# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie ist fischverrückt | |
> Schule war nicht ihr Ding, arbeiten schon eher. Und gutes Essen. Am | |
> Tegernsee wurde Flora Engel zur Fischwirtin, nun wohnt sie wieder in | |
> Hamburg. | |
Bild: Sie kennt sich mit Speisefischen aus: Flora Engel | |
Mal feiert sie Partys bis spät in die Nacht, mal treibt es sie in aller | |
Herrgottsfrühe raus aus den Federn und sie geht zum Fischen. Flora Engel | |
lebt ihr Leben am liebsten abwechslungsreich. | |
Draußen: Wenn sie das Haus verlässt, blickt Flora Engel links auf den | |
Michel und rechts auf die Elbe, den Hafen, die Containerschiffe, den | |
Fischmarkt. Hamburg. Die Touristinnen und Touristen nimmt sie nicht | |
wirklich wahr. „Der Lärm hat mir nie etwas ausgemacht, ich fand das immer | |
spannend. Vom Balkon aus ein Jan-Delay-Konzert hören können, das ist doch | |
cool.“ | |
Drinnen: Im Flur steht ein großer Tisch, an dem sie, ihr Freund und ihre | |
Eltern abends gerne beisammensitzen; an den Wänden überall Schränke und | |
Regale, in denen sich Bücher stapeln. Es ist anheimelnd, auch wegen des | |
Dufts, der aus der Küche strömt: Heute ist ein freier Tag, und Engel hat | |
eine Kürbissuppe gekocht und eine Apfel-Birnen-Tarte gebacken. Essen und | |
Kochen spielen in ihrem Leben eine große Rolle. „Das ist etwas, was mir | |
meine Eltern mitgegeben haben, das war ihnen wichtig.“ Vor einigen Monaten | |
ist sie zurück in die elterliche Wohnung gezogen, übergangsweise. „Wieder | |
mehr Zeit mit meiner Familie verbringen zu können, das genieße ich gerade | |
sehr.“ | |
Altona: Die Kindheit in Altona prägt sie. „Ich bin in einem | |
multikulturellen Umfeld aufgewachsen, weltoffen und divers. Hier sind schon | |
immer interessante Leute unterwegs. Als Kind ist man ja vorurteilsfrei.“ | |
Wenn ihr das Stadtleben zu viel wird, kann sie zu ihrer Oma, die direkt am | |
Wald wohnt, in einem Haus mit großem Garten und Teich. Auch wenn es am | |
Fischmarkt wegen Großveranstaltungen zu laut wird, flieht die Familie übers | |
Wochenende zur Oma an den Stadtrand. „So habe ich irgendwie beides gehabt, | |
Stadt und Land, das war toll.“ | |
Zuneigung: Als Kind hält Flora Engel in der Stadtwohnung Haustiere. | |
Meerschweinchen, Papageien, Gottesanbeterinnen, Hamster gehören zeitweise | |
zur Familie. Als sie größer wird, kommt der Windhund Gizmo dazu. Engel ist | |
Einzelkind, bekommt viel Aufmerksamkeit von der Familie. „An Liebe hat es | |
mir nie gemangelt.“ | |
Schulzeit: Die Grundschule macht ihr noch Spaß, gemeinsam mit | |
Klassenkamerad:innen kann sie zu Fuß zur Louise-Schroeder-Schule um | |
die Ecke gehen. Das Gymnasium sucht sie sich dann nach der Optik aus. | |
„Irgendwie war mir das wichtig, ganz schön versnobt. Meine Schule war hell, | |
ein Altbau, hohe Decken, davor wuchsen Rosen.“ Als Kind liest sie viel, | |
kann sich gut ausdrücken. „Außerdem komme ich aus einem kreativen | |
Elternhaus, damit konnte ich lange viel kompensieren. Trotzdem war Schule | |
nie wirklich mein Ding. Ich fand das unnötig, ich habe keinen Sinn darin | |
gesehen, mich anzustrengen, mir sind immer andere Sachen eingefallen.“ Mach | |
die mittlere Reife und danach eine Ausbildung, sagen ihre Eltern immer | |
wieder. „Von zu Hause hatte ich gar keinen Druck, aber das Abi wollte ich | |
unbedingt.“ Als Flora Engel es in der Tasche hat, ist sie froh, dass diese | |
