# taz.de -- Braunes Erbe: Opa war ein Neonazi | |
> Nach Großvater Richards Tod erfährt seine Familie, dass er Nazis mit Geld | |
> gefördert hat. Sein Enkel will es genauer wissen. | |
Richard hatte seine eigene Beerdigung geplant. Jahre vor seinem Tod schrieb | |
er seine Trauerrede, die er „Aufzeichnungen für diesen Tag heute“ nannte. | |
Er erzählt darin, wie wichtig ihm Familie war und Kinder, die die Zukunft | |
seien. Wie verbunden er mit Natur und Land war – und wie er zur | |
„germanischen Weltanschauung“, „seinen Wurzeln“, fand. Dass er ein Glied | |
einer langen Ahnenkette sei und dass er glaube, dass Gedanken auch nach dem | |
Tod bestehen blieben. | |
Der einzige Satz, der in der tatsächlich gehaltenen Rede schließlich nicht | |
auftauchte, lautet so: „Stark bewegt, geschichtliches Werden sehend, nahm | |
er Anteil an der heutigen deutschen Not und tat das Seine, sie mildern zu | |
helfen.“ | |
Wenn ich an Richard denke, den ich nie Opa, aber früher mal Großvati | |
genannt habe, denke ich an ihn mit dem Blick eines Zehnjährigen, wie er in | |
seinem dunklen Büro sitzt, Vorhänge zugezogen, alle Bücherregale aus | |
dunklem Holz, er raucht Pfeife. Es riecht süßlich. Meine jüngere Schwester | |
erinnert mich daran, wie wir als Kinder munkelten, es gäbe einen geheimen | |
Gang hinter einem der Regale. Einmal zieht er ein Buch aus einem Regal und | |
gibt es mir zum Lesen. Diese ganze fast schon mystische Atmosphäre zog mich | |
an. | |
Mein Großvater ist in den Jahren danach an Demenz erkrankt, erblindet und | |
taub geworden. Im November 2019 stirbt er im Alter von 89 Jahren. Kurz nach | |
der Beerdigung ruft mich mein Vater an und erzählt mir von einem Darlehen – | |
er und seine Brüder haben beim Ordnen des Nachlasses einen Vertrag | |
gefunden: 1998 hatte Richard 60.000 Mark einem [1][Andreas Iloff geliehen, | |
Hufschmied und „heute ein AfDler“]. Als ich den Namen höre, erinnere ich | |
mich, wie ich Iloff auf einem Besuch bei Richard einmal begegnet bin. | |
Es sind nur ein paar Klicks, bis ich weiß, dass Iloff damals, 1998, vom | |
niedersächsischen Verfassungsschutz beobachtet wurde – wegen seiner | |
rechtsextremen Umtriebe. Iloff war bei den Hooligans gegen Salafisten | |
dabei, einer Gruppe von rechtsextremen und islamfeindlichen Fußballfans, | |
bekannt auch unter dem Akronym Hogesa; er nahm an Neonazitreffen teil | |
und veranstaltete auf seinem Grundstück im ländlichen Niedersachsen | |
Zeltlager unter anderem mit Mitgliedern der verbotenen Heimattreuen | |
Deutschen Jugend. | |
In der Szene nennt er sich Adrich und feiert mit rechtsextremen Kumpanen | |
Winter- und Sommersonnenwenden nach germanischem Vorbild. [2][Nach | |
Recherchen von Andrea Röpke und Andreas Speit für die taz], die sie 2017 | |
veröffentlichten, sind letztere Aktivitäten Teil des geheimen, | |
rechtsextremen Ordens Deutscher Bund, für den Iloff zumindest 2014 | |
„Gemeinschaftssprecher“ war. | |
Diese Organisation arbeitet an einer Neugründung des Deutschen Reichs, | |
behauptet von sich, eine „Graswurzelbewegung“ zur „Bewahrung der deutschen | |
Eigenart“ zu sein. Sie argumentiert antisemitisch – so wird auf einer | |
Einladung vom „Dreieck des Volkstodes“ geschrieben, darunter ein | |
sechseckiger Davidstern. Der Deutsche Bund ist zur Reichsbürgerbewegung zu | |
zählen. | |
Mein Vater sagte mir am Telefon, Richard habe gewollt, dass genau dieser | |
Iloff seine Trauerrede hielte. Richards zweite Frau, meine Stiefgroßmutter, | |
ließ das am Ende nicht zu. | |
