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# taz.de -- Debatte Was ist Populismus?: Symptom des Versagens
> Wahrscheinlich benötigt das 21. Jahrhundert neue politische Begriffe.
> Über die Leerformel „Populismus“ und ihren Gebrauch.
Bild: Zeichnung für eine Open-Air-Installation zum Thema „Friedliche Revolut…
Die Tatsache, dass man viel oder leidenschaftlich über Dinge spricht,
bedeutet nicht, dass man tatsächlich weiß, worüber man redet. So ist etwa
der Begriff des „Populismus“ wie kein anderer zu einer Leerformel geworden.
Der Begriff qualifiziert und diskreditiert, wird polemisch oder analytisch
gebraucht, bezieht sich auf politische Programme und dumpfe Regungen.
Er meint linke oder rechte Populismen oder ein Gemisch aus beiden. Er
verweist auf einen Bodensatz aus mäßig artikulierten Meinungen und
Abwehrreflexen, die von unten herauf drängen – oder umgekehrt auf all jene
Putinismen, Orbánismen, Erdoğanismen oder Trumpismen, in denen
Machtkalküle, Herrschaftsgesten, Geschmacklosigkeiten, hochgedrehte
Lautstärken, Mobilisierungswillen oder eine neuerdings angesagte politische
Häme stecken.
Man hat es also mit einem umherschwärmenden Begriff zu tun, dessen Grenzen
unklar oder gar nicht vorhanden sind. Mehr noch: Gerade diese Unschärfen
und Verwirrungen scheinen die Bedingungen für seine aktuelle Konjunktur zu
sein. Je leerer die Vokabel, desto heftiger kann sie von den politischen
Windstößen herum geblasen werden.
Allerdings sind diese Ungenauigkeit und ihr begriffliches Unwesen womöglich
ein Symptom dafür, dass sich die politische Geografie verändert hat und
ältere Klassifikationssysteme versagen. Vorbei scheinen die Zeiten, in
denen autoritäre Regime schlicht totalitär, Basisbewegungen demokratisch,
rechte Rechte astrein faschistisch waren oder derjenige, der sich ‚links‘
nennen mochte, sich im Passepartout sozialistischer Programme wiederfinden
konnte.
## US-amerikanische People’s Party
Wahrscheinlich benötigt die Politik des 21. Jahrhunderts neue oder
überarbeitete Begriffe für politische Machtgefüge, die vor unseren Augen
allmählich Gestalt annehmen. Angesichts dieser unübersichtlichen Lage
lassen sich einige Thesen formulieren, die weniger eine Bestimmung des
heutigen Populismusbegriffs als eine Annäherung an jene Problembezirke
versuchen, die mit seiner Verwendung aufgerufen werden.
So schwierig oder unmöglich es ist, den „Populismus“ zu definieren, so
genau kann man beobachten, welche Zuschreibungen oder Selbstzuschreibungen
damit verbunden sind – das heißt, mit welchen demonstrativen Gesten man
andere oder sich selbst so nennt. Man muss wohl daran erinnern, dass es
zunächst die US-amerikanische People’sParty war, die die abwertenden
Ausdrücke „pops“, „populites“ und „populists“ positiv für sich be…
Damit beanspruchte sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein politisches
Programm für sich, das die Interessen der Farmer, eine Opposition gegen
Großbanken und Konzerne, die Rechte von Schwarzen und Frauen, die Forderung
nach bezahlbaren Krediten und verlässlichen Infrastrukturen vertrat.
## Frankreichs Front National
Umgekehrt hat etwa in Frankreich Marine Le Pen das Abschätzige des
Populismus aufgegriffen, umgewendet und in einen Kampfbegriff für
angebliche und rumorende „Mehrheiten“ gegen sogenannte „Eliten“ investi…
Mit solidarischer Interessenvertretung hat der Populismus unserer Tage
wenig zu tun. Es geht nicht primär um politische Sachgehalte, sondern um
dumpfe Feindschaftserklärungen. Die politische Willensbildung erschöpft
sich in der Regung des Unwillens. Mit dem Populismus steht insofern die
Trennschärfe zwischen der Bejahung politischer Interessen und der
Organisation von Ressentiment auf dem Spiel.
Der „Populismus“ ist im Übrigen kein Krisenphänomen, sondern ein
Doppelgänger moderner Demokratien. Er ist Begleiter oder Schattenwurf
dessen, was man liberale Demokratie oder Repräsentativsystem nennt. Er
bezeichnet dabei ein mehrfaches Verwerfungspotential: Einerseits wird in
ihm eine prekäre Abgrenzung zwischen Stimmvolk und bloßem Geraune virulent.
In ihm hallen ältere Unterscheidungen nach, die etwa in der Antike zwischen
dem plethos (der bloßen Menge) und dem politisch gefassten demos (den
wahlberechtigten Bürgern) gemacht wurde. In ihm wiederholen sich die
jüngeren Differenzen von Volk und Pöbel, in ihm manifestiert sich eine
politische Phonetik, die darüber entscheidet, was eine schon artikulierte
politische Stimme oder noch unartikuliertes Lautmaterial ist.
