Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Datensammlung und Corona-Apps: Der Körper als Ausweis
> Der staatliche Zugriff auf den eigenen Körper wird normalerweise kritisch
> gesehen. In der Krise jedoch wird die Einordnung ins Kollektiv
> praktiziert.
Bild: Der Staat in Gestalt des Leviathan ist in der Krise präsenter denn je
Auf der ganzen Welt setzen Regierungen im Kampf gegen die Coronapandemie
auf Handyüberwachung. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) hat mittlerweile
eine eigene App entwickelt: Die [1][„Corona-Datenspende-App“] übermittelt
Gesundheitsdaten zu Aktivitäten und Schlafverhalten, Pulsschlag und
Körpertemperatur von Fitness-Trackern oder Smartwatches an die Server des
RKI. Zusätzlich werden Körper-Daten wie Alter, Größe und Gewicht sowie die
Postleitzahl abgefragt.
Da sich die Vitalzeichen bei grippeähnlichen Erkrankungen verändern, soll
es möglich sein, mit den Gadgets typische Covid-19-Symptome zu erkennen und
Infektionsketten zu unterbrechen. „Hände waschen, Abstand halten, Daten
spenden“, lautet der erweiterte Hygienebegriff. Datenspenden als
Reinlichkeitsritual?
Nach Angaben des RKI haben bereits 300.000 Menschen die App
heruntergeladen. Zwar betont das Institut, dass die Freigabe der Daten
anonym und freiwillig sei. [2][Trotzdem gibt es Kritik an dem Projekt]. Der
[3][Chaos Computer Club warnt vor zahlreichen Schwachstellen].
Was an dem Experiment verstört, ist die Rhetorik der „Datenspende“. Zwar
handelt es sich hier um einen gängigen Begriff aus der Informatik. Im
medizinischen Kontext wirkt er jedoch seltsam. Nicht nur, weil der Begriff
Assoziationen an „Blutspende“ weckt, sondern suggeriert, als sei die
Preisgabe sensibler Gesundheitsdaten eine gute Tat. Ist es unsozial, wenn
man seine Daten für sich behält? Oder wäre es im Gegenteil nicht sozial,
wenn man sich der Datenübermittlung verweigert und damit einen
Transparenzdruck vermeidet, an dessen Ende sich auch chronisch Kranke
exponieren müssen?
## Bio-Politik und Macht
Die digitale Selbstvermessung (Self-Tracking) war ja anfangs eher ein
spielerischer Umgang mit der Gesundheit – und mehr egoistisch als
altruistisch motiviert. Die Fitness-Gurus der Quantified-Self-Bewegung, die
morgens beim Frühstück ihre Schlafdaten checken und Excel-Tabellen ihrer
Kardiodaten erstellen, wollten vor allem ihren eigenen Körper optimieren.
Dass sich aber irgendwann der Staat (das RKI ist eine Bundesoberbehörde)
für diese Daten interessiert, war dann eben doch bloß eine Frage der Zeit.
Der Philosoph Michel Foucault hat mit seinem Konzept der „Bio-Macht“
beziehungsweise der „Bio-Politik“ beschrieben, wie der Staat die
Zugriffsgewalt auf das Leben erlangt. Macht bedeutet nicht mehr, über den
Tod zu entscheiden, sondern die „sorgfältige Verwaltung der Körper und die
rechnerische Planung des Lebens“. Die Integration der gelehrigen Körper in
den Produktionsapparat war nach Foucault zunächst konstitutiv für die
Entwicklung des Kapitalismus, später war die Bio-Macht gewissermaßen der
Geburtshelfer des modernen Staats, der mit der Unterwerfung der Körper in
Schulen und Armeen mittels der Disziplin eine „politische Anatomie“
formierte. „Der menschliche Körper“, schreibt Foucault in seinem Klassiker
„Überwachen und Strafen“, „geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn
durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt.“
Die Dressierung und Disziplinierung, wie sie noch in Kasernen, Schulen und
Klöstern des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde, ist im liberalen
Rechtsstaat der Selbstdisziplin gewichen. Seit der Abschaffung der
Wehrpflicht müssen junge Männer nicht mehr beim Kreiswehrersatzamt stramm
stehen und ihren Körper von einem mürrischen Amtsarzt „mustern“ lassen.
Stattdessen stählt sich das spätmoderne Subjekt, dem der Werbeslogan „Mein
Körper gehört mir“ in Fleisch und Blut übergegangen ist, in Fitnessstudios
und diszipliniert sich mit Diätplänen.
