# taz.de -- Demo-Beschränkungen in Berlin: Ein bisschen Grundrecht geht nicht | |
> Das Versammlungsrecht scheibenchenweise wieder einzuführen funktioniert | |
> nicht. Und es liefert Verschwörungsideologen unnötigerweise Argumente. | |
Bild: Wer demonstriert hier wofür, wer kauft ein, und wer trägt Maske? Chaos … | |
Ein demokratisches Grundrecht wie die Versammlungsfreiheit, verankert in | |
den ersten 20 als unumstößlich geltenden Paragrafen des Grundgesetzes, | |
quasi vollständig außer Kraft zu setzen ist nicht so schwer, wie man vor | |
Coronazeiten gedacht hatte. Das ist eine der Erfahrungen der vergangenen | |
zwei Monate. Es fällt umso leichter, wenn es dafür eine gute Begründung | |
gibt – wie eben die Pandemie. Das kann man auch als demokratisches | |
Reifezeugnis werten in dem Sinne, dass ein zeitweiser Verzicht auf Rechte | |
diese langfristig sichern dürfte. | |
Viel schwieriger ist es, ein solches [1][Grundrecht Schritt für Schritt] | |
wiederzubeleben. Denn die bei der Außerkraftsetzung erwartete Kritik bricht | |
sich nun umso massiver Bahn. Vor allem sieht sie sich in den weiter | |
geltenden Einschränkungen bestätigt und legitimiert. Eine Erkenntnis, die | |
nicht neu ist: Viele Revolten und Revolutionen in der jüngeren Geschichte | |
waren erst erfolgreich, als das bekämpfe Regime in der Hoffnung, Druck aus | |
dem Kessel zu nehmen, Zugeständnisse machte, damit aber den Protest gegen | |
sich nur weiter anfachte. | |
Natürlich ist Deutschland kein autoritäres Regime, auch in der Coronazeit | |
nicht, anders als viele Anhänger von Verschwörungstheorien glauben wollen. | |
Allerdings haben die Erfahrungen seit der Lockerung der Auflagen für | |
Demonstrationen in Berlin gezeigt: Ein bisschen Grundrecht – das geht | |
nicht. | |
Das nahezu vollständige Verbot von öffentlichen Versammlungen – erlaubt | |
waren sie nur bis zu einer Obergrenze von 20 Personen – wurde in der | |
Hochphase der Notverordnungen akzeptiert. Es war auch praktisch umsetzbar, | |
schlicht weil die Versammlungsbehörde so gut wie keine Kundgebung erlaubte. | |
Doch die [2][aktuell möglichen 50 TeilnehmerInnen] stellen Polizei und | |
AnmelderInnen vor große Probleme, wie sich am Samstag bei den Protesten | |
gegen die rechtsoffenen Versammlungen von Verschwörungsideologen erneut | |
zeigte. | |
Mehrfach führte die Polizei bei einer antifaschistischen Kundgebung am | |
Schendelpark in Mitte offenbar wahllos herausgesuchte DemonstrantInnen ab, | |
darunter auch den Anmelder, mit der Begründung, die Anzahl der | |
TeilnehmerInnen sei überschritten. Dem [3][SPD-Abgeordneten Sven | |
Kohlmeier], als parlamentarischer Beobachter unterwegs, wurde nach eigener | |
Darstellung der Zugang zu einem abgesperrten Bereich am | |
Rosa-Luxemburg-Platz von der Polizei „grundlos“ verweigert. Am späten | |
Nachmittag schließlich konnten mehrere hundert rechte Demonstranten von der | |
Polizei ungehindert durch Mitte marschieren. Zum Vergleich: Stuttgart hatte | |
einen Protest gleicher Couleur mit bis 5.000 TeilnehmerInnen genehmigt. | |
Im ersten Fall handelt sich um die Schwierigkeit mit einer für | |
Demonstrationen eigentlich zu kleinen Zahl – nämlich 50 –, die in der | |
Praxis aber zu groß ist, weil sie kaum nachprüfbar kontrolliert und | |
willkürlich von der Polizei ausgelegt werden kann. Zugleich gilt das | |
Paradoxon, dass VeranstalterInnen darauf achten müssen, ihren Protest nicht | |
allzu wichtig werden zu lassen, damit er zahlenmäßig noch passt – eine | |
absurde Aufgabe, die dem Zweck von Demonstrationen explizit widerspricht. | |
Im Fall des SPD-Abgeordneten muss sich die Polizei fragen lassen, welche | |
Rolle sie dem Parlament noch zubilligt. Im dritten Fall gegen Ende des | |
Protesttages hatte sie dann wohl selbst erkannt, dass die Vorgaben kaum zu | |
kontrollieren sind. | |
Die Begrenzung der TeilnehmerInnenzahlen war ein Versuch von Innensenator | |
Andreas Geisel (SPD) gewesen, die Eindämmung der Pandemie und die | |
Eindämmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit abzuwägen. | |
Am Montag dürfte sich der Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses mit den | |
Stimmen von Rot-Rot-Grün für eine vollständige Wiederherstellung der | |
Versammlungsfreiheit aussprechen, die Geisel unter Vorbehalt und erst für | |
Juni in Aussicht gestellt hatte. Es wäre die richtige Entscheidung, zumal | |
sie auch den Argumenten der Verschwörungsfans deutlich entgegenwirkt. | |
17 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Verfassungsrechtler-ueber-Corona-Demos/!5682375 | |
[2] /Demonstrationsrecht-in-Berlin/!5677083 | |
[3] https://twitter.com/KohlmeierSPD/status/1261652964336377856 | |
## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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