| # taz.de -- Demokratie sozialökologisch verteidigen: Ein Geist der Freiheit | |
| > Der Neoliberalismus ist nicht an allem schuld, sondern eine Diskursfalle. | |
| > Über Philipp Lepenies’ Buch „Verbot und Verzicht“. | |
| Bild: Verfolgt auch Olaf Scholz jene „Politik des Unterlassens“, die Lepeni… | |
| Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der Teile den Eindruck haben oder | |
| strategisch erwecken, dass Ordnungs- und Regulierungspolitik nicht legitim | |
| sind und Verbote Freiheitsberaubung. Die zentrale Behauptung des | |
| Politikwissenschaftlers Philipp Lepenies in „Verbot und Verzicht“: Dahinter | |
| steckt im Großen und Ganzen [1][der Neoliberalismus]. | |
| Dessen Botschaft ist bekanntlich: Je mehr Markt und je weniger Staat, desto | |
| besser für alle. Dieses Denken hätten, strategisch geplant, seine Propheten | |
| Friedrich August Hayek und [2][Milton Friedman] hegemonial gemacht und das | |
| habe zu einer „Politik des Unterlassens“ geführt. Damit ist die | |
| Nicht-Klimapolitik der Merkel-Jahre gut beschrieben. | |
| Aus dem Bürger wurde derweil ein Konsument, dessen Freiheit, Identität und | |
| Demokratieteilhabe sich im individuellen und ungestörten Konsum vollziehen | |
| soll. Verbot und Verzicht sind in dieser Perspektive freiheits-, | |
| identitäts- und demokratiefeindlich. Die Verkäufer des Neoliberalismus | |
| benutzen im Wesentlichen vier bewährte Rhetoriken gegen Verbote. | |
| 1. Sie erreichen nur das Gegenteil des Beabsichtigten. 2. Sie bringen eh | |
| nichts. 3. Sie bedrohen den Wohlstand, die Industrie und die „fleißigen | |
| Leute“ bzw. den „kleinen Mann“. 4. Sie sind Freiheitsberaubung durch einen | |
| Staat, der „bevormunden“ und ideologisch umerziehen will. | |
| ## Das geschwächte Gemeinsame | |
| Es ist eine Stärke von Lepenies, wie er Strategien und Floskel-Abc der | |
| liberalkonservativen oder auch sozialdemokratischen Politiker, | |
| Wissenschaftler und Leitartikler offenlegt. Er zeigt, wie die groß | |
| angelegte Werbekampagne der Neoliberalismus-Verkäufer und -Profiteure dazu | |
| beigetragen hat, Politik und das Gemeinsame zu schwächen. | |
| Aber dieses Blaming des Neoliberalismus ist zu eindimensional und trifft | |
| jenseits des Finanzsektors längst nicht auf alle Politikbereiche zu. | |
| Außerdem wird heute weniger im Nationalstaat und prioritär in Brüssel | |
| reguliert, was sehr gern als Gängelung und Regulierungswahn beschrieben | |
| wird. | |
| Aber von Anfang an: Der bundesdeutsche Nachkriegsstaat war zunächst ein | |
| stark regulierender, wirtschaftlich und vor allem gesellschaftlich. Das | |
| funktionierte in den frühen 70ern nicht mehr, erst revoltierte die Jugend | |
| gegen Unterdrückung einer autoritär organisierten Gesellschaft, dann geriet | |
| das „Wirtschaftswunder“ in seine erste große Nachkriegskrise. Die | |
| politische Antwort: „öffnender Liberalismus“ (Andreas Reckwitz). Weniger | |
| Regulierung, die Leute und Unternehmen mehr machen lassen. | |
| Während der brutalst regulierte Sozialismus ökonomisch und moralisch | |
| pleiteging, haben die liberalen Öffnungen im Westen wie globalen Süden | |
| einen Zuwachs an verbessertem Leben gebracht. Lebenserwartung, Gesundheit, | |
| Wohlstand, Freiheit, Sicherheit – alles besser geworden. Nicht für alle, | |
| aber für sehr viele. | |
| ## Auf- und Absteiger | |
| Durch den sogenannten Paternoster-Effekt sind allerdings in den | |
| Industriegesellschaften die einen auf- und andere abgestiegen. Das ist der | |
| eine Grund, warum nun das Paradigma der Öffnung bis auf Weiteres an sein | |
| Ende gekommen ist, der andere und noch zentralere, weil jenseits allen | |
| ideologischen Streits: Der physikalischen Realität der Erderhitzung ist | |
| damit nicht zu begegnen. Der Markt kann aus sich heraus die | |
| [3][sozialökologische Transformation] zur postfossilen Gesellschaft nicht | |
| schaffen, weil das Problem für den Markt nicht existiert. | |
| Es braucht neue Politik, die die Kosten dieser Erderhitzung einpreist und | |