Ich frage mich: Warum lieh mein Großvater einem die Germanen feiernden | |
Neonazi so viel Geld? Einem Mann, mit dem er offenbar so gut befreundet | |
war, dass dieser seine Trauerrede halten sollte? Wer war mein Großvater | |
wirklich? Und wozu war das Geld gedacht? | |
Mein Vater erzählte mir, dass er mit Iloff telefoniert hätte. Er und seine | |
zwei Brüder wollten versuchen, das Geld zurückzuholen. Immerhin war es ein | |
Darlehen und wurde nie zurückgezahlt. Iloff habe ihm erzählt, dass das Geld | |
für den Aufbau einer Jugendorganisation bestimmt gewesen sei. | |
Ich fange an, Aussagen Richards, denen ich früher nicht viel Wert | |
beigemessen habe, neu einzuschätzen. Das Wissen über das Darlehen und diese | |
Freundschaft rückt für mich alles in ein anderes Licht: die E-Mails an | |
meine Eltern, in denen er uns vor der Schweinegrippeimpfung warnte, | |
weil dabei Mikrochips unter die Haut gepflanzt würden, oder in denen er | |
schrieb, dass gehirnkontrollierende Gase bei Flugreisen über die | |
Klimaanlagen eingeleitet würden; das eine Mal, dass er meinem Vater | |
erzählte, während ich als kleines Kind danebenstand, dass die | |
Bundesrepublik rechtlich gesehen nicht existierte. | |
Kurz vor seinem Tod entdeckte ich während eines Familientreffens auf seinem | |
Grundstück eine Hütte, in der ein Haufen Vorräte gelagert waren: etwas, das | |
Richard offenbar auch meinen Eltern sowie der gesamten Familie zu tun | |
geraten hatte, „für den Ernstfall“, wie ich später erfahre. | |
In der Familie war Richards Haltung schon lange bekannt. Doch wir machten | |
uns darüber lustig – er war eben ein Kauz. Mein Vater fasst die Haltung der | |
Familie ganz gut zusammen: „Vielleicht liege ich falsch, aber für mich war | |
Richard immer reiner Theoretiker. Zwischen dem, was er sagte, und dem, was | |
er tat, war immer ein großer Unterschied.“ Heute denke ich, dass Richards | |
Aussagen und Haltungen ausreichend deutliche Alarmzeichen waren. Zumindest | |
aber nach diesen neuen Ereignissen müsste doch ein Gespräch in der Familie | |
darüber stattfinden, glaube ich. Tut es aber nicht. Warum? | |
Dass meine Familie nicht darüber spricht, ist gar nicht so einzigartig. | |
[3][Harald Welzer], Sabine Moller und Karoline Tschuggnall haben in ihrer | |
Studie „Opa war kein Nazi“ von 2003 dazu geforscht, wie in Familien die | |
Nazivergangenheit ihrer Mitglieder verhandelt wird. Wegen der emotionalen | |
Bindungen werden Episoden, in denen Angehörige nicht moralisch sauber | |
gehandelt haben, verschwiegen oder ins Gute gedreht. | |
Die Tendenz, den Menschen, die uns nahestehen, einen moralisch | |
einwandfreien Charakter zuzuschreiben, ist ziemlich stark, fanden die | |
Wissenschaftler:innen heraus. | |
Für diesen Text spreche ich mit einigen Familienmitgliedern. Zwei von | |
Richards drei Söhnen reden mit mir, mein Vater und sein jüngerer Bruder; | |
der älteste möchte nicht. Mein Vater und sein Bruder sagen, dass sich an | |
ihrer Einschätzung Richards durch das Darlehen nichts geändert habe. Sie | |
positionieren sich zwar deutlich gegen seine Ansichten, waren aber zeit | |
seines Lebens zufrieden, wenn er sie damit in Ruhe ließ. Und offensichtlich | |
wollen sie auch nach seinem Tod nichts damit zu tun haben. | |
Das halte ich für falsch. Denn wenn wir einen antifaschistischen | |
gesellschaftlichen Konsens haben wollen und „Nie wieder!“ rufen, dann | |
müssen wir bereits im engsten Beziehungskreis die Augen offen halten und | |
diesen damit konfrontieren, wenn Gedankengut menschenfeindlich ist. | |
Aus Sicht der Familie war Richard lediglich ein isolierter Mann, der sich | |
