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# taz.de -- Neue Form der Vernunft: Kann unsereins auch pflichtbewusst?
> Angesichts kulminierender Katastrophen müssen wir unsere bisherige
> Auffassung von Freiheit zugunsten des Prinzips der Verantwortung
> überdenken.
Bild: Was bedeutet es, in unserer individualisierten Gesellschaft Verantwortung…
Zum Jahresende hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried
Kretschmann ([1][in der taz]) darüber nachgedacht, ob es angesichts von
Pandemie und Klimakrise nicht geboten sei, die staatsbürgerliche Pflicht zu
rehabilitieren. Pflichten wurden im Zeitalter der Liberalisierung und
Individualisierung nicht nur zurückgedrängt, sondern gelten bei Liberalen
und Progressiven als Ausdruck von autoritärer Spießigkeit, die man
Kretschmann ja nur zu gern attestiert. Aber auch der supercoole Soziologe
Andreas Reckwitz hat ([2][in der Zeit]) eine Renaissance der Pflicht des
Einzelnen gegenüber der Gesellschaft skizziert. Das passt nicht nur den
FDP-Leuten, sondern auch unsereins ganz schlecht, denn unser Leben soll
doch eine never ending Bolero-Kür sein.
Versteht mich nicht falsch: Der Ausbau persönlicher Freiheiten und Rechte
und deren Erweiterung in zuvor benachteiligte Teile der Gesellschaft in der
Folge von 1968 war und ist super wichtig. Aber mit der „Gegenkultur“ wurde
auch der sogenannte Neoliberalismus befeuert, das muss man sich erst mal
eingestehen, wenn man wirklich eine Politik will, die auf das Gemeinsame
zielt. Gerade vermeintlich Gesellschaftsprogressive waren es, die den
verhassten Thatcher-Satz „There is no such thing as society“ selbst lebten.
Die nichts mit dem Staat und der ihn tragenden Mehrheitsgesellschaft zu tun
haben – und gleichzeitig alles vom Staat haben wollten, ganz wie es gerade
passte.
## Es geht nicht nur um das Impfen
Wenn wir nun zur Linderung der sich potenzierenden Krisen mehr
Pflichtbewusstsein brauchen, wovon ich ausgehe, dann geht es eben nicht nur
um Mitbürger, die sich nicht impfen lassen wollen. In der Lage, in der wir
sind, kann die erste und oberste Pflicht des engagiert sein wollenden
Menschen nur in einer intellektuellen und empathischen Zuwendung zu den ihm
fremden Teilen der heterogenen liberaldemokratischen Gesellschaft bestehen.
Armin Nassehi hat „Perspektivendifferenz“ als notwendiges Kunsthandwerk der
Gegenwart bezeichnet. Das bedeutet, dass man nicht nur die Perspektive des
anderen einnehmen können muss, sondern im Zweifel auch dessen Interessen zu
den eigenen machen, damit deren und unsere Kinder eine ordentliche Zukunft
haben können.
Nun ist es aber so, dass die Renaissance der Pflicht längst noch nicht so
entwickelt ist wie die Renaissance der Unvernunft. Teile der liberalen
westlichen Gesellschaften haben total die Schnauze voll von dieser
liberalen Gesellschaft und ihrem Vernunftanspruch. Und ich habe in diesem
Jahr auch einsehen müssen, dass wir mit Kant und selbst mit dem Schwaben
Hegel da nicht weiterkommen. „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“
ist ein schöner Poesiealbumspruch. Aber Freiheit kann auch sein, die
Notwendigkeit eben nicht einzusehen. Freiheit ist auch, sich einen Scheiß
um andere zu kümmern und um sich selbst.
Vizekanzler Robert Habecks zentraler Gedanke „Klimapolitik ist
Freiheitspolitik“ wird sich nicht mit dem Verweis auf Kant, Hegel und die
Aufklärung durchsetzen. Und schon gar nicht mit radikal-moralischer
Anklagerhetorik. Aber mit Vernunft vielleicht schon. Allerdings ist das
keine Vernunft, die man absolut setzen kann, sondern eine empathische
Vernunft, die sich dem politischen Wettbewerb stellen muss. Und die dann
eine Mehrheit gewinnt, weil linke, rechte und liberale Liberale sich ihr
anschließen.
31 Dec 2021
## LINKS
[1] /Kretschmann-ueber-Klima-und-Pandemie/!5817676
[2] https://www.zeit.de/2021/52/pflicht-corona-klima-krise-gesellschaft-philoso…
## AUTOREN
Peter Unfried
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