# taz.de -- Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken: Totalitär ist populär | |
> Über Populismus und totalitäre Herrschaft diskutierten ExpertInnen | |
> anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an den Historiker | |
> Christian Teichmann. | |
Bild: Bekam am Freitag den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken: Der His… | |
BREMEN taz | Totalitäre Herrschaft scheint angesichts der NS-Zeit und des | |
stalinistischen Regimes eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts zu sein. | |
Aber sie schwingt als Idee in verschiedenen aktuellen politischen | |
Bewegungen mit. Deswegen ist Hannah Arendts Frage nach ihren „Ursprüngen“ | |
brandaktuell – fanden die Juroren des Bremer „Hannah-Arendt-Preises für | |
politisches Denken“. Am vergangenen Freitag verliehen sie den Preis an den | |
Berliner Historiker Christian Teichmann, der die Struktur totalitärer | |
Herrschaft an Stalins Politik in den südrussischen asiatischen Teilen des | |
Sowjetreiches untersucht hat. | |
„Wir tragen offenbar Sehnsüchte nach totalitären Ordnungen in uns“, | |
erklärte Teichmann das Phänomen, dass sich ausgerechnet in seiner | |
ostdeutschen, über 40 Jahre kommunistisch umerzogenen Heimat rechtsradikale | |
Milieus bilden. Auch westdeutsche Rechtsradikale schwärmen vom Führer-Kult | |
Putins und religiöse Konvertiten vom „Islamischen Staat“. | |
Dabei sind die Formen totalitärer Herrschaft sehr unterschiedlich. Im | |
islamischen Bereich sind sie geprägt von religiöser Intoleranz. Das | |
NS-Regime war eher anti-religiös. Und: „Die deutsche Gesellschaft musste | |
man nicht terrorisieren“, stellte in einem Podiumsgespräch anlässlich der | |
Preisverleihung der Publizist Gerd Koenen fest. Die NS-Machtausübung habe | |
sich bei der Terrorisierung der Juden auf eine geradezu populistische | |
Unterstützung im Volk gestützt. Und der NS-Terror tobte sich zu einem | |
erheblichen Teil während des Ostfeldzuges aus. | |
In den südrussischen Provinzen des sowjetischen Reiches, so Teichmann, | |
erschien Stalin als Diktator, der „Macht durch Unordnung“ ausübte. | |
Projekte, die mit der „Veränderung der Natur“ wie Bewässerungssysteme für | |
den Baumwoll-Anbau auch eine Veränderung der Gesellschaft herbeiführen | |
sollten, scheiterten. Den Menschen blieb nur die Frage: „Wie wurschtelt man | |
sich durch und wie richtet man sich ein?“ | |
Ganz anders in China. „Mao hat das Land ruiniert“ mit seinen großen | |
Projekten, stellte der frühere Maoist Koenen fest – aber die KP Chinas hat | |
einen Weg gefunden, die Modernisierung des Landes mit der „neo-totalitären | |
Kontrolle“ einer dynamischen Gesellschaft zu verbinden. Mao ist auch heute | |
noch populär in China – in großen Worten bekennt sich die KP zu ihrem | |
Führer. Aber das sind liturgische Rituale, die über die Praxis nichts | |
sagen, sondern das emotionale Bedürfnis bedienen, sich als Teil einer | |
„Familie“ empfinden zu können. | |
Anatoli Mikhailov, der Rektor der aus Minsk vertriebenen | |
Europäisch-humanistischen Universität, beschrieb anlässlich der | |
Preisvergabe dieses Bedürfnis, Verantwortung abzugeben, auch für seine | |
weißrussische Heimat. „Diktatur erleichtert das Leben“, erklärte er. | |
Die neue Hinwendung zu Putin ist in osteuropäischen Ländern auch ein | |
Ergebnis der Enttäuschung über versprochene Reformen. Diese „Erzählung vom | |
Wohlstandsstaat“, so Teichmann, war über lange Jahre auch tragend für die | |
Hinwendung der westdeutschen Bevölkerung zur Demokratie. Dabei ging es | |
weniger um tatsächlichen Wohlstand als um den gefühlten und um das | |
Vertrauen, dass man auf einem guten Weg sei. | |
Nur unter dem Dach solcher Horizontvorstellungen bewirken demokratische | |
Verfahren, dass aus Millionen mehr oder weniger idiotischer Meinungen eine | |
vernünftig handelnde Volksvertretung wird. Der populistische Traum, dass | |
eine totalitär durchgreifende Staatsmacht die Störfaktoren auf dem Weg zum | |
Glück beseitigen möge, zeigt vor allem das schwindende Vertrauen in den | |
mühsamen Weg der Demokratie. | |
4 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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