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# taz.de -- Debatte um Nahost: Ich würde gerne verstehen
> Der 7. Oktober und die darauf folgenden Proteste haben Spuren
> hinterlassen. Wie ist ein Dialog möglich?
Bild: Bedrohlich: Blutrote Handabdrücke im Institut für Sozialwissenschaften …
Sehe ich da ein Leuchten in den Augen biodeutscher junger Menschen, die für
Palästina und gegen Israel – oder auch gegen Juden – protestieren, oder
bilde ich mir das nur ein? Schreien da Jugendliche, die mit Belehrungen
über den Holocaust überfüttert wurden? Fordert die deutsche Staatsräson mit
ihrer unbedingten Solidarität zu Israel den zunehmend fanatischen Protest
heraus? Oder haben die glänzenden Augen mit der Sehnsucht nach einer
netteren deutschen Identität zu tun?
Vielleicht hat die Begeisterung für eine Terrororganisation, die Frauen
vergewaltigt und Kinder schlachtet, ganz andere Gründe, ich verstehe sie
nicht und wüsste gerne, womit wir es bei dieser „Studentenbewegung“ zu tun
haben. Informationen, Bilder und Filme gibt es genug, aber um Argumente
geht es auch offenbar nicht, es geht um Gefühle, um Wut, um „Gerechtigkeit
für Palästina“, gerne „From the River to the Sea“ oder gar „Free Pale…
from German Guilt“. Vielleicht geht es um ein Dazugehören zu einer
Gemeinschaft, die sich auf der richtigen Seite wähnt.
Was ist da los? Ich würde es gerne verstehen. Der Furor, der sich an den
Hochschulen Luft macht, ist ja kein deutsches Problem, schließlich gibt es
solche Aktionen auch in den USA und sogar in Holland. Interessanterweise
kaum in den Ländern, in denen lange unter sozialistischen Vorzeichen
Israelhass gepredigt wurde (Die haben derzeit wohl andere Sorgen?). Sind
propalästinensische Netzwerke samt Filmchen von Influencern und schön
eindeutigen Messages besonders attraktiv? Oder bricht doch die
dreitausendjährige Tradition des Antisemitismus durch?
Die Gründe mögen von Land zu Land verschieden sein, [1][rote Dreiecke] oder
auch Judensterne, mit denen „Feinde“ gekennzeichnet werden, haben hier
allerdings eine besondere Bedeutung. Mein „schöner jüdischer Name“ ist,
wieder einmal, ein unangenehmes Etikett. Ich denke darüber nach, wie sich
die Schulbücher ändern ließen. Ergänzend zum Unterricht über den Genozid an
den Juden könnte man mehr darüber reden, dass die Menschen, die 1938 ff.
aus Deutschland fliehen mussten, Heimat, Besitz und Familienangehörige
verloren haben, dass Kinder allein über die Grenze geschickt wurden.
## Da kommen Erinnerunegn an die 1960er Jahre hoch
Flüchtlinge landeten nach oft abenteuerlichen Fluchten in Ländern, deren
Sprache sie nicht kannten, mussten sich von miesen Jobs ernähren.
Vielleicht sollte ich in Schulen gehen und erzählen, dass 1938 über die
Aufnahme von Flüchtlingen konferiert wurde, aber kein Land sie haben
wollten. Wäre das ein Angebot für die Kinder von Neubürgern, die sich fremd
und ausgeschlossen fühlen, prädestiniert für eine Zukunft als Helden? Etwas
tun? Wir sind ja alle gefragt. Ich könnte über normale, oft recht deutsche
Menschen erzählen, die zu Fremden erklärt wurden und sich als Vorbilder für
den Umgang mit Unsicherheit, Uneindeutigkeiten und Krisen eignen.
Als dieser [2][Brief von Uni-Dozentinnen] erschien, in dem die Räumung des
Protest-Camps kritisiert wurde, war ich irritiert, weil unter anderem auch
Michael Wildt unterschrieben hat. Er ist, wie die meisten Unterzeichner,
über jeden Verdacht erhaben, ich kenne und schätze ihn. Ja, natürlich, die
Uni soll ein Ort der Debatte sein, Polizei hat dort nichts zu suchen. Da
kommen hübsche Erinnerungen an die 1960er Jahre hoch.
