# taz.de -- Debatte Antisemitismus: Progressive Vereinfacher | |
> Muslime sind nicht „die Juden von heute“. Muslime sind „die Muslime von | |
> heute“. Am Judenhass sind nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse | |
> schuld. | |
Bild: Antisemitismus ist teilweise auch im Antikapitalismus enthalten. Die Proj… | |
Alle reden [1][über Antisemitismus] – und das nicht erst seit der jüngsten | |
Aufregung um die [2][Vorfälle an deutschen Schulen], sondern seit | |
Jahrzehnten. Doch mit welchem Erfolg? Nach wie vor sind rund 20 Prozent der | |
Bevölkerung antisemitisch. Juden fühlen sich in Deutschland immer seltener | |
sicher. Seien wir ehrlich: Es liegt auch daran, dass vor allem wir, die wir | |
uns als die Progressiven der Gesellschaft empfinden, über dieses Phänomen | |
reden. Viel zu viele unserer Grundannahmen über Antisemitismus sind | |
moralisch richtig, aber dennoch untauglich und unwirksam für | |
Antisemitismusbekämpfung. | |
Unser erster Reflex ist stets, die gesellschaftlichen Verhältnisse und „das | |
System“ für Antisemitismus verantwortlich zu machen. Gäbe es nur weniger | |
Armut und Diskriminierung, mehr Bildung, Aufklärung und Gerechtigkeit, dann | |
würde alsbald auch der Antisemitismus der Vergangenheit angehören. | |
Langfristige pädagogische Konzepte sind gefragt und langer Atem. Sicher ist | |
all das wichtig und richtig. Doch sollen die traumatisierten Opfer, in | |
diesem Fall die jüdischen Schulkinder, solange warten, bis solche Konzepte | |
in ein paar Jahren möglicherweise Erfolge zeitigen? Wo sind konkrete Hilfen | |
für diese Kinder, die Schulzeit hier und jetzt zu überstehen? | |
Um Antisemitismus zu bekämpfen, müssen wir uns eingestehen, dass er auch in | |
der progressiven Gesellschaftskritik, etwa beim Antikolonialismus und | |
Antikapitalismus weit verbreitet ist. Nicht umsonst hat der linke Denker | |
Moishe Postone auf Kontinuitäten zwischen der obsessiven | |
Finanzkapitalkritik und Antisemitismus hingewiesen. Die Projektion des | |
Bösen ausschließlich auf das unproduktive und zugleich abstrakte | |
Finanzkapital liege vielen antisemitischen Klischees zugrunde. Ohne die | |
Anerkennung dieses Zusammenspiels können wir nicht wirksam gegen | |
Antisemitismus intervenieren. | |
Erst vor zwei Jahren hat beispielsweise ein Amtsgericht in Brandenburg eine | |
Karikatur über die angeblich die Welt kontrollierende Rothschild-Familie | |
als „lediglich Kritik an Finanzmacht“ abgetan. Wenn schon Richter die | |
offensichtlichen Parallelen nicht erkennen, wie soll es überforderten | |
Lehrern mit ihrem „systemkritischen“ Schülern gehen? | |
## Es geht um Angriffe auf Juden | |
Die progressive Denkweise betont, dass gesellschaftliche Machtstrukturen | |
sich auf das Verhalten des Einzelnen auswirken. Das ist ihre Stärke. Doch | |
wo überspannen wir diese systemischen Erklärungsmuster und ignorieren die | |
individuelle Verantwortung oder die des unmittelbares Umfelds, der Eltern | |
oder der Familien? Dies wird besonders deutlich, wenn es um Antisemitismus | |
aus „migrantischen Milieus“ geht. Bei jedem antisemitischen Angriff gibt es | |
immer wieder Stimmen, die vor der Gefahr antiislamischer | |
Diskriminierungwarnen. Diese berechtigten Sorgen dürfen aber nicht davon | |
ablenken, worum es bei konkreten Anlässen geht – um verbale oder tätliche | |
Angriffe auf Juden! | |