Zeit vorbei ist. | |
Jobben: Schon mit elf Jahren fängt sie an, sich Geld dazuzuverdienen, mit | |
Babysitten bei den Nachbarn. Als Teenager arbeitet sie als Hostess, im | |
Fußballstadion und bei den German Open, bei Fernsehproduktionen wie „Markus | |
Lanz“ oder der „Küchenschlacht“, kellnert in Hotels. Sie kann hinter die | |
Kulissen gucken, in Küchen schauen. „Das hat mir unheimlichen Spaß gemacht | |
und ich habe gemerkt, dass ich Bock drauf habe, was zu leisten. Ich habe | |
das gut gemacht und daraus viel Selbstbewusstsein gezogen.“ Für Unternehmen | |
zu arbeiten, die Rang und Namen haben, findet sie toll. Sie habe in dieser | |
Zeit Gelnägel getragen, falsche Wimpern und blondierte Haare, erzählt sie. | |
Heute ist sie ungeschminkt, trägt einen dicken Wollpullover. | |
Auslandserfahrung: Nach dem Abi will Flora Engel als Au-pair arbeiten. | |
„England fiel für mich aus, ich hatte von meinem Schulaustausch ein | |
Trauma, dort gab es Käse aus der Tube, und alles war frittiert.“ Sie | |
entscheidet sich für Mailand. „In Italien ist die Küche gut, dachte ich. | |
Und ich hatte Lust, Italienisch zu lernen.“ In Mailand geht sie auf viele | |
Partys, trinkt Champagner, isst Kaviar und weiße Trüffel. „Was ich da | |
erlebt habe, war surreal, das war eine andere Welt.“ Sechs Monate hat sie | |
dort eine gute Zeit, ein Jahr wird ihr dann aber doch zu lang: Weihnachten | |
ist sie mit Sack und Pack zurück in Hamburg. | |
Irgendwas mit Essen: Wieder bei den Eltern braucht sie schnell einen Plan. | |
Engel weiß nur so viel: Ihr Beruf soll mit Essen zu tun haben. Köchin | |
konnte sie sie sich vorstellen oder Hotelfachfrau, aber die totale | |
Begeisterung bleibt aus. Auf Instagram schwappt ihr inzwischen fast nur | |
noch Essen in die Timeline, besonders eine Seefoodplatte mit | |
Riesenlangusten aus einem hochpreisigen Restaurant am Tegernsee hat es ihr | |
angetan. Engel zeigt das Foto ihrer Mutter, fragt, ob man dort nicht mal | |
essen gehen könne. „Wenn du das so toll findest, dann arbeite doch da“, | |
entgegnet die. Die Tochter nimmt die Idee ernst und bewirbt sich für ein | |
Praktikum in der hauseigenen Fischerei. Eine Woche später ist sie schon am | |
Tegernsee, einen Monat später beginnt ihre Ausbildung – [1][zur | |
Fischwirtin]. | |
Bayern: Im Betrieb wird Flora Engel herzlich aufgenommen. Obwohl sie | |
Bairisch am Anfang kaum versteht, fühlt sie sie sofort willkommen. Man | |
vermittelt ihr eine Ferienwohnung, holt sie sogar morgens ab. „Der Ton ist | |
im tiefsten Bayern natürlich ein anderer als bei uns am Fischmarkt, alles | |
ein bisschen derber und konservativer, aber das war okay.“ Sie sei kein | |
Heimwehtyp, sagt sie. „Ich weiß ja, dass es ein Zuhause gibt, zu dem ich | |
immer zurückkommen kann.“ Die Idylle am See beschreibt sie als kitschig, im | |
positiven Sinne. „Es war immer wie in einer Vorabendserie, im Sommer mit | |
der Bergkulisse, im Winter der hohe Schnee. Es war alles so unwirklich | |
schön. Hier am Hafen ist es auch schön, aber anders schön.“ | |
Früher Vogel: Mit den Händen arbeiten, alleine auf den See raus, das sei | |
sofort ihr Ding gewesen, schwärmt sie. „In der Natur sein, den Körper | |
fordern und gleichzeitig der Kontakt mit frischen Lebensmitteln, das war | |
perfekt.“ Morgens steht sie um vier Uhr auf, spätestens um halb sechs ist | |
