# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie liebte das Leben der Nacht | |
> Elisabeth Schmidt liebte die Kreuzberger Nächte. Doch mittlerweile umgibt | |
> sie sich lieber mit Dingen als mit Menschen. Auch die erzählen | |
> Geschichten. | |
Bild: Elisabeth Schmidt in ihrer Kreuzberger Wohnung, die eigentlich ein Museum… | |
Wer an Leute denkt, die den legendären Kreuzberger Nächten ihren Stempel | |
aufdrückten, sollte unbedingt Elisabeth Schmidt kennen lernen. | |
Draußen: Sie wohnt in einer Seitenstraße in Berlin-Kreuzberg. Die Straße | |
hat im Krieg gelitten; bis heute klaffen Lücken in den Häuserzeilen. Das | |
Haus von Elisabeth Schmidt aber wurde wieder aufgebaut. Bei der letzten | |
Sanierung erhielt es einen pastellfarbenen Verputz. Es gibt Stuck an der | |
Wand, einen kleinen Laden im Erdgeschoss, Giebel über den Fenstern im | |
ersten Stock und bärtige Gesichter an den Wänden der Beletage. | |
Drinnen: Es ist nicht einfach nur eine Drei-Zimmer-Altbauwohnung mit vor | |
Jahrzehnten abgeschliffenen Dielen, zwei Zimmern mit Blick auf die | |
aufgehende Sonne und einem Balkon vor der Küche, auf den die milde | |
Abendsonne fällt. Es ist auch mehr als nur eine Ansammlung alter Vertikos, | |
Schränke oder Tische, kontrastiert durch ein Hochbett aus groben Balken, | |
das aus Westberliner WG-Zeiten stammen muss. Die Wohnung ist ein Museum. | |
Flohmarkt: 35 Jahre lang gab es für Elisabeth Schmidt keinen Sonntag, an | |
dem sie nicht auf dem Flohmarkt am 17. Juni gewesen wäre und irgendein | |
Kleinod mitgebracht hätte. Theaterpuppen einer holländischen Künstlerin | |
sitzen auf einem Regal, auf einem Sekretär liegt das zu Schmuck mutierte | |
Tafelsilber von Armin Groß. Und Walter Rühle, „Politologiestudent im 185. | |
Semester und natürlich Taxifahrer“, hat in einem kleinen Schaukasten mit | |
winzigen Modellautos das Stillleben eines spektakulären Verkehrsunfalls vor | |
dem „Yorckschlösschen“ rekonstruiert. Zu jedem dieser Kunstwerke kann Liz | |
Schmidt eine Geschichte erzählen. | |
Heiratsantrag: Die meisten Geschichten handeln von Männern. Schmidt hat | |
viele kennengelernt. „Die waren alle hinter mir her. Aber ich habe nie | |
einen Heiratsantrag bekommen.“ Obwohl, das stimme nicht ganz. Einmal, als | |
sie in einer Buchhandlung arbeitete, bediente sie einen jungen Mann, | |
Maximilian Rüthlein, der genau wie Klaus Kinski gesprochen hat. „Der rollte | |
das R so dramatisch.“ Aus einem Grund, den Schmidt nicht mehr weiß, gab sie | |
ihm ihre Adresse. „Ich wohnte in der Winterfeldtstraße 48, vierte Etage, | |
Gartenhaus, es klingelt an der Wohnungstür, ich mache auf, vor mir steht | |
Maximilian Rüthlein mit einem großen Blumenstrauß und fragt: ‚Fräulein | |
Schmidt, wollen Sie mich heiraten?‘ – Und ich sag’: ‚Aber ich kenne Sie | |
doch noch gar nicht.‘ Und er daraufhin: ‚Ach, macht nix, dann heirate ich | |
eben meine Freundin Renate!‘“ Das hat er auch getan. Mit Renate ist Liz | |
Schmidt übrigens bis zum heutigen Tag befreundet. | |
Seufzen: „So war das mit den Männern!“ Jetzt sitzt sie auf dem Sofa, | |
nachdenklich, und betrachtet die vielen Vasen und die Döschen in der | |
Vitrine: „Wer braucht schon 63 Glasvasen und wer 123 Döschen?“ | |
Krieg: Auf dem Sofa lässt es sich gut über das Leben nachdenken Das von Liz | |
Schmidt begann in Breslau, ein Jahr vor dem Krieg. „Du hast ausgesehen wie | |
eine verschrumpelte Orange“, erinnerte sich die Mutter an den Tag ihrer | |
Geburt. Als der Arzt an ihr Bett getreten sei und sagte: „Gnädige Frau, sie | |
haben eine Tochter“, soll die Mutter geantwortet haben: „Die können Sie | |
behalten!“ So hat es ihr die Mutter erzählt, „das schwöre ich bei Clara | |
Zetkin!“ | |
London: Die Mutter traute ihrer Tochter nichts zu, der Vater blieb im | |
Krieg. Aber die Tochter machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und ging | |
nach London. „Das war mutig, damals, 1959, nach London, mit seinen da schon | |
acht Millionen Einwohnern. Ich war 21 und sprach kein Wort Englisch.“ Aber | |
das Fräulein Schmidt schlug sich durch, arbeitete tagsüber im Krankenhaus | |
und durchtanzte die Nächte in Soho. | |
Genf: Zwei Jahre später traf sie in Genf ein, wo sie Tage damit zubrachte, | |
die korrekten Anreden für die Herren in den hohen Ämtern auswendig zu | |
lernen, mit denen sie auf der persischen Botschaft zu tun hatte. Ein Jahr | |
