# taz.de -- Der Hausbesuch: An Land und auf See | |
> Die Nazis sind schuld, dass Walter Kaufmann ans andere Ende der Welt | |
> verschifft wurde. Dort wurde er Seefahrer, Hochzeitsfotograf und | |
> Kriegsreporter. | |
Bild: Wo Geschichte ist, sind Geschichten: Walter Kaufmann weiß das sehr genau | |
Wäre er eine Katze, hätte er sechs seiner sieben Leben aufgebraucht, sagt | |
der Schriftsteller. 96 Jahre ist er geworden. Als Jugendlicher floh er vor | |
den Nazis über England nach Australien. Als Seemann und als Reporter | |
bereiste er die Welt. Später lebte er in der DDR. Zu Besuch bei Walter | |
Kaufmann in Berlin-Mitte. | |
Draußen: Das Märkische Ufer mit Booten, die im Spreekanal vertäut sind, mit | |
Nebel und Regen. Das gelbe Licht der Laternen spiegelt sich im | |
Kopfsteinpflaster. Neben Altbauten stehen Plattenbauten. Im Hintergrund ist | |
der Fernsehturm. Dass seine Wohnung am historischen Hafen liege, sei „kein | |
Zufall“, sagt Walter Kaufmann. Er brauche des Wassers Nähe. | |
Drinnen: Sessel und Sofa sind aus dunklem Leder. Eine kleine Bibliothek im | |
Wohnzimmer gibt es und eine große in seinem Arbeitszimmer. „Viel zu viele | |
Bücher“, sagt er. An allen anderen Wänden hängen Bilder. Bilder, auf denen | |
Meere sind und Schiffe, kleine Straßen oder Gesichter. In einer Ecke stehen | |
zwei Menoren, auf dem Couchtisch Tee, Kaffee und Kuchen. | |
Zerstörung und Hoffnung: Walter Kaufmann kommt 1924 zur Welt und wächst in | |
Duisburg auf, bei einem wohlhabenden jüdischen Anwaltspaar – seinen | |
Adoptiveltern. Er habe eine erfüllte Kindheit gehabt bis 1933. Von da an | |
erlebt er immer mehr Schikanen. Klassenkameraden verschwinden aus der | |
Schule. Ab 1937 ist auch ihm der Schulbesuch untersagt. 1938 wird das Leben | |
der Familie endgültig zerstört: die Wohnung verwüstet, die Eltern | |
verschleppt und später im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. | |
„Ich schreibe dies nieder wie in Trance, ohne Erregung jetzt, beschreibe | |
die Zerstörung, die über uns kam, plötzlich, auf Befehl, und mit einer | |
solchen Wucht, daß es die ganze Zeit unwirklich schien – nicht faßbar. Und | |
dennoch habe ich Hoffnung. Das ist eine Ordnung, die wir zerstören – in | |
unseren Herzen, unserem Geist, zerstören sie durch unsere Art zu leben, zu | |
denken und zu handeln. Vielleicht wurde meine Hoffnung an jenem Novembertag | |
im Jahr 38 geboren. Ich habe sie bewahrt“, schrieb er darüber. | |
Exil: Am 19. Januar, dem Tag, als Walter Kaufmann 15 Jahre alt wird, | |
entkommt er mit einem Kindertransport nach England. „Das Einzige, was ich | |
hatte, war das, was ich an mir trug“, erinnert er sich. „Und ich konnte | |
nicht aufhören, an meine Eltern zu denken.“ Als „feindlicher Ausländer“ | |
wird er in London interniert und 1940 in ein Lager in Australien verschifft | |
mit 2.000 anderen Flüchtlingen. „Ich habe dort mehr gelernt als je auf | |
einer deutschen Schule“, sagt er. „Meine ersten Kontakte mit der Literatur | |
waren im Lager. Die Lehrer waren Universitätsprofessoren.“ | |
Er weiß da schon, dass er Schriftsteller werden will. Zunächst aber muss | |
der junge Emigrant der australischen Armee dienen und nach Ende des Krieges | |
fürs Überleben arbeiten – im Hafen von Sydney und auf Küstenschiffen, im | |
Schlachthaus, auf dem Feld, als Hochzeitsfotograf. „Alles, was ich | |