| damit und mit anderen Instrumenten die Kräfte des Marktes für | |
| technologisch-ökologische Innovation entfesselt. | |
| Zwar ist es richtig, dass die neoliberalen Verkäufer Verbote als | |
| Freiheitsberaubung politisch stigmatisiert und Konsum als Substitution | |
| etabliert haben, aber das ist nur die eine Seite. | |
| Die [4][gesellschaftliche Bewegung von 1968] war im Kern auch eine | |
| emanzipatorische Anti-Verbots-Initiative. Sex ohne Ehe, Homosexualität, | |
| Abtreibung – war ja alles verboten. „Wir haben uns befreit von Verboten“, | |
| sagt [5][Daniel Cohn-Bendit], der die Revolte gegen den autoritären Staat | |
| auf den Barrikaden von Paris anführte. „Das waren nicht neoliberale | |
| Spindoktoren, das war in uns.“ | |
| ## Selbst Macron und Lindner sind umgeschwenkt | |
| Mit der emanzipatorischen Individualisierung und all ihren großartigen | |
| Errungenschaften haben wir uns aber halt auch kulturell vom Gemeinsamen | |
| emanzipiert und befreit. | |
| Wenn wir uns das Sprechen heute anschauen, so muss man den Neoliberalismus | |
| überhaupt nicht mehr rhetorisch bekämpfen. Selbst Macron und Lindner sind | |
| umgeschwenkt. Der Staat ist „der neue Superstar“ (Zeit), er soll jetzt | |
| alles richten. Und bezahlen soll er es auch. Aber womöglich irrt das | |
| linkssozialdemokratische Denken ja, in dem ja immer alles gut wird, wenn | |
| der Staat feste lenkt und sich Geld pumpt und dann verteilt, dass es nur so | |
| scheppert. | |
| [6][Sozialökologie, das Paradigma des 21. Jahrhunderts], ist etwas völlig | |
| anderes als Sozialdemokratie und auch Christdemokratie, weil die zentrale | |
| Frage nicht mehr lautet: Wie viel Umverteilung? Und auch nicht: Wie viel | |
| Staat? Die Fragen lauten: Was für ein Staat? Wo genau braucht es welche | |
| innovativen politischen Instrumente, um die Transformation der Wirtschaft | |
| voranzubringen? | |
| Und da haben sowohl Armin Laschet als auch Olaf Scholz im Wahlkampf | |
| Slapstick-Antworten gegeben. Laschet wollte einfach warten, was den | |
| Unternehmern so einfällt, Scholz sagte immer nur: Mit mir keine Verbote. | |
| Beides ist genau jene „Politik des Unterlassens“, die Lepenies zu Recht | |
| anprangert. | |
| ## Der legitime Merkel-Erbe | |
| Aber sagte Scholz nicht auch: Mit mir Mindestlohn? Ja, sagte er. Das war im | |
| Hinblick auf eine verlorene SPD-Wählergruppe und ihre ökonomischen Probleme | |
| auch richtig. Aber mit beidem – Mindestlohn ja, „Verbote“ nein – hat Sc… | |
| klargemacht, dass er wirklich der legitime Merkel-Erbe ist, indem er die | |
| Krisen der Gegenwart sozialverträglich moderiert, solange das eben noch | |
| geht, aber nicht mehr politisch überwinden will. | |
| Vizekanzler Robert Habeck hat derweil in seinen Jahren als | |
| Parteivorsitzender maßgeblich für ein neues Grünes Grundsatzprogramm | |
| gesorgt, das den Staat rehabilitiert, aber eben nicht in der Endlosschleife | |
| der alten Bundesrepublik verharrt. | |
| Will sagen: Lepenies’ Analysen können hilfreich sein, um den neuen | |
| [7][Benzinpreis-Populismus] zu verstehen und alles, was jetzt kommt, um mit | |
| Verbots- und Verzichtsrhetorik eine Mehrheitsgesellschaft zu verhindern, | |
| die Demokratie und Freiheit sozialökologisch verteidigt. Aber grundsätzlich | |
| muss man sich vor dieser Diskursfalle des Verbotsgeschwätzes hüten. Es gab | |
| immer Regulierung, es wird immer Regulierung brauchen. | |
| Übrigens: Alle unsere beliebten Anti-Engagements (Anti-Neoliberalismus, | |
| Anti-Faschismus, Anti-Militarismus, Anti-Atomkraft usw.) greifen zu kurz, | |
| weil „Verhindern“ allein nicht reicht und keine innovativen Kräfte | |
| freisetzt. Das hört der Classic-Linke vermutlich nicht gern, aber der Fokus | |
| muss jetzt darauf liegen, die richtigen politischen Instrumente zu finden, | |
| damit aus unternehmerischer Wucht eine sozialökologische Wirtschaft | |
| entstehen kann. | |
| 18 Mar 2022 | |
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