| # taz.de -- Brandenburger Tomaten in Berlin: Reif und fruchtig | |
| > Den Geschmack schärfen mit Tomaten, als Werbung für kleinbäuerische | |
| > Vielfalt: In Friedenau wird zu einer Verkostung der Paradiesäpfel | |
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| Bild: Topfrucht, die Tomate von Horst Siegeris | |
| Horst Siegeris sieht rot – tomatenrot. Auf seinem Obsthof im | |
| brandenburgischen Glindow steht das Lieblingsgemüse der Deutschen jetzt in | |
| vollem Wuchs. „Anfang Juli hat die Saison begonnen und sie wird bis in den | |
| September dauern“, sagt der erfahrene Obst- und Gemüsebauer. Mit der | |
| heutigen Ernte ist Siegeris sehr zufrieden. Menschhoch stapeln sich hinter | |
| ihm die grünen Transportkisten, die am nächsten Tag auf den Wochenmarkt in | |
| Berlin gehen. Die frische Ware aus der Werder-Region ist begehrt. Aber eins | |
| ist anders in diesem Jahr: Erstmals wird Siegeris seine Tomaten in ihrer | |
| Formen- und Geschmacksvielfalt nicht nur marktschreierisch im Rohzustand | |
| verkaufen, sondern sie jetzt am Samstag in einem benachbarten Restaurant | |
| auch zur Verköstigung anbieten. Der Bauer und Händler gibt den | |
| Tomaten-Sommelier. Das Motto der Aktion: „Tomaten lieben Sonnenschein“. | |
| Von seinem Obstshof am Ufer des Glindower Sees kann Horst Siegeris bis zu | |
| den Alpen blicken. So wird die kleine Erhebung der eiszeitlichen Endmoräne | |
| genannt. Das Mikroklima ist günstig für den Obst- und Gemüsebau. Äpfel, | |
| Tomaten und Salate sind die Hauptprodukte, die der Familienbetrieb hier | |
| anbaut, auch Kirschen, Pflaumen, Gurken, Weiß- und Grünkohl, Küchenkräuter | |
| sowieso. „Naturnaher Anbau“ nennt Siegeris seine Methode. Damit zählt er | |
| nicht zu den zertifizierten Biobetrieben, die vollständig auf Pestizide und | |
| „chemische Keulen“ verzichten. „Im Notfall muss ich spritzen, denn die Wa… | |
| muss verkaufbar sein.“ Gegen andere Notfälle ist er machtlos. Eine | |
| Frostnacht im April zur Baumblüte hat den Großteil der Apfelernte ruiniert. | |
| Auch die Kirschbäume schwächeln. | |
| Aber die Tomaten werden es reißen, gedüngt mit Pferdemist. Schon zu | |
| DDR-Zeiten, als das Areal der Siegeris-Farm zu einer Landwirtschaftlichen | |
| Produktionsgenossenschaft gehörte, wurden Tomaten in der Region führend | |
| angebaut – aber als sozialistische Einheitsware, die in der Ketchupflasche | |
| landete. Nach der Wende hat Siegeris in Eigenregie seine Tomatenliebe | |
| ausgebaut. Alle Sorten, derer er habhaft werden konnte, wurden in | |
| Keimbechern gezogen und in Treibhäusern als Stabtomaten hochgezogen. Kunden | |
| brachten Samen aus fernen Ländern mit, Israel, Russland, Karibik. Seine | |
| Zuchtliste mit weltläufigen Namen kommt auf über 110 Sorten. Auszug: Andine | |
| Corune, Hortelao, Moneymaker, Pera San Marzano, Tres Cantos oder Marglobe. | |
| An der Spitze rangiert die DDR-Züchtung Harzfeuer. | |
| Die verkauft sich am besten, „weil sie am tomatigsten schmeckt“, sagt | |
| Siegeris. Auch die Fleischtomaten Berner Rose und Ochsenherz liegen gut im | |
| Rennen. 70 Sorten hat Siegeris in diesem Jahren wieder angebaut. Basis für | |
| das samstägliche Geschmacksevent. | |
| ## Der ungekrönte Tomatenkönig | |
| Am Wochenmarkt in Friedenau ist der Verkaufsstand, den Horst Siegeris dort | |
| mit seinem Sohn Stephan im Schatten einer großen Linde betreibt, fester | |
| Anlaufpunkt für die Liebhaber des „Paradiesapfels“, wie die Tomate auch | |
| genannt wird. Seinen Stammkunden gilt Siegeris als der ungekrönte | |
| Tomatenkönig der Berliner Wochenmärkte. Die Kundenbindung entsteht, weil | |
| nicht nur Frischware abgewogen und verkauft wird. Sondern zu jeder Sorte | |