Allzu gern reduzieren wir die gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf die | |
ungleiche Beziehung „weiße Mehrheit“ versus „migrantische Minderheit“ … | |
eine ebenso bequeme wie monokausale Vereinfachung. Natürlich sind | |
Minderheiten, und heutzutage gerade Muslime, selbst Objekte einer offenen | |
und strukturellen Diskriminierung. Allerdings gibt es selbstverständlich | |
auch Machtstrukturen zwischen ihnen und anderen Minderheiten (etwa | |
gegenüber Juden oder Schwarzen) und sogar innerhalb der Gruppen selbst | |
(etwa gegenüber liberalen oder alevitischen Muslimen). Eine | |
emanzipatorische Politik muss diese Binnenminderheiten stärken. | |
Schließlich müssen wir auch noch darüber reden, inwiefern | |
Erinnerungspolitik und -pädagogik für Antisemitismusbekämpfung ausreicht. | |
Hier sehe ich zwei Gefahren. Erstens: Judenfeindschaft und jüdisches Leben | |
wird ausgelagert in die Vergangenheit. Zweitens wird die Geschichte auf | |
falsche Weise universalisiert. Die häufige Unterstellung: Die Lehre aus dem | |
Holocaust sei, dass keiner sich mehr diskriminiert fühlen dürfe. Mit diesem | |
Rückgriff versuchen wir verzweifelt, Zugänge zu neuen Generationen und | |
Menschen mit Migrationshintergrund zu finden. Doch die Hauptlehre des | |
Holocausts ist nicht, dass Minderheiten nicht diskriminiert werden dürfen – | |
das ist die Folge der Menschen- und Bürgerrechte! | |
Die Lehre aus dem Holocaust ist, dass Menschen nicht wegen ihrer Herkunft | |
massenhaft vernichtet werden dürfen. Bei allem Respekt für die wichtige | |
Formel „Wehret den Anfängen“: Jede Diskriminierung kann der Anfang sein, | |
aber nicht jeder Anfang ist der Holocaust. Zugespitzt: Nicht jeder von uns, | |
der eine Diskriminierung erfährt, ist ein potenzielles Holocaustopfer. Der | |
Wunsch, die Lehren aus dem Holocaust zu universalisieren, darf nicht zu | |
einer Gemengelage aus Befindlichkeiten und Betroffenheiten allerlei Natur | |
führen. | |
## Glaubwürdigkeit getrennt erarbeiten | |
Was folgt aus diesen Feststellungen? Am besten fahren wir mit einer | |
Kombination aus Maß und Haltung. Wir müssen den Kampf gegen | |
Diskriminierung, gegen Armut und strukturelle Benachteiligung entschlossen | |
führen. Nur wer für die Rechte aller Minderheiten eintritt, Dialog sucht | |
und etwa Moslemfeindlichkeit bekämpft, wird die Glaubwürdigkeit für die | |
Bekämpfung des Antisemitismus mitbringen. Aber diese Glaubwürdigkeit müssen | |
wir uns getrennt erarbeiten: Nicht jedes Eintreten gegen | |
Moslemfeindlichkeit muss mit Verweisen auf Antisemitismus unter Migranten | |
garniert werden. Nicht jeder Hinweis auf das Antisemitismus-Problem unter | |
Migranten muss mit Verweis auf deren Diskriminierungen durch die | |
Mehrheitsgesellschaft relativiert werden. | |
Auch im Zeitalter des Multikulturalismus sollen wir uns vor zu starken | |
Universalisierungen der Wirkungen des Holocausts hüten. Ein zweiter | |
Holocaust steht nicht vor der Tür. Weder für Juden noch für Muslime. | |
Muslime sind nicht „die Juden von heute“. Muslime sind „Muslime von heute… | |
Und das ist angesichts der antimuslimischen Ressentiments schlimm genug, | |
aber mit dem Völkermord an den Juden eben nicht vergleichbar. | |
5 Apr 2018 | |
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## AUTOREN | |
Sergey Lagodinsky | |
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