail, der | |
die gefürchtete Braunfäule zumindest im Zaum hält. Für ihn ist das | |
existenziell, bilden die Tomaten doch die Grundlage seiner materiellen | |
Existenz. | |
Das Team: Schick, 60, Vollbart, Brille, hat ein phänomenales Gedächtnis. | |
„145“, ruft ihm seine Partnerin Maria Gossner zu. „Ist die Mission Dyke�… | |
antwortet er augenblicklich und nennt damit die Sorte, die unter besagter | |
Nummer 145 archiviert ist. Auch fachlich sind sie ein gutes Team. [3][Sie | |
als Heilpraktikerin] wisse um die Wirkstoffe von Pflanzen, er als Gärtner | |
könne letztere genau bestimmen. | |
Leben, Arbeiten, Urlaub machen: Dass La Palma zum Lieblingsurlaubsziel der | |
beiden zählt, hänge eng mit der dortigen Botanik zusammen, mit ihren vielen | |
autochthonen, nur dort heimischen Pflanzen. Hinzu kommen noch jene mit | |
kolonialer Herkunft. Man finde noch zahlreiche der ursprünglichen Tomaten- | |
und Kartoffelsorten, wie sie einst aus der Neuen Welt nach Europa | |
eingeführt worden waren. Nur bei der Frage, ob Tomaten schon auf den | |
Frühstückstisch gehören, sind sich Schick und seine Partnerin uneins. | |
Gossner: „Frühestens zu Mittag.“ | |
Die Zielmarken: „Eigentlich wollte ich bei 500 aufhören“, sagt Schick. | |
Seine Partnerin war weitsichtiger: „Ich hatte gehofft, bei Tausend wäre das | |
Ziel erreicht“, fällt sie ihm ins Wort. Mittlerweile sind sie bei etwa | |
1.300 unterschiedlichen Sorten angelangt, und das Ende ist lediglich | |
insofern abschätzbar, als dass es wohl weltweit an die 10.000 | |
Tomatenvariationen geben muss. Manchmal flattern unaufgefordert Samen von | |
Sorten ins Haus, die im Archiv noch nicht vorhanden sind. Auf die meisten | |
aber stößt Schick in einschlägigen Foren in den sozialen Medien. Im Übrigen | |
vertreibe er die Jungpflanzen und die Samen immer mit dem Zusatz | |
„Zierpflanze“. Keine dieser Sorten, auch nicht die ganz alten, besäßen ei… | |
EU-Zulassung als Lebensmittel. Die Debatte um [4][das | |
EU-Saatgutverkehrsrecht] erspart sich Schick an dieser Stelle. | |
Öffentlichkeitsarbeit: Er redet lieber über seinen legendären Auftritt in | |
Palermo bei einem Wettbewerb. „Ich hatte ja gehofft, dort auf mir | |
unbekannte Sorten zu stoßen.“ Italien, Sonne, Tomate, ein idealer | |
Gleichklang – dachte er zumindest. Wie Schick erzählt, räumte er dann | |
gleich zwei Preise ab: den für Vielfalt und den für den besten Kontakt zum | |
Publikum. Dafür hatte er, der Tedesco, ein paar Sätze auf Italienisch | |
eingeübt mit Kernaussagen seiner Vorgehensweise, die er noch heute | |
runterrattern kann. Und wie immer bei diesen Gelegenheiten sein legendäres | |
Rondell mitgebracht, bestückt mit Hunderten verschiedener Tomatensorten. | |
Nach neuen Sorten hielt er dann aber vergeblich Ausschau. | |
Tomatenvielfalt: Alle Sorten in seinem Sortiment sind samenfest. Das | |
unterscheidet sie von den Hybridsorten, wie sie Schicks Beobachtungen | |
zufolge heute das Geschehen in Handel und Gärtnereien dominierten. Allein | |
samenfeste Sorten würden garantieren, dass über Samen gezüchtete Nachkommen | |
