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# taz.de -- Antisemitismus in Berlin: Ein ganz normaler Nachmittag in Mitte
> Kaffee trinken an einem sonnigen Tag in Berlin-Mitte kann zu einer sehr
> beunruhigenden Angelegenheit werden – wenn man jüdisch ist und hebräisch
> spricht.
Bild: In Berlin-Mitte
An einem Dienstagnachmittag Ende März beschließe ich, die Arbeit etwas
früher als sonst zu beenden. Meine Mutter hatte mir geschrieben, dass sie
gerade in einem Restaurant ganz in der Nähe sitzt. Ich stoße dazu, und wir
plaudern auf Hebräisch über Ereignisse der letzten Tage: die Vorbereitungen
für das Pessachfest, das wir Atheisten mittlerweile eher für meine
nichtjüdische Freundin und unseren kleinen Sohn als für uns feiern; die
Ablehnung des Asylbescheids ihrer syrischen Freundin mit libanesischem
Zweitpass, den Mord an einer Holocaust-Überlebenden in ihrer Pariser
Wohnung durch ihren Nachbarn.
Ich erzähle vom Workshop des jüdischen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks
zusammen mit dem muslimischen Avicenna-Studienwerk, an dem ich in der Woche
teilgenommen habe. Es ging um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von
Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Am Ende hatte ich das
Gefühl, dass es zu viel um die subjektive Wahrnehmung dieser beiden
Phänomene ging. Vielleicht weil ich lange Zeit selber nicht davon betroffen
war? Und dann geschieht etwas, was mir in Erinnerung ruft, wo der Ursprung
antisemitischen Denkens liegt.
Ein weißer Mann Anfang vierzig, in Freizeitklamotten und leicht gebückt mit
gewölbtem Bauch, kommt zu uns an den Tisch und fragt leise nach einer
Zigarette. Er wirkt dabei gleichzeitig konspirativ wie etwas verwirrt.
Meine Mutter zeigt ihm, dass sie ihre Schachtel gerade leer gemacht hat und
deutet an, dass ihr Sohn nicht rauche (was stimmt).
Der Mann scheint dem nicht ganz zu glauben und bleibt murmelnd stehen. Er
macht einen unangenehmen Eindruck auf uns. Als er sich zu einem Raucher am
Eingang stellt und von ihm eine Zigarette bekommt, behalte ich ihn im Auge.
Ich vermute, dass er uns wegen unserer Unterhaltung auf Hebräisch
argwöhnisch beäugt.
## Er spricht von seiner Großmutter
Eine Zigarette später kommt er erneut an unseren Tisch. Wir hatten derweil
die Rechnung bestellt und warteten auf den Kellner. Diesen eigentlich
kurzen Moment nutzt der Mann, um mir und meiner Mutter klarzumachen, dass
er den Holocaust als noch nicht abgeschlossenes Projekt betrachtet. Ganz
subtil, aber klar in seiner Botschaft, und immer an der Grenze des
strafrechtlich Erlaubten, spricht er zunächst kryptisch von seiner
Großmutter, derentwegen wir überhaupt noch hier seien (hat sie etwa Juden
versteckt, die nach Auschwitz hätten deportiert werden sollen?).
Nachdem er sich nun sogar zu uns an den Tisch gesetzt hat, bekundet er
seine Bewunderung für „den hier“. Bei „den hier“ kratzt er sich
gleichzeitig mit Mittel- und Zeigefinger oberhalb der Oberlippe.
Ich frage ihn, was er uns eigentlich sagen möchte. Seine Antwort: „Ich
möchte so vieles sagen, kann es aber nicht. Ich bin aber nicht allein, es
gibt viele von mir“ – da ist sie wieder, die Meinungsdiktatur der
politischen Korrektheit. Er weiß, dass wir ihn, hätte er den Namen „Adolf
Hitler“ benutzt und den Holocaust verherrlicht (nicht geleugnet), hätten
anzeigen können.
Langsam werde ich ungehalten, fordere ihn auf, endlich zu sagen, was er von
uns möchte, da wir sonst nicht miteinander ins Gespräch kommen könnten (als
ob das irgendetwas bringen würde, aber ich will ihn aus der Reserve
locken). Er nennt mich einen guten Ideologen, genau wie Goebbels. Meine
Mutter, die seinen genuschelten rhetorischen Verrenkungen nicht ganz folgen
kann (vielleicht weil sie erst mit vierzig Jahren von Israel nach
Deutschland kam), entgegnet, dass Goebbels doch böse gewesen sei. Sie sagt
später, dass sie erst ganz zum Schluss verstanden habe, worauf der Mann
eigentlich hinauswollte. Goebbels fand der Mann übrigens ganz gut.
Es wird zunehmend klar, dass er nicht mehr das sagen wird, was ich von ihm
hören will. Er wird es bei nochmaligem Oberlippenkratzen belassen, wird
erneut ganz ruhig und besonnen sagen, dass er eigentlich nichts sagen kann,
aber so viel zu sagen hätte, und dass er hier nicht allein sei. Seine
Großmutter erwähnt er nicht mehr.
## Wo ist eigentlich der Kellner?
Wo ist eigentlich der Kellner? Wir haben nach einer gefühlten Ewigkeit –
wahrscheinlich bloß drei Minuten – noch immer keine Rechnung bekommen.
Offensichtlich will uns jedoch der vom Mainstream unterdrückte
Holocaust-Nostalgiker eine Rechnung dafür präsentieren, dass wir auf den
Straßen von Berlin Hebräisch sprechen.
Meine Mutter geht hinein, um zu zahlen. Unser Goebbels-Fan ist auch der
Meinung, dass wir „besser von hier gehen“ sollten. Ich sitze ihm noch ein
paar Sekunden gegenüber, schaue ihm in die Augen und signalisiere ihm, dass
ich mich nicht einschüchtern lasse, dass sein Judenhass sein Problem ist
und dass „wir“ ganz bestimmt nirgendwo hingehen werden, außer nach Hause
nach Neukölln und Kreuzberg. Er kündigt an, uns im Auge zu behalten. Ich
entgegne ihm aus dem Affekt heraus, dass es mich beruhigt, von ihm
beobachtet zu werden. Keine Ahnung, wieso.
Erst im Laufe des Nachmittags wird meiner Mutter und mir klar, welcher
Irrsinn uns da eigentlich widerfahren ist.
4 Apr 2018
## AUTOREN
Gil Shohat
## TAGS
Antisemitismus
Bezirk Mitte
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