sie bei der Arbeit. In der Bootshütte schlüpft sie in die Gummihose und | |
die Gummistiefel, meist trägt sie mehrere Lagen übereinander, weil es | |
kalt und windig auf dem Boot ist. „Wir haben Netze ausgeworfen oder | |
Tiere aus Aquakulturen geholt.“ Die erste Amtshandlung am Tag besteht | |
oft darin, die Fische, die über Nacht in einer Salzlake eingelegt waren, | |
zu waschen, danach kommen sie in den Räucherofen. „Die müssen gegen | |
acht oder neun fertig sein, damit die Kund:innen warmen Räucherfisch vom | |
selben Tag bekommen, das war unser Anspruch.“ Dann wird der Laden | |
geschrubbt und die Theke bestückt. Fische ausnehmen und filetieren, das | |
passiert alles mit der Hand. „Ich hatte vorher noch nie ein Tier getötet. | |
Ich fand es nicht schön, aber auch nicht schlimm. Wenn ich das Tier essen | |
will, dann muss ich es auch töten können. Das finde ich logisch.“ | |
Zurück in die Schule: In Flora Engels Berufschulklasse sind 30 | |
Schüler:innen. Sie habe dort viele Freund:innen gefunden, sagt sie, auch | |
alles Fischverrückte. Die kommen aus dem Süden Deutschlands, Österreich und | |
der Schweiz; viele von ihnen hatten Eltern mit einer Fischzucht. Bei der | |
Familie eines Klassenkameraden macht Engel ein Praktikum in deren | |
Störzucht. „Das war super spannend. Es gibt mehr als zwanzig verschiedene | |
Störarten. Die setzen erst sehr spät Eier an, aus denen dann der Kaviar | |
gemacht wird. Das kann bis zu fünfzehn Jahre dauern, deshalb ist Kaviar so | |
teuer.“ Eine Zeit lang hält sie sogar einen Stör als Haustier. Die | |
Schulwochen verbringen die Auszubildenden gemeinsam in einem Internat in | |
Starnberg. Sie sind eine tolle Gemeinschaft – die Freund:innen aus dem | |
Süden fehlen Flora Engel nun in Hamburg. | |
Amore: Ganz am Anfang ihrer Zeit am Tegernsee lernt sie ihren Freund Julius | |
kennen; er war schon mit der Ausbildung fertig, bevor sie begann. | |
„Eigentlich wollte ich da nichts vermischen, aber dann haben wir uns über | |
einen Freund wiedergetroffen und eins kam zum anderen.“ Eins der ersten | |
Dates: Schwammerln suchen. Bald bringt er ihr auch das Fliegenfischen bei. | |
„Julius ist ein noch größerer Nerd als ich“, sagt Flora Engel. „Bei uns | |
[2][dreht sich schon ziemlich viel um Fisch].“ | |
Ausblick: So sehr sie das Leben in Bayern genossen hat, für Engel war | |
schnell klar, dass sie eines Tages zurück in den Norden will. Ihr | |
Ausbildungsbetrieb hat sich auf das Luxussegment fokussiert, vor allem an | |
Feiertagen brannte die Hütte und Engel musste arbeiten. „Hummer, Austern, | |
Kaviar, so was wird dort dann sehr viel verkauft.“ Während der Ausbildung | |
konnte sie immer erst nach Neujahr in den Norden. In diesem Oktober hat | |
Flora Engel nun angefangen, Betriebswirtschaft und Foodmanagement zu | |
studieren. Im Wechsel ist sie jeweils drei Monate bei einer Kette für | |
hochwertige Lebensmittel in Hamburg und in Heilbronn bei ihrer Hochschule. | |
Und auch Julius arbeitet bei einem Fischhändler außerhalb von Hamburg, er | |
hat gerade seine Ausbildung zum Fischwirt-Meister begonnen. Bis die beiden | |
eine Wohnung gefunden haben, wohnen sie gemeinsam bei Flora Engels Eltern. | |
Und das klappt gut, finden sowohl die Eltern als auch die „Kinder“. | |
3 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lea Schulze | |
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