# taz.de -- Chile hat die Wahl: Links oder rechtsextrem? | |
> Chile wählt am Sonntag einen neuen Präsidenten. Die beiden Kandidaten, | |
> Gabriel Boric und José Antonio Kast, könnten unterschiedlicher kaum sein. | |
Bild: Gabriel Boric steht links, José Antonio Kast ganz weit rechts | |
SANTIAGO DE CHILE taz | Tausende Frauen und Queers sind wenige Tage vor der | |
Präsidentschaftswahl im Zentrum von Santiago zusammengekommen. Sie | |
schwenken Regenbogenfahnen und bunte Flaggen mit der Aufschrift „Boric | |
Presidente“. Auf einer Bühne treten Sänger*innen auf. Aktivist*innen, | |
Politiker*innen und Abgeordnete des Verfassungskonvents sprechen zur | |
Menschenmenge. „Unsere Leben als Frauen, Transgender, Lesben und Queers | |
sind in Gefahr“, sagt die Schauspielerin und Komödiantin Natalia | |
Valdebenito. Die Menschenmenge ruft „No al Nazi“ – „Nein zum Nazi“. | |
Gemeint ist damit José Antonio Kast, der rechtsextreme | |
Präsidentschaftskandidat, der beim [1][ersten Wahldurchgang] Ende November | |
27,9 Prozent der Stimmen erhielt und damit mehr als der Linke Gabriel Boric | |
mit 25,8 Prozent der Stimmen. Am Sonntag geht es nun in die Stichwahl. Dann | |
entscheidet sich, in welche Richtung sich Chile entwickelt. Denn die beiden | |
Kandidaten könnten unterschiedlicher kaum sein. | |
Kast, ein 55-jähriger Anwalt und Sohn eines deutschen Wehrmachtsoffiziers, | |
ist Gründer der rechtspopulistischen Republikanischen Partei. Er hetzt seit | |
Jahren gegen „Gender-Ideologie“, gegen Frauen, Queers, Linke und | |
Migrant*innen und seit diesem Jahr auch gegen die Versammlung, die eine | |
neue Verfassung ausarbeitet. Die Proteste von 2019 und 2020, die zu einem | |
Referendum führten, bei dem 80 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen | |
Verfassung stimmten, bezeichnet Kast als „antisozialen Aufstand“ und die | |
Demonstrant*innen als „Kriminelle“. Bis heute verteidigt er die | |
Pinochet-Diktatur, auf die die alte Verfassung zurückgeht, und verharmlost | |
die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen. | |
Seinem ursprünglichen Programm zufolge will Kast das Gesetz abschaffen, das | |
Abtreibung in Chile bei Vergewaltigung, bei Lebensgefahr der Mutter und des | |
Fötus erlaubt. Er will unverheiratete Frauen von Sozialhilfeprogrammen | |
ausschließen, eine internationale Koordination zur Verfolgung von | |
„Linksradikalen“ in Lateinamerika aufbauen und den staatlichen | |
Kupferbergbaukonzern, der 11 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht, | |
privatisieren. | |
Um Wähler*innen des politischen Zentrums für sich zu gewinnen, hat Kast | |
diese Vorhaben jedoch vor der Stichwahl aus seinem Programm entfernt. Das | |
neue Programm enthält dafür aber eine Art Notstandsgesetz, das die | |
Zuständigkeiten des Präsidenten während des Notstands ausweiten und unter | |
anderem erlauben soll, Personen in Lagern zu inhaftieren. Kast will | |
außerdem einen Graben im Norden Chiles bauen, um Migrant*innen | |
abzuwehren. | |
Viele erinnern diese Maßnahmen an die Pinochet-Diktatur. Die Angst vor | |
einem rechtsextremen Präsidenten hat dazu geführt, dass linke Gruppen, | |
soziale Bewegungen und Basisorganisationen sich hinter der Kandidatur von | |
Gabriel Boric vereint haben. Beim ersten Wahldurchgang stimmten vor allem | |
Frauen und junge Menschen für Boric, Kast erhielt mehr Stimmen von Männern | |
und über 50-Jährigen. Während die jüngeren Generationen Angst vor Kast | |
haben, weil seine Regierung Frauen, Queers, und politisch Andersdenkende | |
wohl diskriminieren und verfolgen würde, fürchten sich die älteren | |
Generationen davor, dass eine Regierung von Boric zu politischer und | |
wirtschaftlicher Instabilität führen könnte. | |
Umfragen zufolge ist die größte Sorge der Chilen*innen die Kriminalität | |
– noch vor Renten, Gesundheit und Löhnen. In vielen ärmeren Stadtvierteln | |
haben Drogenbosse und kriminelle Banden die Macht, weil der Staat kaum | |
präsent ist. Studien zeigen, dass das Gefühl der Unsicherheit verstärkt | |
wird durch Medien und soziale Netzwerke. In chilenischen Fernsehnachrichten | |
dominieren Meldungen von Raubüberfällen und Kriminalität. | |
Kast nutzt die Ängste aus. Er macht die Proteste von 2019 und 2020 für die | |
Kriminalität und Unsicherheit in den Stadtvierteln verantwortlich und | |
verspricht Sicherheit und Ordnung. Er schürt zudem Angst vor einer | |
vermeintlichen „kommunistischen Diktatur“, die ihm zufolge der linke | |