in seinen rechtsextremen, nostalgischen [4][Verschwörungsgedanken] verlor | |
und ihr ab und an vom Schreibtisch aus sein Weltbild per E-Mail kundtat. | |
Mich irritiert das. Ich vermute, dass Richard mehr als das war, schon | |
aufgrund des Darlehens, das nach seinem Tod bekannt geworden ist. | |
Ich glaube, dass es meine Verantwortung ist, mich mit Richards Leben und | |
Wirken ernsthaft auseinanderzusetzen. Ich frage mich, welches politische | |
Erbe Richard hinterlassen hat, und: Was ist aus den 60.000 Mark geworden? | |
Ich habe Richard kennengelernt, als ich acht Jahre alt war. Knapp zehn | |
Jahre lang hatte mein Vater kaum Kontakt mehr zu ihm gehabt, bis meine | |
ältere Schwester unseren Großvater kennenlernen wollte. Großvati, so wollte | |
er von uns genannt werden, war nicht sehr nahbar, roch seltsam und war in | |
meinen Augen ziemlich greis. Er sprach kaum mit uns, als wir ihn zum ersten | |
Mal gemeinsam besuchten, das Reden übernahm meine Stiefgroßmutter. | |
In Erinnerung geblieben ist mir vor allem das 2,5 Hektar große Grundstück | |
bei Diepholz in Niedersachsen, auf dem wir Kinder viel Platz zum Spielen | |
hatten. Auf einer großen Wiese durften wir mit Pfeil und Bogen auf | |
Zielscheiben aus Stroh schießen. In der Mitte des Grundstücks stand ein | |
altes Bauernhaus. Rundherum hatte meine Stiefoma viel Arbeit in den Garten | |
gesteckt: Es gab einen Rosengarten, Rundwege, einen Obst- und Gemüsegarten, | |
eine Laube. | |
Im Haus, das nach muffigen Teppichen und abgestandener Luft roch, wohnte | |
Richard mit meiner Stiefgroßmutter und ihrem Pflegesohn, der heute in einer | |
Einrichtung für betreutes Wohnen lebt. | |
Über die Jahre hatten wir weiterhin kaum Kontakt zu meinem Großvater, ein | |
Mal war ich für eine Woche allein bei ihm und seiner Frau. Ich war zehn | |
oder zwölf Jahre alt und las in dieser Woche so viel, dass ich neue Bücher | |
brauchte. | |
Richard gab mir daraufhin zwei historische Romane: einen über Widukind, den | |
sächsischen Herzog, der gegen die Franken unter Karl dem Großen kämpfte, | |
einen über Arminius oder Hermann, Anführer der Cherusker, die gegen die | |
Römer kämpften, und Sieger der berühmten Varusschlacht. Richard behauptete, | |
wir – also er und ich – würden direkt von Widukind und auch von Karl dem | |
Großen abstammen. | |
In dieser Woche lernte ich beim Abendessen auch Andreas Iloff als einen | |
Freund Richards kennen. Ich erinnere mich, dass er schnell aß, während ich | |
gemütlich meine Pizza vor mich hin mümmelte. „Wer schnell isst, arbeitet | |
auch schnell“, sagte er und taxierte mich mit strengem Blick. Iloff sei | |
Hufschmied von Beruf, sagte Richard. Das fand ich spannend. Ich durfte ihn | |
einen Tag begleiten, wir fuhren von Hof zu Hof, um Pferde zu beschlagen. | |
Im Nachhinein frage ich mich noch bei den kleinsten Dingen, an die ich mich | |
aus dieser Woche erinnere, ob sie kalkuliert waren, um mich ideologisch zu | |
lenken. Mit Sicherheit sollten die Bücher über Widukind und Arminius mich | |
von den von rechten Kräften zu Protodeutschen stilisierten Figuren | |
faszinieren und mich für sie einnehmen. | |
Kurzzeitig wirkte das sicherlich: In Richards Stube wacht bis heute ein | |
großes Familienwappen aus Metall. Auch davon war ich fasziniert. Mein Vater | |
erzählte mir dann, dass es von Richards Vater Paul, meinem Urgroßvater, | |
entworfen worden war, um unserer Familie einen quasi adeligen Anstrich zu | |
verpassen. | |
Das Verhältnis zu seinem Vater könnte für Richards politische Entwicklung | |
