# taz.de -- Chancenaufenthaltsrecht für Geduldete: „An der Realität vorbei�… | |
> Die Ampel will Geduldeten eine Perspektive geben. Der Gesetzentwurf sei | |
> zu lückenhaft, kritisiert Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat. | |
Bild: Chancenaufenthaltsrecht: Klingt gut, an ein paar Stellen müsste aber noc… | |
taz: Frau Böhm, am Mittwochabend hat der Bundestag in erster Lesung über | |
das [1][sogenannte Chancenaufenthaltsrecht diskutiert]. Menschen, die seit | |
mindestens fünf Jahren in Deutschland geduldet sind, sollen einmalig die | |
Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen: Sie haben ein Jahr Zeit, | |
um alle nötigen Bedingungen zu erfüllen. Damit will die Ampelkoalition | |
beenden, dass Menschen jahrelang in völliger Unsicherheit leben. Für Sie | |
als Flüchtlingsrat ist das ein Grund zur Freude, oder? | |
Johanna Böhm: Die Idee ist total begrüßenswert und wir waren alle positiv | |
überrascht, als wir den Koalitionsvertrag gelesen haben. Aber je genauer | |
man hinschaut, desto mehr merkt man, dass dieses Gesetz in ganz vielen | |
zentralen Punkten an wirklichen Verbesserungen komplett vorbeigeht. | |
Wo denn zum Beispiel? | |
Es ist ein sehr schönes Vorhaben, Kettenduldungen zu verhindern. Aber | |
dieses Gesetz hat eine Stichtagsregelung … | |
… Der Entwurf richtet sich nur an Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf | |
Jahren in Deutschland geduldet waren … | |
… Genau. Es ist eine Altfallregelung und bietet keinerlei Chance für | |
diejenigen, die an den fünf Jahren knapp vorbeischrammen. Wer seit | |
viereinhalb Jahren hier ist, bekommt keine Chance. Für diese Menschen geht | |
es perspektivisch weiter damit, dass sich Duldung an Duldung reiht. Es ist | |
ein guter, aber überhaupt nicht nachhaltiger Ansatz. Da muss dringend eine | |
Entfristung her. | |
Geplant sind aber einerseits weitere Erleichterungen für gut integrierte | |
Geduldete und eine verbesserte Durchsetzung der Ausreisepflicht | |
andererseits – also Abschiebungen. Ist das nicht ein Weg, jahrelange | |
Kettenduldungen gar nicht erst nachwachsen zu lassen? | |
Dass gut integrierte Geduldete künftig früher ein Bleiberecht bekommen | |
sollen, ist super. Aber das nimmt keineswegs alle mit. Viele Menschen | |
werden die vielen Bedingungen nicht erfüllen, aus ganz unterschiedlichen | |
Gründen. Und die Antwort kann doch nicht sein, zu sagen: Alle, die in | |
unsere neue Bleiberechtsregeleung nicht reinpassen, schieben wir ab. Es | |
gibt ja gute Gründe für Duldungen. Niemand darf in Lebensgefahr | |
zurückgeschickt werden. | |
Sie kritisieren, dass die Bedingungen für den dauerhaften Aufenthaltstitel | |
viel zu hoch seien. Was genau meinen Sie? | |
Man muss in diesem einen Jahr seine Identität klären und nachweisen, dass | |
man seinen Lebensunterhalt selbst finanziert. Damit richtet dieser Entwurf | |
sich eigentlich nur an sehr leistungsfähige und gesunde Menschen. Was ist | |
aber mit Alten, Traumatisierten, mit Kranken, Behinderten, | |
Alleinerziehenden oder Analphabet*innen? Die werden das kaum schaffen. Auch | |
für viele andere wird das aufgrund des bisherigen Umgangs mit Geduldeten | |
nicht machbar sein. Nachdem sie jahrelang ausgegrenzt wurden, keinen | |
Sprachkurs und keine Arbeitserlaubnis bekommen haben, sollen sie aus dem | |
Stehgreif eine vierköpfige Familie versorgen? Das ist realitätsfern. Und | |
dann macht die Praxis vieler Ausländerbehörden den Menschen auch noch einen | |
Strich durch die Rechnung. | |
Inwiefern? | |
Am Beispiel Bayern sieht man, wie das Gesetzesvorhaben und die Praxis der | |
Ausländerbehörden eklatant auseinandergehen. Es besitzen gar nicht alle | |
abgelehnten Asylbewerber*innen eine Duldung. Manche Ausländerbehörden | |
stellen gar nicht erst eine aus oder erkennen sie wieder ab, stattdessen | |
gibt es Grenzübertrittsbescheinigungen oder Fiktionsbescheinigungen, manche | |
Menschen haben gar keine Papiere. Statt von Geduldeten sollte im Gesetz | |
deswegen besser von „ausreisepflichtigen Ausländern“ die Rede sein – son… | |
haben viele von denen, die gemeint sind, letztlich gar keinen Zugang. | |
Sie haben auch kritisiert, dass Straftäter*innen vom | |
Chancenaufenthaltsrecht ausgenommen sind. Dabei ist das doch | |
nachvollziehbar, oder? | |
Das mit den Straftätern ist eine beliebte Floskel, bei der Union wie auch | |
bei der Ampel. Aber in der Pauschalität ist das gefährlich. Wir kennen das | |