war sie das „Mädchen für alles“, und weil alle im Haus sie mochten, | |
schenkte man ihr drei Goldmünzen mit dem Konterfei des Schahs von Persien, | |
die sie einschmelzen und zu tragbarem Schmuck umarbeiten ließ. | |
Hamburg: 1962 kam Schmidt nach Hamburg, wo sie sich in den Neffen von | |
Albert Speer verliebte und [1][die Beatles in ihrem kleinen Zimmer über dem | |
„Top Ten“] besuchte, „die da jeden Abend herumklampften. Das kann man sich | |
gar nicht vorstellen, wie die gehaust haben, so ein kleines Zimmer mit | |
Doppelstockbetten.“ Sie war öfter oben bei den Liverpoolern, weil sie so | |
gut Englisch sprach. Und weil sie ein „ganz attraktives Blondchen“ war. | |
Berlin: Aber Hamburg gefiel ihr nicht. „Als ich im Bus fragte, ob jemand | |
wisse, wie man nach Eppendorf kommt, sagte keiner einen Ton.“ Schweigen. Da | |
war Berlin anders. „Da fuhren ja 1963 noch die Doppeldecker mit der | |
Plattform rum, und als ich mit meinen Stöckelschuhen hinter so einem Bus | |
herlaufe, ruft der Schaffner gleich: Jetzt komm schon ruff, du Suppenhuhn.“ | |
Sie fühlte sich augenblicklich wohl in dieser Stadt mit den Leuten, die | |
redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. | |
Milieu: Ihre erste Wohnung war die in der Winterfeldtstraße, nicht weit von | |
den Stripteaselokalen. Das konnte sie der Mutter nicht erzählen. „Also | |
sagte ich, dass ich am Ende der Martin-Luther-Straße wohnte, das hörte sich | |
schon besser an.“ Auch von den Studenten erzählte sie nicht viel. Aber | |
„seit dem 2. Juni 1967, [2][als sie Benno Ohnesorg erschossen haben] – das | |
habe ich vom Fenster aus gesehen – bin ich ein politischer Mensch“. | |
Protest: In Berlin ließ Schmidt keine Demo aus, lernte Ulrike Meinhof | |
kennen, wurde Mitglied bei der SEW, dem Westableger der DDR-Staatspartei, | |
und 1989 Landtagsabgeordnete für die PDS, die heute Die Linke heißt, „Ich | |
war eine von drei Wessis, alle andern waren Ossis.“ Als sich sämtliche | |
Leute bei der PDS ein Westauto kauften, holte sie sich einen lilafarbenen | |
Trabbi, mit dem sie später die Parade des Christopher Street Day anführte. | |
Feierabendvergnügen: Die Abende verbrachte Schmidt oft in Kreuzberger | |
Kneipen wie der „Nulpe“ oder dem „Leierkasten“. Und „dieses Lokal in … | |
Gneisenaustraße, da hatten sie mal falschen Wein eingekauft, und weil ich | |
kein Bier trinke, fragten die mich, ob ich die Kiste nicht kaufen wolle“. | |
Sie bezahlte, ließ die Kiste dort und sagte abends immer: „Bitte eine von | |
meinen Flaschen.“ Verwunderten Gästen erzählte Kurt, der Wirt, sie hätte | |
einen eigenen Weinberg. Als die Kiste ausgetrunken war, sollen die anderen | |
Gäste gefragt haben, weshalb sie keinen Sekt mehr trank. „Kurt sagte, ich | |
sei leider enterbt worden.“ | |
Bekanntschaften: Der Maler Kurt Mühlenhaupt war ihr ständiger Begleiter. | |
Und so verliebte sich eine von ihren Freundinnen mal in einen von | |
Mühlenhaupts Freunden. Todunglücklich, abends im „Leierkasten“, war die | |
Freundin nur noch am Heulen. Der Kellner soll immer gerufen haben „Sauft, | |
Leute sauft!“, und als die Freundinnen genug gesoffen hatten, beschlossen | |
sie, ausgerüstet mit einer Trommel, vor die Wohnung des Mühlenhauptfreundes | |
zu ziehen und die Internationale anzustimmen: „Völker, hört die Signale …… | |
Weil aber der Liebhaber gleich an der Mauer wohnte, ging oben ein Fenster | |
auf und eine Frau schrie: Ernst, ruf schnell die Polizei, jetzt kommen sie | |
über die Mauer!“ Am nächsten Morgen stand in der Morgenpost, dass | |
aufgeregte Bürger in Kreuzberg die Polizei alarmiert hatten, weil sie | |
dachten, die DDR hätte zum Sturm auf Westberlin geblasen. | |
Schmidt: Die Nächte waren lang in Kreuzberg. „Kürzlich habe ich ein altes | |
Tagebuch gefunden aus den Siebzigern. 365 Eintragungen, von den 365 Nächten | |
bin ich nur 62 zu Hause gewesen.“ Das ist heute anders. Elisabeth Schmidt | |
sitzt auf dem Sofa und blickt auf die Glassammlung. „Meine Schwester hat | |
zehn Heiratsanträge bekommen. Ich nur einen. Und als sie sich mit Günter | |
von Lonski verheiratete, angeblich baltischer Adel, da sah mich meine | |
Mutter so schräg von der Seite an: Und du heißt immer noch Schmidt!“ | |
15 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Hans Korfmann | |
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