prägend gewesen sein. Am Telefon erzählt mir Richards Halbschwester zwar, | |
dass Paul „Pazifist und Antinazi“ gewesen sei, von meinem Vater höre ich | |
jedoch, dass Paul während der NS-Zeit Reden für einen ranghohen Offizier | |
geschrieben hatte. Später soll Paul sie als „auf Diktat“ markiert haben, um | |
so einer Bestrafung zu entgehen, als habe er sie unfreiwillig geschrieben. | |
Im Zweifel gegen den Angeklagten, denke ich mir, zumindest was die NS-Zeit | |
betrifft. | |
1984, im Alter von 88 Jahren, kam Paul mit einem Oberschenkelbruch ins | |
Krankenhaus. Mein Vater sagt, dass Paul, im Rollstuhl sitzend, das | |
Balkonfenster öffnete, nach draußen rollte und sich über das Geländer | |
stürzte. Später erfahre ich von meiner Stiefoma, dass Pauls Suizid an dem | |
Tag geschah, als Richard und sie heiraten wollten. Der Tod seines Vaters | |
habe Richard geschockt. | |
Er hängte ein Porträt von ihm bei ihnen auf und führte die von Paul | |
begonnene Ahnenforschung fort. Die Familienforschung, so spekuliert mein | |
Onkel am Telefon, könnte wohl der Ausgangspunkt gewesen sein, sich mit | |
rechtem Gedankengut zu beschäftigen. | |
Zur Zeit des Todes seines Vaters fing Richard an, sich intensiver mit den | |
Germanen auseinanderzusetzen, las die „Edda“, die Sammlung nordischer | |
Götter- und Heldensagen, und erzählte meinem Vater, dass das Christentum | |
nicht „in unsere Breitengrade“ passe. Es habe „unsere Wurzeln“ ausgelö… | |
Bis dahin war Richard viele Jahre Mitglied der [5][SPD] gewesen, trat in | |
dieser Zeit aber aus. | |
Anfang/Mitte der 90er zogen Richard, meine Stiefoma und ihr Pflegesohn in | |
die niedersächsische Provinz nahe Diepholz. Das Grundstück abgeschieden, | |
die Nachbarn Hunderte Meter weit weg. Mein Vater, der bis zu diesem | |
Zeitpunkt von den Söhnen die wohl engste Beziehung zu Richard hatte, | |
distanzierte sich mehr und mehr: In Briefen diskutierten sie über das, was | |
sie weltanschaulich trennte, „aber wir redeten aneinander vorbei“, wie mein | |
Vater sagt. | |
Ereignisse dieser Art häuften sich, Resultat war der Abbruch des Kontakts | |
für knapp zehn Jahre. 2004 tritt Richard, mit dem Wunsch meiner älteren | |
Schwester, ihren Großvater kennenzulernen, wieder ins Leben meiner Eltern. | |
Auch meine Onkel wissen über die Zeit zwischen 1995 und 2004 nicht viel | |
mehr als mein Vater. | |
Alle drei Söhne hatten nur sporadisch Kontakt zu ihm. Und alle hatten | |
Richard gesagt, dass sie mit ihm nicht über seine Verschwörungstheorien | |
sprechen wollten, also hörte er größtenteils auf, in Gesprächen, Briefen | |
und E-Mails davon zu reden. | |
Als der Kontakt wieder da war, fing Richard an, meinen Eltern Fotokopien | |
von Texten rechter Verlage wie Pour le Mérite zuzusenden, bis meine Mutter | |
ihm das untersagte. Im Netz finden sich noch Leserbriefe, die Richard an | |
die rechte Zeitung Junge Freiheit geschrieben hat. Es gibt auch einen | |
Indymedia-Artikel über Iloff, worin Richard als Freund Iloffs namentlich | |
genannt wird. Der Artikel beschreibt, wie sie Sonnenwenden feiern, | |
Keltenkreuze aufstellen und sich als Germanen inszenieren – Protodeutsche | |
in ihren Augen. | |
Die Aussagen meiner Familie, die mir helfen, Richards Lebensgeschichte | |
zusammenzustückeln, und die dürftige Onlinerecherche sind mir noch zu vage. | |
Ich möchte mit Andreas Iloff selbst sprechen. Ich möchte in Richards Haus | |
und dort in seinem Büro nach Dokumenten suchen. Und ich möchte mit meiner | |
Stiefgroßmutter sprechen. | |