erneut die gleichen Eigenschaften aufweisen wie deren Stammpflanzen. Diese | |
wiesen eine bessere Anpassungsfähigkeit an klimatische Veränderungen auf. | |
Und eine vielfältigere genetische Basis bedeute eine größere Resistenz | |
gegen Krankheiten. Nicht alle alten Sorten sind zugleich | |
„Geschmacksbomben“, nicht alle Hybridsorten nicht mehr als „schnittfestes | |
Wasser“, räumt auch Schick ein. „Reichhaltig in Form, Farbe, Geschmack und | |
Konsistenz“ aber würden die Tomaten mit samenfesten Sorten und der Lust am | |
Ausprobieren. Die roten Tomaten, sagt er, tendierten meist ins Säuerliche, | |
die grünen, gelben, orangen und braunen, auch die grün-gelb gestreiften | |
hingegen eher ins Süßliche. Er reicht eine grüne mit braunen Flecken. | |
Fäule? „Nein, voll reif.“ Er erkennt es selbst erst durch vorsichtiges | |
Drücken. | |
Der Einfluss der Mutter: Wie er zu den Tomaten kam, dafür gibt es zwei | |
Schlüsselerlebnisse. Der Vater war Eisenbahner, die Mutter Hausfrau und | |
begeisterte Gärtnerin. Von ihr hat Schick, der zusammen mit zehn | |
Geschwistern, mit Hühnern und sporadisch auch einem Hausschwein | |
aufgewachsen ist, diese Passion. „Ich hatte schon mit fünf Jahren ein | |
eigenes kleines Gärtlein gehabt.“ Damals bereits sei in ihm der | |
Berufswunsch des Gärtners gereift. Nach dem Umweg übers | |
Wirtschaftsgymnasium folgte eine Lehre, später der Meisterbrief. Zehn Jahre | |
war er danach in kommunalen Diensten in Pliezhausen bei Reutlingen. „Ich | |
hatte freie Hand.“ Schick nutzte das, um Blumenwiesen anzulegen, damals | |
eine Pioniertat. | |
Schicksal: Dann traf ihn mit dem Tod der ersten Ehefrau ein | |
Schicksalsschlag, der ihn zum Eintritt in die Landschaftsbaufirma des | |
Bruders in der alten Heimat bewog. Die beiden Kinder, damals eins und vier, | |
wurden dort im Kreis der Familie aufgefangen. Dort dann, und das war das | |
zweite Schlüsselerlebnis, sah er eine Anzeige im Amtsblatt: Wer Interesse | |
an besonderen Tomatensorten hat, solle sich nächsten Freitag auf dem und | |
dem Hof einfinden. Der Andrang habe ihn überrascht, die Auswahl ebenso. Der | |
Besuch wurde zum Keim seines späteren Geschäftsmodells, das er – bereits | |
aus der Selbstständigkeit als Naturgartenbauer heraus – entwickelt hat. | |
Alles Tomate! | |
Mehr Schicksal: Das zweite Glück begann damit, dass er eines Tages seiner | |
Nachbarin eine Schüssel Äpfel schenkte: „Berner Rosenapfel“, alte Sorte, | |
wisse er noch genau. Zwei Tage später revanchierte sie sich mit einem | |
Apfelkuchen. Es folgte ein Grillfest. 1993 heirateten die beiden.Das Glück: | |
Ob man ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen dürfe? Aber ja doch, | |
lautet die Antwort, „ich bin ja Gärtner“. Aber da durchlebe man doch auch | |
schwierige Zeiten, oder? Schon, meint Schick, „aber wenn mal etwas | |
kaputtgeht, entsteht daraus immer etwas Neues.“ Und was die Vielfalt | |
betrifft, so bedeute sie doch auch, viele Sorten gerettet zu haben, die | |
sonst vielleicht verschwunden wären. | |
6 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Vogel | |
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