| # taz.de -- Verfassungsrechtler über Corona-Demos: „Die Demokratie besser sc… | |
| > Hans-Jürgen Papier bemängelt die Rechtsgrundlagen für die Einschränkung | |
| > der Grundrechte. Der Protest der Corona-Skeptiker sei dennoch total | |
| > überzogen. | |
| Bild: „Es kann kein Faustrecht geben, wo jeder für sich entscheidet, was ihm… | |
| Herr Papier, Sie haben sich in der Coronakrise schon früh um die | |
| Grundrechte gesorgt. Am Wochenende wird erneut bundesweit gegen die | |
| Einschränkungen demonstriert. Sind Sie mit dabei? | |
| Nein. | |
| Haben Sie Verständnis für die Demonstrationen? | |
| Ich habe Verständnis für alle, die sich fragen, ob die Freiheitsrechte | |
| unserer Verfassung noch hinreichend gewahrt sind. Wir haben in den letzten | |
| Monaten eine Einschränkung unserer Grundrechte erlebt, wie wir es uns wohl | |
| nie vorstellen konnten. | |
| Viele Demonstranten glauben, der Staat und die Virologen übertreiben die | |
| Wirkung des Coronavirus bewusst, um Grundrechte einschränken zu können. | |
| Sehen Sie das auch so? | |
| Nein, zu dieser Art von Kritikern gehöre ich nicht. Es war mir immer | |
| wichtig, sachlich und differenziert zu argumentieren. | |
| Was halten Sie von Parolen wie „Wenn wir heute den Widerstand verschlafen, | |
| wachen wir morgen in der Diktatur auf“? | |
| So etwas halte ich für total überzogen. Wer den Rechtsstaat schützen will, | |
| darf nicht auf Freiheitsrechte ohne Gemeinwohlbindung pochen. Es kann kein | |
| Faustrecht geben, wo jeder für sich entscheidet, was ihm angeblich zusteht. | |
| Auch Grundrechte sind im Interesse der Allgemeinheit einschränkbar. Die | |
| Einschränkung muss aber stets verhältnismäßig sein. Darüber entscheiden die | |
| Gerichte. | |
| War der Shutdown, also das Herunterfahren des gesamten gesellschaftlichen | |
| Lebens, verhältnismäßig? | |
| [1][Die massiven Maßnahmen Mitte März] waren am Anfang wohl erforderlich | |
| und angemessen, insbesondere weil die Gefahr bestand, dass unser | |
| Gesundheitssystem zusammenbricht. Aber die Entwicklung ist dynamisch. | |
| [2][Inzwischen ist die Infektionsrate stark gefallen] und die | |
| Gesundheitsämter haben mehr Personal, um Infektionswege nachzuverfolgen. | |
| Die Gerichte [3][haben ja schon im April reagiert], haben Ausnahmen vom | |
| Demonstrations- und vom Gottesdienstverbot zugelassen... | |
| Das zeigt, dass unser Rechtsstaat sich letztlich auch in schwierigen Zeiten | |
| durchsetzen kann. | |
| Inzwischen lockert auch die Politik die harten Zügel immer mehr, sie öffnet | |
| Schulen, Geschäfte und Gaststätten. Sind Sie zufrieden? | |
| Ich habe immer gesagt: Nicht die Lockerungen sind angesichts der | |
| Grundrechte rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung der | |
| Maßnahmen. Das scheint die Politik nun im Großen und Ganzen zu | |
| berücksichtigen. Für die Zukunft müssen wir aber die Demokratie besser | |
| schützen. | |
| Wo sehen Sie Bedarf? | |
| Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen alle | |
| wesentlichen Entscheidungen, etwa zur Grundrechtsausübung, von demokratisch | |
| gewählten Parlamenten getroffen werden. Das war in den letzten Monaten | |
| nicht der Fall. Die Einschränkungen beruhten vor allem auf | |
| Rechtsverordnungen der Landesregierungen. Die Parlamente – und damit auch | |
| die Opposition – waren an den Rand gedrängt. | |
| Alle Schutzmaßnahmen stützten sich [4][auf das Infektionsschutzgesetz,] ein | |
| vom Bundestag beschlossenes Gesetz. Genügt das nicht? | |
| Nein. In diesem Gesetz ist der Shutdown nicht ausdrücklich vorgesehen. Eine | |
| so massive Einschränkung des öffentlichen Lebens sollte nicht auf eine | |
| Generalklausel gestützt werden. Hierfür brauchen wir klare und eindeutige | |
| Rechtsgrundlagen. Außerdem sollte ein bundesweiter Shutdown künftig vom | |
| Bundestag beschlossen werden und nicht von den 16 Landesregierungen. Das | |
| würde auch die Akzeptanz verbessern. | |
| Das wäre dann aber nicht nur eine Demokratisierung, sondern auch eine | |
| Zentralisierung? | |
| Sie wissen, ich bin ein großer Freund des Föderalismus, aber bei einer | |
| Epidemie von nationaler Tragweite sollten grundlegende Weichenstellungen | |
| vom Bundestag getroffen werden und nicht von Landesregierungen. | |
| Ganz Deutschland im Gleichschritt? | |
| Öffnungsklauseln könnten und sollten regionale Abweichungen durchaus | |
| ermöglichen. Aber auch dann sollten Landesregierungen nicht allein | |
| entscheiden. Je länger eine Regelung in Kraft ist, umso wichtiger werden | |
| Beratung und Zustimmung des jeweiligen Landtags. | |
| Was ist mit den wirtschaftlichen Schäden? Wer muss für sie aufkommen? | |
| Das ist bisher unzulänglich geregelt. Das Infektionsschutzgesetz sieht nur | |
| in bestimmten Fällen Entschädigungen vor, etwa wenn ein | |
| Ansteckungsverdächtiger in Quarantäne muss und deshalb Verdienstausfall | |
| hat. Es gibt aber keinen gesetzlichen Anspruch etwa für Ladenbesitzer und | |
| Gastronomen, die im Zuge des Shutdowns vorsorglich schließen mussten. Hier | |
| hat der Gesetzgeber nachzubessern. Hilfsprogramme ohne Rechtsanspruch | |
| genügen nicht. | |
| 16 May 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Rath | |
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