Andererseits verweist er auf Repräsentationslogiken, auf die Wege und
Verfahren, mit denen man demokratische Teilhabe beansprucht: direkt oder
indirekt, episodisch oder dauerhaft, durch Parteien gefiltert oder vom Volk
selbst ausgeübt. Der Begriff des „Populismus“ entfaltet seine polemische
Energie im Streit um die Art und Legitimität politischer Partizipation.
## Deutschlands AfD
Das berührt zugleich die Frage, wo und mit welchem Zugriff politische Macht
adressiert werden kann. Wenn es stimmt, dass, wie Brecht gesagt hat – alle
Gewalt zwar vom Volk ausgeht, aber die Frage bestehen bleibt, wohin sie
dann geht, so umfasst der Begriff des „Populismus“ auch dieses
Lokalisierungsproblem. Nicht von ungefähr versammeln sich Empörte unter
seinem Banner, die mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ominöse Mächte im
Dunklen, auf die „da oben“ und „da draußen“ deuten – auf Schuldige i…
verschworenen Zirkeln von Lobbys oder Lügenkartellen, in Brüssel oder in
der Presse.
Auch diese Unterscheidungslinie wird also mit dem Populismusbegriff
aufgerufen: ob Macht formell oder informell organisiert ist, ob
Regierungsmacht sich in adressierbaren Instanzen und Institutionen oder
eher in losen Netzwerken und temporärem Engagement ansammelt. Die Rede vom
„Populismus“ schließt ein Problem politischer Formgebung ein.
Das populistische Wortfeld umfasst nicht zuletzt auch einen intimen
Zusammenhang von Öffentlichkeit und politischem Affekt. In ihm regt sich
ein Register von Aufruhr und politischer Leidenschaft. Unübersehbar steigt
der Populismusverdacht mit der Wallungsbereitschaft von Mitbürgern, die
Zorn und Wut auf der Straße abladen, um damit zu demonstrieren, sie seien
im Recht. Wir brauchen offenbar eine politische Affektenlehre, die etwa
überprüfen muss, welche politischen Reserven von Aufruhr und Rebellion
heute mit zornigen Statements oder Statements des Zorns beansprucht werden.
Mit dem Begriff des „Populismus“ wird also eine Bereitschaft zu einem – w…
auch immer begründeten – Unfrieden identifiziert.
Wer die Vokabel des „Populismus“ ausspricht, artikuliert also – für sich
oder für andere – ein Verhältnis von Politik und Ressentiment, äußert ein
demokratisches Teilhabeproblem, laboriert an einem Bestimmungsversuch
politischer Macht und macht unausgeschöpfte Ressourcen politischer Passion
ausfindig.
## Griechenlands Syriza
Darum bleiben wahrscheinlich nur zwei Alternativen für den weiteren
Gebrauch dieses Begriffs bestehen. In der einen versteift man sich auf den
Erhalt einer bequemen Leerformel. Mit ihr ist ein Blinkersystem für jene
ominöse politische „Mitte“ gemeint, die nie genau weiß, wo sie politisch
steht, aber mit hektischen Warnzeichen nach „rechts“ oder „links“ sich
saubere Hände oder gutes Gewissen bewahrt. Ob Front National, Syriza oder
Podemos – all das gerät für den politischen Mittelstand zum selben
populistischen Einerlei.
Demgegenüber sollte man den „Populismus“ wohl für politische Bündnisse
reservieren, mit denen Aggressionen und Ressentiments laut und
durchsetzungsfähig werden konnten. Das ist unter freundlicher Mithilfe
„bürgerlicher“ Parteien etwa in der deutschen Flüchtlingspolitik und in d…
Verschärfung von Asylrechten geschehen; das hat in Großbritannien zu einem
Verwandlungsgeschehen geführt, mit dem aus der Anklage desolater
Sozialstandards das Feindbild europäischer Arbeitsmigranten
herausgearbeitet worden ist.
Und: Das erhält heute Weltmachtniveau dort, wo sich – wie in den USA – die
Profitinteressen von Interessensgruppen mit den Exklusionsbedürfnissen
jener knappen Minderheit einer Wählerschaft verbinden, für welche das Volk
nur „wir“, aber nicht mehr die anderen sind. Diese Minderheit ist
ironischerweise eine, die dank des geltenden Wahlrechts so sehr
Nutznießerin demokratischer Reglements ist wie keine sonst.
12 Dec 2016
## AUTOREN
Joseph Vogl
Ethel Matala de Mazza
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Populismus
Demokratie
Jean-Luc Mélenchon
Schwerpunkt Frankreich
Bremen
Jung und dumm
Schwerpunkt Flucht
Rechtspopulismus
Generaldebatte
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