Der Verwaltungsstaat hat (einmal abgesehen von der gerichtlich immer wieder
angefochtenen [4][Mindestkörpergröße für Polizisten]) Liberalität in Bezug
auf Körperlichkeit an den Tag gelegt, was sich zuletzt bei der
[5][Anerkennung eines dritten Geschlechts] zeigte. Wann immer der Staat
versucht, seine Bio-Macht auszuspielen, begehrten die Bürger auf – sei es
beim Veggie Day oder der Impfpflicht.
Umso erstaunlicher, wie sich nun die Bürger der biopolitischen
Übergriffigkeit des Staates fügen. Was ist passiert, dass Politiker
unwidersprochen über „Immunitätspässe“ oder „Immunitätslizenzen“ sp…
können, so als wäre der Körper das neue legitime Ausweisdokument?
Der eigene Körper, der vorher noch Gestaltungsraum war, wird zum
Risikocontainer, den man unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in den
immer klinischer werdenden öffentlichen Raum trägt. Der physische Körper
ist nur dann frei, wenn er fieberfrei ist (also keine Symptome aufweist)
oder Antikörper nachweist (also immun ist).
Während die austrainierten Athletenkörper der [6][Profifußballer sich bald
wieder auf dem Rasen versammeln] dürfen, muss der Otto Normalverbraucher
mangels Testkapazität und Ansteckungsrisiko zu Hause bleiben. Man ist also
nicht bloß räumlich in häuslicher Quarantäne gefangen, sondern auch im
eigenen Körper, weil es nun mal keine andere Hülle gibt und die Erfindung
von Avataren noch auf sich warten lässt. Das macht die Pandemie so
beklemmend – weil sie uns vor Augen führt, dass wir eben doch keine
Maschinen sein können, sondern „bloß“ ein äußerst komplexer biologischer
Organismus sind.
## Radikale Entgrenzung
Der Soziologe Bruno Latour hat in einem Essay geschrieben, dass die
Pandemie kein „natürliches“ Phänomen wie vergangene Hungersnöte und der
Klimawandel sei. Die klassische Definition von Gesellschaft ergebe keinen
Sinn mehr, weil ihr Zustand von vielen nichtmenschlichen Akteuren
beziehungsweise Aktanten wie etwa Mikroben, dem Internet oder dem Gesetz
abhänge. Es gibt kein Inneres oder Äußeres in einer Risikogesellschaft;
einem Virus sind geografische wie körperliche Grenzen herzlich egal.
Diese radikale Entgrenzung öffnet den Raum für eine beinahe grenzenlose
Herrschaft. Der Staat in Gestalt des Leviathan, der sich aus Hunderten
einzelner Körper zusammensetzt und damit den Souverän verkörpert, ist in
der Krise präsenter denn je. Und mit ihm steigt auch das Menetekel des
„gesunden Volkskörpers“ wieder auf, das Phantasma einer Bio-Gesellschaft,
die Gruppenzugehörigkeit qua biologischer Merkmale definiert.
Die darwinistische Lehre des „survival of the fittest“ kehrt nicht nur als
krude wirtschafts- und gesundheitspolitische Betrachtung zurück, sondern
sie wird im Grunde verkehrt, um mit ihr das Überleben der Schwächsten zu
sichern. Wenn es heißt, die Jungen und Gesunden (also die Fitten) dürften
bei einer schrittweisen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen als Erste
wieder raus, dann ist das nichts anderes als eine als „Solidarität“
bemäntelte soziale Selektion. Junge raus, Alte rein. Die Spaßgesellschaft,
die die Kranken und Alten schon immer ausgeschlossen hat, kann diese
Exklusion nun mit dem hehren Argument des Gemeinwohls legitimieren.
Martin Schallbruch, stellvertretender Direktor des Digital Society
Institute der Berliner Managementhochschule ESMT und langjähriger
Abteilungsleiter für Digitalisierung im Bundesministerium des Innern, hat
kürzlich im Tagesspiegel einen bizarren Gastbeitrag unter der Überschrift
[7][„Lockdown ja – aber nur für Gefährder!“] veröffentlicht, in dem er…
ziemlich alle kriminologischen Kategorien durcheinanderbringt: „Wer eine
Maske trägt und zudem permanent eine App verwendet, die im Infektionsfall
alle Kontakte alarmiert, stellt eine weit geringere Gefahr für die
Allgemeinheit dar als jeder andere.“ Ist ein Risikopatient oder
unmaskierter, App-loser Bürger dann ein „Gefährder“ wie ein islamistischer
Extremist?
