# taz.de -- Corona bei Tönnies: Wie die Säue zur Schlachtbank | |
> Der Tönnies-Skandal zwingt uns zum Hingucken. Tier und Mensch verdienen | |
> viel mehr Wertschätzung, als ihnen zukommt. | |
Jetzt schlachtet er wieder. Der größte Schlachthof Europas von Clemens | |
Tönnies in Rheda-Wiedenbrück darf im Einschichtbetrieb mit reduzierter | |
Schlagkraft und mit neuem Sicherheitskonzept wieder Fleisch produzieren. | |
Begleitet war der Neustart von unverschämten Forderungen des Milliardärs | |
und Kotelett-Kaisers. Tönnies hatte mit dem heftigen Corona-Ausbruch die | |
[1][gesamten Landkreise Gütersloh und Warendorf in Geiselhaft] genommen. | |
Jetzt verlangt er aber allen Ernstes die Rückerstattung der Lohnkosten für | |
den Zeitraum der behördlichen Schließung. Trotz allem: Er durfte seinen | |
Betrieb wieder anfahren, um schon nach wenigen Tagen [2][eine neue | |
Infektionswelle] auszulösen. Der Druck war jeden Tag größer geworden, denn | |
in den Ställen der Mäster hatte sich ein [3][prekärer Schweinestau] | |
gebildet. Die Abhängigkeit der Fleischproduktion von wenigen Großbetrieben | |
ist eklatant. | |
Die zehn größten Schlachthöfe Deutschlands liefern 80 Prozent unseres | |
Fleischs. Die Taktung des Tötens wird immer kürzer. Allein Tönnies | |
schlachtet im Jahr 21 Millionen Schweine und fast 500.000 Rinder. Mit | |
erbarmungsloser Effizienz, Tiere sind nur noch Rohstoff, Fleisch wird wie | |
Ziegelsteine hergestellt. Die Coronapandemie hat uns gezwungen, dem System | |
Billigfleisch in die Augen zu sehen. | |
Nicht aus Mitleid mit den Niedriglohn-Arbeitern in der Schlachtung und | |
Zerlegung, sondern weil die Gefahr bestand, dass die Coronahotspots in den | |
Schlachthöfen ganze Landstriche gefährden könnten. Sichtbar wurden jene | |
Nicht-Orte – so werden sie von Berliner Sozialwissenschaftlern genannt –, | |
die sonst außerhalb des gesellschaftlichen Radars liegen, in | |
strukturschwachen Räumen, gut getarnt, fensterlos. | |
Schlachthöfe sind gesellschaftliche Tabuzonen, im Grunde sogar verbotenes | |
Terrain, oft von Stacheldrahtzäunen und Hundestaffeln gesichert. Wir wissen | |
nicht, wie dort wirklich geschlachtet und gearbeitet wird. Es sind stumme | |
beunruhigende Nicht-Orte. Die Abschottungsstrategie der Schlachthöfe passt | |
perfekt zur Verdrängungsstrategie der Verbraucher*innen. Sie wollen lieber | |
nicht so genau wissen, was dort hinter den Zäunen mit den Blitzmessern und | |
Bolzenschussgeräten passiert. | |
## Zehn Schlachthöfe liefern 80 Prozent unseres Fleischs | |
Sie wollen nichts sehen, hören und riechen vom blutigen Geschäft – nur so | |
kann dieses System überhaupt aufrechterhalten werden. Es waren in der | |
Vergangenheit fast ausschließlich Tierschutz-Aktivisten, die sich um die | |
Schlachthöfe kümmerten und gelegentlich mit heimlich aufgenommenen Videos | |
per TV blutgetränkte Bilder in unsere Wohnzimmer schickten. Jetzt muss die | |
ganze Gesellschaft hinschauen. Man lupft den Stein und sieht das Gewimmel. | |
Profitgier und Menschenverachtung haben die Fabriken der Fleischindustrie | |
zu schaurigen Orten der Ausbeutung von Beschäftigten, Tieren und Umwelt | |
gemacht. Sichtbar geworden ist ein verschachteltes System aus | |
Sub-Sub-Subunternehmertum mit dubiosen Werkverträgen; sichtbar geworden ist | |
die Sklavenhaltung osteuropäischer Niedriglohn-Kräfte. | |
Sie leben oft in containerartigen Verschlägen, verrichten einen | |
gefährlichen Knochenjob, dessen Bezahlung so schlecht ist, dass sich die | |
Arbeiterinnen und Arbeiter auch mit Husten und Fieber zur Arbeit | |
schleppten, wo sie dicht an dicht am Fließband standen. Fast ein Drittel | |
der Beschäftigten sind übrigens Frauen. Jetzt soll alles besser werden. | |
Selbst die Fleischwirtschaft, die ein Verbot der Werkverträge zunächst als | |
„vollkommen unangemessene, willkürliche Diskriminierung“ bezeichnet hatte, | |
beugt sich der Empörungswelle. | |
Im gesellschaftlichen Diskurs zum Billigfleischsystem ging es in den | |
letzten Jahren vor allem um Klima und Tierwohl. Auf der Strecke geblieben | |
ist das Menschenwohl. Auch den Gewerkschaften war es nicht gelungen, die | |
Ausbeutung in den Schlachthöfen wirklich zum Thema zu machen. Vorrangig | |
muss es jetzt also um die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen gehen, um | |
die politischen Konsequenzen. | |
## Profitgier und Menschenverachtung | |
Es geht um Bezahlung, Unterbringung, Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und | |
Menschenwürde für die Schattenarmee unseres Ernährungssystems, die auch | |
unseren Spargel sticht, unsere Erdbeeren pflückt, unsere Weintrauben erntet | |
und auf Schiffen unter Billigflaggen unsere Fische fängt. Ohne diese | |
Schattenarmee würde unser Ernährungssystem zusammenbrechen. Die wirklich | |