probiert habe, war mit dem Ziel verbunden, später mal darüber zu | |
schreiben“, sagt er. Auch deshalb trat er als Seemann in die australische | |
Handelsmarine ein. | |
Professor Picasso: „Wenn ich gesagt hätte, ich sei ein fantastischer | |
Seemann, hätte mir niemand geglaubt“, sagt Kaufmann. „Doch alle wussten, | |
dass ich auf dem Schiff bin, um darüber zu berichten. ‚Ach so, er | |
schreibt‘, sagten sie und ließen mich in Ruhe.“ An Bord muss er den | |
Schornstein anstreichen, deshalb nennt die Seemannschaft ihn „Picasso“. | |
Dank seiner Brille wird er zu „Professor Picasso“. | |
Der Autor: Mit dem Kollektiv „Melbourne Realist Writers Group“ verlegt | |
Kaufmann seine ersten Bücher. „Wir verkauften sie auch, verteilten Flyer, | |
lasen den Hafenarbeitern in der Mittagspause daraus vor“, erzählt er. In | |
seinem ersten Roman „Voices in the storm“, der 1953 in Melbourne erschien, | |
schildert er die Geschichte einer Widerstandsgruppe, die gegen Hitler | |
kämpft. Seitdem veröffentlicht Kaufmann alleine in deutscher Sprache mehr | |
als 40 Bücher. | |
Die Welt: Mit dem Schiff ist er in Rio de Janeiro, in Montevideo, in Kuba | |
zu Zeiten der Revolution. Er lernt in zwei Stunden Auto fahren, um Jeeps | |
auf ein Schiff zu verladen, und bekommt danach eine Fahrerlaubnis. An | |
Anekdoten sei er reich. Er hält sein Wort und schreibt diese Geschichten | |
nieder. Zum Beispiel in seinem letzten Buch: „Gibt es Dich noch – Enrico | |
Spoon?“ | |
Vor dem Elternhaus: „Ich kenne Sie nicht. Aber Ihre Mutter kam einmal | |
hierher und ich habe ihr feste Schuhe gegeben“, sagte 1953 die Frau durch | |
den Türspalt zu Kaufmann. Er hatte an der Tür seines Elternhauses in der | |
Prinz-Albrecht-Straße in Duisburg geklingelt. Nach 14 Jahren Exil ist er | |
das erste Mal wieder dort. „Ich wollte keine Wiedergutmachung und nichts | |
zurück.“ Die Familie konfrontieren, die, nachdem die Nazis seine Eltern und | |
ihn vertrieben hatten, dort einzog und bis heute dort wohnt, wollte er | |
schon. | |
Duisburg: An diese Heimatreise habe er nur beklemmende Erinnerungen. Alles | |
sei ihm bekannt gewesen und gleichzeitig fremd. „Dass du noch lebst!“, | |
sagten ihm Leute, die er von früher kannte. „Ich war wie ein Toter auf | |
Urlaub.“ Bekannte leugneten, je gewusst zu haben, was mit den Eltern | |
passiert sei. Und er erfährt, was er bis dahin nicht wusste: dass er | |
adoptiert worden war. Er sucht nach seiner leiblichen Mutter, einer | |
polnischen Jüdin, die in Berlin als Verkäuferin gelebt haben soll, findet | |
sie nicht und geht noch einmal zurück nach Australien, arbeitet als | |
Journalist. „Meine Vergangenheit verfolgte mich. Ich konnte, ich wollte das | |
nicht.“ | |
Kriegsreporter: „Auch als Reporter hatte ich Glück“, sagt Kaufmann. Er sei | |
immer da gewesen, „wo es brennt“. Er ist in den USA, als Kennedy ermordet | |
wird, und ebenso beim Tod von Martin Luther King. Später ist er beim | |
Prozess gegen die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis. Und viel später | |
ist er genau dann in New York, als die Flugzeuge in die Hochhäuser fliegen. | |
2001 war das. In anderen Kriegsgebieten war er auch. Als Reporter habe er | |
sich immer nur Stichwörter notiert. „Alles andere behielt ich hier“, sagt | |
er und tippt auf seine Schläfe. | |