| hat Siegeris eine kleine Geschichte zur Herkunft parat oder wunschweise | |
| auch Zubereitungstipps für die Küche. Die direkte Kommunikation mit dem | |
| Kunden könnte das zentrale Geschäftsmodell der regionalen Wochenmärkte sei. | |
| Im letzten Wahlkampf mischte sich sogar Berlins Regierender Bürgermeister | |
| Michael Müller unter die Kundschaft und ließ sich mehrere Tomatensorten | |
| munden. „Piccolino war ihm zu süß“, erinnert sich Siegeris. | |
| Der Wochenmarkt am Breslauer Platz vor dem Rathaus Friedenau bezeichnet | |
| sich gerne als ältester seiner Art in Berlin (seit 1881), auch wenn der | |
| Markt in Pankow von sich das gleiche behauptet (seit 1857). „Das Geschäft | |
| auf den Wochenmärkten nimmt ab“, hat Siegeris über die Jahre festgestellt. | |
| Die Markthändler werden weniger, nicht zuletzt aus Altersgründen, und es | |
| kommt kein Nachwuchs nach. Auch die Auflagen durch die Behörden seien | |
| gestiegen. | |
| Der Brandenburger Obstbauer sieht aber auch rot, wenn er von seinem | |
| Marktstand zur Seite blickt. Am Straßeneck bietet ein Discounter seine Ware | |
| zu Billigpreisen an. An sich nicht schlimm, wären nicht mittlerweile auch | |
| Regale mit Biolebensmitteln dazu aufgestellt worden. „Das größte | |
| Biosortiment unter den Discountern“, wirbt der Billigheimer, der damit vor | |
| allem Kundschaft aus dem Segment der Biosupermärkte abwerben will, im | |
| Kollateralschaden aber auch die kleinen Straßenhändler trifft. | |
| ## Kulinarische Trumpfkarte | |
| In dieser Lage reifte in Siegeris die Idee, anstelle eines Preiskampfs, den | |
| er nur verlieren konnte, seine frischen Lebensmittel mit einem „Add-on“, | |
| mit einem Zusatznutzen anzureichern: der Trumpfkarte Kulinarik. | |
| Weiter hinten in der Schmargendorfer Straße befindet sich das | |
| Café-Restaurant Sonnenschein, betrieben von der ehemaligen Krankenschwester | |
| Christel Keller. Ihr Anliegen ist es, in dem Minilokal – das bei einem | |
| Gourmetwettbewerb mit ihrer Variante der Königsberger Klopse den | |
| respektablen zweiten Platz belegte – den deutschen Küchenklassikern ein | |
| Überleben zu ermöglichen. „Die geraten allmählich in Vergessenheit beim | |
| Vordringen von immer mehr Fastfood“, erklärt die Wirtin. Viele alte | |
| Berliner Gerichte stehen auf der Speisekarte der kleinen Kiezgaststätte. | |
| Und nun Tomaten. Mit seiner Idee einer Tomatenverkostung traf Horst | |
| Siegeris bei Christel Keller sofort ins Schwarze. Der Bauer und die Wirtin | |
| stellten einen Speisezettel zusammen, der mit vielen Variationen lockt. | |
| „Die Tomate ist ein wunderbares Gemüse, das sich sehr vielseitig zubereiten | |
| lässt“, sagt Gastwirtin Keller. Vom klassischen Tomatensalat mit Öl, Salz | |
| und Pfeffer, über deutsche Butterbrote und italienische Bruschetta, | |
| Spaghetti mit Tomatensauce, gefüllte Tomaten mit Hackfleisch oder Pizza mit | |
| Tomaten soll am Samstag kein Gaumenkitzel unbefriedigt bleiben. Grill, | |
| Musik und die Siegeris’schen Tomaten-Stories runden das Event ab. | |
| Mit dieser Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg will man nicht | |
| nur das Top-1-Gemüse feiern, sondern auch ein Stück Wirtschaftsförderung | |
| „von unten“ praktizieren. „Solche Kooperationen können das Überleben von | |
| uns Kleinen sichern“, zeigt sich Christel Keller zugleich | |
| experimentierfreudig und zuversichtlich. | |
| Tomatenverkostung: Restaurant Sonnenschein, Schmargendorfer Str. 33, | |
| Samstag, 10. August, 13 Uhr | |
| 9 Aug 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Manfred Ronzheimer | |
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