von Abschiebungen nach Afghanistan, da ist auch immer von Straftätern die | |
Rede. Die Leute stellen sich dann eine schwerstkriminelle Person vor. Dabei | |
geht es oft nur um Kleinigkeiten. | |
Zum Beispiel? | |
Der aktuelle Gesetzentwurf schließt alle vom Chancenaufenthaltsrecht aus, | |
die mehr als 50 Tagessätze bei normalen Delikten und mehr als 90 bei | |
aufenthaltsrechtlichen Sachen bekommen haben. Darunter fällt dann schon ein | |
Verstoß gegen die Residenzpflicht oder eine Anklage wegen illegaler | |
Einreise, das ist in Bayern besonders beliebt – und besonders zynisch. Denn | |
die Menschen haben ja überhaupt keinen legalen Weg zur Einreise. Oder man | |
wird mehrfach beim Fahren ohne Fahrschein erwischt. Man kann solche | |
Regelungen zu Straffälligkeit nicht loslösen von der Armut, der | |
Perspektivlosigkeit und den eingeschränkten sozialen Rechten, die ein Leben | |
mit so einer Duldung bedeutet. Wenn ich nur 150 Euro im Monat zum Leben | |
habe, kann es schnell passieren, dass ich mich mal ohne Ticket in die | |
U-Bahn setze. Aber für diese Leute fallen dann alle | |
Bleiberechtsperspektiven weg. | |
Im Entwurf ist die Rede von 136.605 Geduldeten, die Ende 2021 seit mehr als | |
fünf Jahren in Deutschland waren. Wie vielen davon wird das Gesetz Ihrer | |
Meinung nach helfen? | |
Wir sind da leider pessimistisch: eher wenigen. Es gibt zu viele | |
Einfallstore für Ausländerbehörden, um die geplanten Regelungen zu | |
unterwandern. | |
Das haben Sie vorhin schon angesprochen. Warum sollten die | |
Ausländerbehörden denn solche Regelungen unterwandern wollen? | |
Weil sie den Landesinnenministerien unterstehen, und die fahren da nun mal | |
sehr unterschiedliche Kurse. Es gibt zum Beispiel [2][Bundesländer mit | |
Vorgriffserlassen] – da haben die Ministerien die Ausländerbehörden | |
angewiesen, schon jetzt im Sinne des künftigen Chancenaufenthaltsrechts zu | |
handeln. Dort werden Menschen, die perspektivisch von dem Gesetz | |
profitieren können, erst einmal nicht abgeschoben. Und dann gibt es andere | |
Länder wie Bayern, da werden [3][ganz ähnliche Fälle immer noch | |
abgeschoben]. Plötzlich sitzt eine bestens integrierte Person im | |
Abschiebeflieger, der vor ein paar Tagen erst Duldung und Arbeitserlaubnis | |
entzogen wurden. Was läuft denn da schief? Dieses Bundesgesetz müsste viel | |
unmissverständlicher formuliert sein. Solange es so viele Schlupflöcher | |
lässt, ist gerade aus den unionsgeführten Ländern mit ohnehin restriktivem | |
Kurs in der Asylpolitik nicht viel zu erwarten. | |
Die Union kritisiert, das Gesetz schaffe Anreize, auch ohne Aussicht auf | |
Asyl nach Deutschland zu kommen. Zurecht? | |
Dahinter steht die falsche Annahme von Pull-Faktoren – dass also | |
Bleiberegelungen illegale Migration anziehen. Das geht völlig an der | |
Realität vorbei. Menschen nehmen nicht deswegen jahrelange und unfassbar | |
gefährliche Fluchtwege auf sich, weil in Deutschland die Bedingungen so | |
phänomenal sind. Sondern sie fliehen vor Krieg, Umweltkatastrophen oder | |
Verfolgung. Da spinnt die Union ihr rechtes Narrativ weiter, um Stimmen von | |
rechts abzugreifen. In Bayern zum Beispiel wird nächstes Jahr gewählt. | |
Die Ampel hat noch weitere migrationspolitische Pläne: | |
Fachkräfteeinwanderung erleichtern, unabhängige Asylverfahrensberatung | |
einführen, Staatsangehörigkeitsrecht reformieren. Erkennen Sie in diesen | |
Vorhaben den versprochenen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik? | |
Die Ampel strebt viele positive Veränderungen an, die wir klar begrüßen. | |
Dass Asylsuchende nach der Einreise endlich unabhängig über das | |
Asylverfahren beraten werden und nicht mehr vom Bundesamt für Migration und | |
Flüchtlinge, ist ein unfassbar wichtiger Schritt. Aber im jetzigen ersten | |
Aufschlag sehen wir eben auch viele Zugeständnisse an die Union und ihre | |
Stimmungsmache. Nicht zufällig spricht Bundesinnenministerin Nancy Faeser | |
gerade dauernd von illegaler Migration und Grenzschutz. Kampfbegriffe, wie | |
sie auch von ihrem Vorgänger Horst Seehofer hätten kommen können. | |
Währenddessen verlieren immer noch Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer. | |
Ein humanitärer Paradigmenwechsel sieht anders aus. | |
20 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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