Idealismus: 1955 zieht Kaufmann „aus Überzeugung“ in die DDR. Er zeigt ein | |
Foto, wie er ankam, mit seiner damaligen Frau. „Ich wollte erleben, wie das | |
sozialistische Experiment in Deutschland ist.“ Als Delegierter der | |
„Australian Seamans Union“ hatte er an den Weltfestspielen in Warschau | |
teilgenommen und dieses für ihn neue Europa erlebt. Die Wende, ein knappes | |
Vierteljahrhundert später, habe ihn erst hoffnungsvoll gemacht, dann aber | |
enttäuscht. „Ich hatte das Gefühl, wieder meine Heimat verloren zu haben.“ | |
Fernweh: „Meine Sehnsucht ist viel größer als mein Vermögen“, sagt Walter | |
Kaufmann. „Klar habe ich Fernweh. Ich möchte noch mehr von der Welt sehen. | |
Aber mit 96 sind die Abenteuer nur in Gedanken nicht vorbei.“ 2013 besuchte | |
er noch einmal Australien. „Familie habe ich dort nicht und die Bekannten | |
sind gestorben.“ Seine schönste Begegnung hat er im Fernsehen. „You don’t | |
know me but I know you“, sagte ihm der Moderator während der Sendung. „Sie | |
kennen mich nicht, aber ich Sie.“ Als Schüler hatte er Kaufmann für die | |
Schülerzeitung interviewt. | |
Und jetzt? Er schreibt weiter, verbringt Zeit mit den Töchtern und | |
Enkelkindern, nimmt am Berliner Leben teil, so gut es geht. Auch ein Buch | |
wollte er noch machen. „Sollte mein letzter Roman werden.“ Ein Freund sagte | |
ihm, dass es doch bereits eines mit der Geschichte gebe, über die er da | |
schreiben wollte. | |
27 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
## TAGS | |
Jüdisches Leben | |
Exil | |
Holocaust | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Der Hausbesuch | |
Hannover | |
Der Hausbesuch | |
Exilkunst | |
Judentum | |
Antisemitismus | |
Holocaust | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mein Kriegsende 1945: „Ich dachte ja, sie leben noch“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 17): Hanita Rodney überlebte, weil ihre | |
Eltern sie per Kindertransport nach England geschickt hatten. | |
Der Hausbesuch: Zwei im guten Chaos | |
Eigentlich wollte Kris Killmann allein leben, dann landete er bei Ute | |
Lehmann. Den 20-Jährigen und die 51-Jährige verbindet mehr, als sie | |
dachten. | |
Der Hausbesuch: Hannover – mon amour | |
Zwei Berlinerinnen lebten in Hetero-Partnerschaften und haben jeweils ein | |
Kind. Dann verlieben sie sich ineinander und ziehen zusammen. | |
Der Hausbesuch: Mülllos glücklich | |
Für viele ist Milena Glimbovski eine Vorreiterin der Zero-Waste-Bewegung. | |
Sie gründete 2012 einen Unverpackt-Laden. Seit Kurzem schreibt sie Bücher. | |
Ein Ort für Exilkunst: Suchen. Finden. Weitersuchen | |
Thomas B. Schumann sammelt Werke von Künstler*innen, die von den Nazis ins | |
Exil getrieben wurden. Sie stapeln sich in seiner Wohnung. | |
Jüdisches Leben in Berlin: Rückkehr auf den Balkon | |
1939 geflüchtet, 2019 nach Berlin zurückgekehrt: Tom Tugend berichtet aus | |
seinem Leben und aus dem seines Vaters Gustav Tugendreich. | |
Jahrestag der Novemberpogrome: Auswandern wegen Antisemitismus | |
81 Jahre nach den Novemberpogromen steigt wieder der Antisemitismus. Der | |
Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle überlegt sogar auszuwandern. | |
Flucht vor der Nazi-Judenverfolgung: Der Vormieter | |
Ludwig Katzenellenbogen musste vor 79 Jahren seine Wohnung in Berlin | |
verlassen. Im Mai ist er zurückgekehrt – in meine Wohnung. |