Wie bedrohlich die Grenzen zwischen Kriminalität und Krankheit bereits
verschwommen sind, zeigt sich in Südafrika: Dort werden unter dem
novellierten „Disaster Management Act“ wahrheitswidrige Angaben zum
Gesundheitszustand unter Strafe gestellt. Wer den Behörden eine Infektion
verheimlicht, muss mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen. Der
virologische Natur- und Urzustand – jeder Wirt ist dem anderen ein Feind! –
schlägt um in einen neohobbesianischen „body politic“: Man muss
Informationen seines Körpers mit der Gemeinschaft teilen.
Die Logik der Corona-App des RKI ist ähnlich: Der Einzelne verhält sich nur
solidarisch, wenn er einen Teil seines Datenkörpers, gewissermaßen in einem
quasireligiösen Akt, an die Gemeinschaft gibt. Die Vermassung der Körper
durch Big Data, das Gerede von der „Herdenimmunität“, die
Entindividualisierung durch Atemschutzmasken, all das lässt erahnen, wie
sich westliche Gesellschaften unter epidemiologischem Druck auf ein
kollektivistisches Modell zubewegen, in dem die Integrität des
Gesellschaftskörpers mehr zählt als das Individuum.
26 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Corona-Datensp…
[2] /Neue-App-des-Robert-Koch-Instituts/!5674805
[3] https://www.ccc.de/de/updates/2020/abofalle-datenspende
[4] /Migranten-sind-fuer-die-Polizei-oft-zu-klein/!5167857
[5] /Gerichtsbeschluss-zum-dritten-Geschlecht/!5458878
[6] /Coronakrise-mit-Geisterspiel/!5675194
[7] https://www.tagesspiegel.de/politik/menschen-mit-maske-und-app-sollten-raus…
## AUTOREN
Adrian Lobe
## TAGS
Individualismus
Schwerpunkt Coronavirus
Freiheit
Körper
Michel Foucault
Blutspende
Yoga
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Philosophie
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Datenschutz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Blutspenden in Deutschland werden knapp: Party statt Spende
Ein erhöhter Bedarf an Spenden trifft aktuell auf eine geringe
Spendenbereitschaft. Niedrigschwellige Angebote müssen dringend her.
So wird 2021 spitze!: Improvet Euch!
2020 war Mist, keine Frage. 2021 muss besser werden – und wenn sonst nichts
hilft, hilft bekanntlich Self Improvement. 17 Tipps der
taz.berlin-Redaktion.
Aus Le Monde diplomatique: Volksgesundheit und Staatsräson
Seit Jahrhunderten nutzen Staaten Epidemien, um ihre Macht auszuweiten. In
Zeiten von Corona wittern nun auch Techkonzerne einen riesigen Datenschatz.
Die steile These: Corona-Immune sind unsere Rettung
Was ist mit denen, die Covid-19 besiegt haben? Wenn wir diesen
Superheld*innen mehr Freiheiten einräumen, sollten sie auch ein paar
Pflichten haben.
Der Polit-Taktiker Jens Spahn: Mit Cowboymethoden
Vorpreschen, Kritik auslösen, zurückrudern: Jens Spahn praktiziert eine
erfrischende Form von Antimerkelismus.
Distanz in der Philosophie: Meide die Masse
Philosophen aller Zeiten empfahlen die Distanz. Jetzt kommen wir diesem
Ideal zwangsweise näher. Das kann aufregend sein und erhebend.
Historiker Malte Thießen: „Seuchen verschärfen Ungleichheit“
Ein Blick in die Geschichte der Epidemien zeigt, wie wichtig internationale
Koordination ist, doch anlässlich von Corona erleben wir Isolationismus.
Corona und der Alltag: Das Leben der Anderen
Wir leben nicht in dem Ausnahmezustand, den der Philosoph Giorgio Agamben
beschreibt. Aber die Corona-Krise trifft nicht alle gleichermaßen.
Videoüberwachung im Alltag: Die Macht über die Realität
Im öffentlichen und halböffentlichen Raum filmen immer mehr Geräte mit. Der
Staat erlangt so zunehmend die Deutungshoheit darüber, was wahr ist.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.