Nach der Erklärung kam es zu einem Schlagabtausch, es wurde weniger
diskutiert als polemisiert – ob die Räumung der Uni rechtens war, ob der
Bürgermeister eingreifen darf, ob die Präsidentin noch das Hausrecht hat.
Die erhitzten Parolen waren leicht durchschaubar, als die Bild-Zeitung die
Befürworter eines Dialogs als Uni-Täter denunzierte, Vertreter der CSU und
der FDP waren empört, sie bezeichneten alle Israelkritiker als Antisemiten.
Für offizielle Vertreter jüdischer Organisationen gehört es zu ihrem Amt,
bei jeder Kritik an Israel von Judenhass zu sprechen.
Der Konflikt und seine Vorgeschichte sind kompliziert, Differenzierungen
selten und das Wort Antisemitismus schillert mittlerweile wie eine
Seifenblase, in der sich jeder spiegeln kann. Manchmal denke ich, es ist
egal, worum es gerade geht, Klima, Corona, Ukraine, Israel. In Sendungen,
Zeitungen und Reden finde ich psychologische, politische,
historisch-vergleichende und emotionsgeschichtliche Erklärungen für die
Reizbarkeit generell und insbesondere das oft von wenig Kenntnis getrübte
Engagement für eine Terrororganisation, [3][die blauäugige junge Frauen als
Erste vergewaltigen oder erschießen würde].
## Fragen wichtiger als Antworten
Mir scheinen zurzeit Fragen wichtiger als Antworten. Aus hygienischen
Gründen lese ich nur einen kleinen Teil all der Artikel, Podcasts und
Mails, die herumschwirren. Sind die Freunde (und Freundinnen) der Hamas
verwöhnte Fratzen, steckt die Wut von Jugendlichen dahinter, die in der
alternden Gesellschaft zu wenig gehört werden? Haben postkoloniale Theorien
und Identitätspolitiken die Hirne vernebelt? Oder sind Wut und Dummheit
eine Folge der Krisen, mit denen Gesellschaften nicht umgehen können, weil
lange Zeit Frieden und Wohlstand garantiert schienen?
Und, wie auch Eva Illouz fragt, woher kommt diese Sonderstellung des
Konflikts, der außerordentlich erregt, wenn es um Juden geht, weit mehr als
die Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und massenhaften Morde im Sudan,
in Myanmar, Darfur, Ruanda, Syrien und anderen Ländern?
Der Brief der Dozenten war mit der Forderung verbunden, es müsse und solle
Räume für vernünftige Diskussionen geben. Stimmt, aber mir geht die Frage
durch den Kopf, ob die Uni, so wie sie ist, der richtige Ort für eine
offene Debatte ist. Laden Seminarräume, Audimax, Lehrveranstaltungen zu
echten Gesprächen ein? Lassen die Studienordnungen das zu?
Meine Gedanken wandern zurück zu der oft zitierten „Studentenrevolte“, mit
der die Proteste verglichen werden. Damals wurde auch gebrüllt, wurden
Seminare besetzt, Vorlesungen gestört und alles besser gewusst. Ich weiß
nicht, ob es Helmut Gollwitzer zu verdanken war, dass die Evangelische
Akademie Räume zur Verfügung stellte. Bequeme Sessel und ein einigermaßen
ästhetisches Ambiente trugen dazu bei, dass die Leute einander zuhörten.
Der Republikanische Club war so ein Ort außerhalb der Uni, an dem
vernünftig miteinander gesprochen wurde. In der Mensa wurde von 11 Uhr
vormittags bis 16 Uhr nachmittags diskutiert – das war vor der Gründung
politischer Sekten, die vorgaben, welche Partei man ergreifen musste. Wo
und wie könnten heute Räume entstehen, in denen nicht nur gebrüllt, sondern
miteinander gesprochen oder sogar zugehört wird?
25 Jun 2024
## LINKS
[1] /Pro-Palaestina-Bewegung-in-Berlin/!6012578
[2] /Raeumung-eines-Camps-an-der-FU-Berlin/!6006162
[3] /Sexualisierte-Gewalt-der-Hamas/!5996758
## AUTOREN
Hazel Rosenstrauch
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Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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