dreckigen Jobs haben wir an die unterste Kaste delegiert. 200 Stunden | |
Arbeit im Monat für 1.500 Euro. | |
Abzüglich Miete, Arbeitsschuhe und -kleidung. Wir sind es ihnen schuldig, | |
nicht nur ihre Bezahlung und Unterbringung, sondern auch ihre | |
Integrationsmöglichkeiten und ihr Leben zu verbessern – mit glasklaren | |
Regeln und scharfem Ordnungsrecht. Die vor allem von | |
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner forcierte Politik der | |
Freiwilligkeit in der Ernährungsindustrie ist längst gescheitert, wie die | |
unendlichen Debatten zum Tierwohl oder zur Lebensmittelkennzeichnung | |
zeigen. | |
Arbeitsminister Hubertus [4][Heil (SPD) will in der Branche aufräumen]. Man | |
darf ihm und auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) | |
abnehmen, dass sie es ernst meinen. Ohne Frage müssen die | |
Schlachthofbetreiber jetzt selbst ihre Mitarbeitenden anstellen, bezahlen, | |
unterbringen, befördern – und sie müssen für sie die Verantwortung tragen. | |
Unterkünfte und Bezahlung müssen menschenwürdig sein und der gefährlichen, | |
auch psychisch belastenden Arbeit angemessen. | |
Es braucht eine bezahlte Interessenvertretung, Dolmetscher, geregelte | |
Arbeitszeiten, Tarifverträge. Lauter Selbstverständlichkeiten – eigentlich. | |
Dann wird das [5][Fleisch aber teurer]? Ja, dann wird es hoffentlich | |
deutlich teurer und bekommt vielleicht die Wertschätzung, die es verdient. | |
Doch eine echte Reform muss über ein Verbot der Werkverträge und des | |
Subunternehmertums hinausgehen. | |
## Die Fleischerzeugung öffentlicher machen | |
Es kann nicht sein, dass die Orte unserer Fleischerzeugung weiter Tabuzonen | |
bleiben, die wie Bordelle oder Gefängnisse außerhalb unserer Wahrnehmung | |
existieren. Es geht um den gläsernen Schlachthof. Er impliziert zweierlei. | |
Erstens: das Ende der Abschottung und die Öffnung der Schlachtbetriebe für | |
regelmäßige unangemeldete Kontrollen, für Journalisten und – ja! – für | |
Besuchergruppen. Aber auch – zweitens – das Hinschauen der Gesellschaft auf | |
die blutige Seite ihres Fleischkonsums. | |
Wann haben wir zuletzt eine echte Reportage aus einem Schlachthof gesehen, | |
gehört oder gelesen? Eben. Ein weiterer notwendiger Baustein der Reform | |
wäre die Stärkung und auch die Wiederbelebung kleinerer, regionaler, | |
dezentraler Schlachthöfe, in denen nicht täglich 30.000, sondern vielleicht | |
nur 30 oder 300 Schweine geschlachtet werden. Sind solche Forderungen | |
schiere Romantik? Träumereien jenseits sich weiter beschleunigender | |
Konzentrationsprozesse? | |
Nein, sie sind schon aus Gründen der Versorgungssicherheit dringend | |
geboten. Corona hat – auch außerhalb der Schlachthöfe – gezeigt, wie | |
krisenanfällig unser Ernährungssystem ist. Zur Aufarbeitung der | |
Schlachthofmisere gehört vor allem Empathie für die Beschäftigten. Wie weit | |
Teile der politischen Klasse davon entfernt sind, offenbarte der | |
nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) mit seiner | |
Formulierung, das bei Tönnies zirkulierende Virus sei ja nicht „in die | |
Bevölkerung“ eingesickert. | |
Die rumänischen, bulgarischen, mazedonischen und polnischen | |
Arbeiter*innen verdrängt er damit aus der Bevölkerung, sie stehen | |
außerhalb des noch gesunden Volkskörpers. Ebenso grob und unsensibel war | |
seine öffentlich geäußerte Mutmaßung, die Schlachthofarbeiter hätten das | |
Virus nach ihren Urlaubstagen aus dem Ausland mitgebracht und bei Tönnies | |
eingeschleust. So werden Opfer zu Tätern gemacht. | |
## Schmückt das Schwein! | |
Am Ende ein Blick zurück: In den Dörfern war das Schlachten eines Tieres | |
früher ein großes Fest. Das Schlachtfest wurde gemeinsam begangen. Das Tier | |
wurde geschmückt, bekränzt und von einem Geistlichen gesegnet. Es war ein | |
wertvoller Eiweißlieferant, eine Lebensversicherung gegen Hunger und | |
Mangelernährung. Nach der Segnung wurde es zum Metzger geführt. Auf dem | |
Marktplatz wurde das Tier dann öffentlich geschlachtet, damit jeder sehen | |
konnte, dass das Fleisch wirklich gut und das Tier gesund war. | |
Anschließend wurde gefeiert. Wie weit entfernt sind wir heute von dieser | |
Wertschätzung nicht nur für unsere Nutztiere, sondern auch für die Metzger, | |
die über Jahrhunderte zu den angesehensten Berufen zählten. | |
25 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Rheda-Wiedenbrueck-die-Toennies-Stadt/!5695908 | |
[2] /Corona-bei-Schlachthof-Angestellten/!5703728 | |
[3] /Geschlossene-Schlachthoefe/!5698376 | |
[4] https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/mehr-arbeitsschutz-un… | |
[5] /Arbeit-in-der-Fleischindustrie/!5693754 | |
## AUTOREN | |
Manfred Kriener | |
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