Kandidat Gabriel Boric einführen würde. | |
Dabei ist Boric’ Programm allenfalls sozialdemokratisch: Er will das | |
privatisierte Rentensystem reformieren, eine allgemeine öffentliche | |
Krankenversicherung einführen, das öffentliche Bildungssystem stärken und | |
mehr in Kunst und Kultur investieren. | |
Was die chilenischen Unternehmer*innen am meisten stört: Boric will | |
eine Reform durchführen, um hohe Einkommen und Unternehmen stärker zu | |
besteuern. Chile ist eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit | |
der Welt: Das reichste Prozent der Bevölkerung konzentriert fast ein | |
Drittel des Bruttoinlandprodukts auf sich. Unter den OECD-Ländern ist Chile | |
eines der Länder mit der geringsten Steuerlast. Mehr als die Hälfte der | |
Steuereinnahmen kommt von der Mehrwertsteuer, die vor allem die ärmeren | |
Schichten belastet. | |
Während Boric die Staatseinnahmen vergrößern will, um soziale Grundrechte | |
wie Bildung, Gesundheit, Renten und Zugang zu Kultur für alle zu | |
garantieren, will Kast den neoliberalen Kurs der letzten Jahrzehnte | |
weiterführen: den Staat verkleinern, Steuern senken, öffentliche Ausgaben | |
verringern, öffentliche Angestellte entlassen und staatliche Unternehmen | |
privatisieren. | |
Sowohl Kast als auch Boric werden Schwierigkeiten haben, ihr Programm | |
umzusetzen, da keine der beiden Koalitionen eine Mehrheit im Parlament hat. | |
Beide haben sich deshalb dem politischen Zentrum angenähert. Die Parteien | |
der Regierungskoalition von Sebastián Piñera, der seit zwei Jahren mit | |
Zustimmungswerten von unter 15 Prozent regiert, und ihr ausgeschiedener | |
Präsidentschaftskandidat Sebastián Sichel haben dem Rechtsextremen Kast | |
bereits ihre Unterstützung zugesichert. | |
Boric hingegen wird von der ehemaligen Concertación unterstützt, der | |
Mitte-links-Koalition, die in Chile – abgesehen von den zwei Amtsperioden | |
von Piñera – seit dem Ende der Diktatur 1990 durchgehend regiert hat. Die | |
ausgeschiedene Präsidentschaftskandidatin Yasna Provoste und auch die | |
ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet haben dazu aufgerufen, für Boric zu | |
stimmen. | |
Es waren allerdings auch die Regierungen der Concertación, die das während | |
der Diktatur gewaltsam eingeführte neoliberale Modell nach der Rückkehr zur | |
Demokratie weiter verwalteten und sogar vertieften. Die soziale Revolte | |
2019 richtete sich auch gegen die Mitte-links-Parteien, die ihre | |
Versprechen der sozialen Gerechtigkeit nicht eingehalten hatten. | |
Die Wahlbeteiligung in Chile ist seit der Rückkehr zur Demokratie | |
kontinuierlich gesunken. Beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen | |
im November gaben nur 47 Prozent der mehr als 15 Millionen Wahlberechtigten | |
ihre Stimme ab. In den Armen- und Arbeiter*innenvierteln und unter | |
jungen Menschen ist die Wahlbeteiligung besonders gering. Viele sind noch | |
nie wählen gegangen. | |
Ein Großteil der Bevölkerung hat den Eindruck, dass die eigene Stimme | |
keinen Unterschied macht. „Egal wer Präsident wird, ich muss morgen | |
trotzdem arbeiten gehen“, sagen viele. Auch wenn die soziale Revolte 2019 | |
und der aus ihr resultierende verfassungsgebende Prozess zunächst Hoffnung | |
auf Veränderung machten, sind während der Pandemie Verunsicherung und Frust | |
größer geworden. | |
Einer Umfrage zufolge ordnen sich etwa die Hälfte der Menschen in Chile | |
keiner politischen Position zu und identifizieren sich mit keiner der | |
Parteienkoalitionen. Trotzdem wünscht sich die Mehrheit eine stärkere Rolle | |
des Staates, vor allem in den Bereichen Bildung, Renten und Gesundheit. | |
Der Wunsch nach Veränderung ist auch bei der [2][Wahl zum | |
Verfassungskonvent] im Mai dieses Jahres deutlich geworden. Das Gremium, | |
das eine neue Verfassung erarbeiten soll, besteht zum Großteil aus linken | |
Kräften und sozialen Bewegungen. Der Erfolg des Konvents hängt auch von der | |
neuen Regierung ab: Boric würde den Prozess unterstützen, Kast würde ihn | |
boykottieren. Alondra Carrillo, Abgeordnete des Verfassungskonvents und | |
feministische Aktivistin, sagt auf der Bühne im Zentrum Santiagos: „Es geht | |
bei dieser Wahl nicht nur um die Wahl eines Präsidenten, es geht um den | |
Lauf der Geschichte.“ | |
18 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Boddenberg | |
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