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# taz.de -- Zurück zum Konkreten: Freiheitskampf der Penistomate
> Es ist gefährlich, die Missstände der Welt zu personalisieren – das weiß
> auch unser Kolumnist. Aber man kann es mit der Abstraktion auch
> übertreiben.
Bild: Von wegen rund und rot: Tomaten in all ihrer Pracht und Herrlichkeit
Manchmal stolpert man über Wörter von früher und wundert sich, weil sie
einem plötzlich als Fremdsprache begegnen. Über mein einstiges
Lieblingswort „hitzefrei“ etwa hatte ich 20 Jahre nicht nachgedacht, bis
ich selbst Kinder in der Schule hatte. Oder vielmehr, bis sie plötzlich im
Homeoffice randalierten, weil die Schule mal wieder temperaturbedingt
ausfiel. „Inzidenz“ ist auch so ein Dauerwort von neulich, das mir schon
wieder fremd wurde. Das vielleicht beste Beispiel ist „Konkretionswahn“.
Wir haben das Wort früher sehr viel gebraucht. Es war nützlich, um einen
Zustand benennen zu können, der mir und vielen meiner Freund:innen so
allgegenwärtig wie begriffslos um die Ohren flog. Es beschreibt den
gefährlichen Denkfehler, die abstrakten Zwänge und Gemeinheiten des
Kapitalismus zu personalisieren. Irgendwann merkt man das und versucht dann
möglichst, es zu lassen. Oder man begreift, dass es sich dabei um keine
private Blödheit handelt, sondern um die ideologische Basis weiter Teile
des eigenen Umfelds. Und wenn man dann noch bei zum Beispiel Gerhard Scheit
liest, wie schnell diese geistigen Kurzschlüsse [1][beim Antisemitismus
landen,] ist das schon ein guter Grund, das Wort „Konkretionswahn“ oft zu
benutzen.
Dass es mir gestern beim beiläufigen Lesen erst nach Jahren wieder begegnet
ist, hat nichts damit zu tun, dass die Sache nicht mehr stimmen würde. Ich
habe nur erstens – wie an dieser Stelle [2][neulich schon erwähnt] – beim
Umzug aufs Land die Theoriezirkel nicht mitnehmen können. Und zweitens
hatte ich zuletzt auch eher mit Leuten zu tun, denen gerade das Abstrakte
zu Kopf gestiegen war. Mit Leuten, die sich dermaßen auf die
Bewegungsgesetze der garstigen Welt fokussieren, dass sie konkrete
Missstände und Ausbeuter:innen gar nicht mehr erkennen, wenn sie ihnen
direkt gegenüberstehen. Selbst die schlimmsten Schurk:innen gehen dann
irgendwann auf in einer wabernden Idee: als willen- und schuldlose Agenten
der Gesamtscheiße. Was ja auch gar nicht falsch ist, aber eben nur die
halbe Geschichte.
Eigentlich wollte ich hier gar nicht davon anfangen. Weil das eben keine
Geschichte zwischen Stadt und Land zu sein schien, denen [3][dieser Platz]
ja nun gewidmet ist. Aber jetzt wurde mir klar: Es ist doch eine.
Aufgefallen ist mir das bei einem Gärtner um die Ecke, bei dem es
Tomatenpflanzen zu kaufen gibt, deren Früchte man nicht essen darf. Das
steht jedenfalls drauf. Sie sind gelabelt als „Zierpflanzen“ oder
„Sammlerobjekte“. Der auf einem Aushang wortreich verfluchte Hintergrund
ist, dass diese vorwiegend alten Sorten keine Zulassung haben. So was zu
besorgen, heißt es, sei für einzelne Pflanzen kaum zu bewerkstelligen. Auf
diesem Hof stehen Hunderte in zwei Gewächshäusern.
Statt Zulassung haben die Tomaten immerhin tolle Namen: „Rebel Starfighter
Prime“ heißt eine dunkelrote Salattomate, die Flaschentomate aus der DDR
daneben „Alter Kommunist“. Eine Fleischtomate „RAF“ gibt’s auch – u…
persönliches Lieblingsexemplar: die „Penistomate“. Wie gesagt: Alles nicht
zum Verzehr geeignet, aber sehr lecker.
Meine Nachbarschaft kennt diesen Laden seit Jahren gut und weiß neben den
Pflanzen auch die Kritik durchaus zu schätzen. Man schlägt sich hier
draußen öfter mit so was rum. Meine Freund:innen aus der Stadt hingegen
sind aus allen Wolken gefallen. Manche wurden richtig sauer, was „denen“
denn einfällt, einem so ans Gemüse zu gehen. Die Aufregung ist groß,
plötzlich will man Open-Source-Tomaten kaufen und Petitionen zeichnen. Und
mir selbst geht’s da übrigens auch nicht anders.
Dabei ist nichts davon neu. Über Hybridsaat, Wettbewerbsdruck, Welthunger
und eben die Bewegungsgesetze des Kapitals ist alles gesagt. Und trotzdem
tut sie irgendwie ganz gut, diese konkrete Erfahrung eines – im Weltmaßstab
– vielleicht doch eher nebensächlichen Problemchens.
11 May 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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