Zuerst treffe ich mich mit ihr. Sie lebt in einem Pflegeheim. Sie möchte | |
nicht, dass ich Richard in eine Ecke mit Iloff stelle. Mehrfach bittet sie | |
mich, „vorsichtig damit“ zu sein. Sie erzählt mir von den gemeinsamen | |
Reisen zum Beispiel nach Indonesien als Rucksacktouristen. Sie hat dazu | |
Fotoalben mit langen Texten gestaltet. Meine Stiefoma beschreibt Richard | |
als den „liebsten und nettesten Menschen“, den sie je gekannt habe. | |
Dann spricht sie über seine Freundschaft zu Andreas Iloff. Sie sagt wieder, | |
dass ich Richard nicht in eine Ecke mit Iloff und dessen Freunden stellen | |
solle. Was Richard getan habe, sei immer harmlos gewesen. Sie nennt es | |
„Deutschtümelei“ und sieht es als einen „Spleen“. Er habe viel geschri… | |
und soll Iloff häufig Texte gezeigt haben, die sie gemeinsam besprochen | |
hätten. Er habe immer mal wieder Vorträge für Iloff korrigiert. Man könnte | |
auch sagen: Der Vater schrieb Reden für die alten Nazis, der Sohn für die | |
neuen. | |
Ich frage sie nach den 60.000 Mark, die Richard Ende der 90er Jahre Iloff | |
geliehen hat. Sie hätten es „auf Halde“ gehabt, meint sie. Und es sei in | |
den Kauf des Hofs geflossen, den Iloff bis heute besitzt. Er nennt ihn | |
Auehof. Ich recherchiere zum Auehof. Die Vereine Freundschaftskreis | |
Deutschland und Gemeinschaftswerk Auehof haben ihren Sitz auf dem Hof. | |
Sie wurden von Iloff – und vermutlich auch Richard – mit gegründet und | |
wurden mindestens seit 1999 vom niedersächsischen Verfassungsschutz | |
beobachtet. Iloff sagt, zumindest öffentlich, dass die Vereine inzwischen | |
nicht mehr aktiv seien. Das Geld floss also nicht in den Aufbau einer | |
Jugendorganisation, wie ich anfangs dachte, sondern in einen Hof, auf dem | |
Neonazizeltlager stattfanden. | |
Nach dem Gespräch mit meiner Stiefgroßmutter fahre ich mit ihr und meinem | |
Vater zu Richards Bauernhaus. Es ist das erste Mal seit Richards Tod, dass | |
mein Vater oder ich hier sind. In Richards Büro hoffe ich noch mehr | |
herauszufinden. | |
Der Raum ist ein Archiv seines völkischen Denkens. Als Erstes sehe ich | |
„Mein Kampf“, eine Ausgabe von 1936 mit Lesezeichen darin. Eine Regalwand | |
seiner Bibliothek ist voller rechter, völkischer, | |
verschwörungstheoretischer Schriften, Zeitschriften wie das Deutschland | |
Magazin liegen verstreut auf einem Beistelltisch. In einer Ecke steht ein | |
alter PC auf einem niedrigen Tisch. Ich habe die Zugangsdaten nicht. | |
Im Schlafzimmer sind noch mehr rechte Bücher und Schriften, Flyer, | |
Einladungen, alles Mögliche, alles durcheinander. Dazwischen unverfängliche | |
Biografien, Kunstbände, Wörterbücher. Auch Lenins gesammelte Werke liegen | |
rum, gängige Trivialromane. | |
Aber auch: ein Buch, das die Existenz von Reptiloiden propagiert; ein | |
Schreiben einer Anwältin, die sich als Vertreterin des Deutschen Reiches | |
sieht und in Karlsruhe klagt; eine E-Mail von einer Gruppe von Finnen, die | |
sich mit Deutschland verbunden fühlen, weil ihre Großväter bei der | |
finnischen SS waren; ein amerikanisches Nazimanifest; Bücher mit Titeln wie | |
„Gleichheitswahn – Parteienwahn“ oder „Stalins verhinderter Erstschlag�… | |
nebst Büchern wie dem nationalsozialistischen „Der verratene Sozialismus“ | |
von Karl Albrecht und dem shoahrevisionistischen und antisemitischen „Die | |
Lüge spricht zwanzig Sprachen“. | |
Mein Vater ruft mich ins Schlafzimmer und zeigt mir einen Stapel | |
ringgebundener Texte, wohl aus dem Internet ausgedruckt. Zuoberst zwei | |
Exemplare von Hitlers „Mein politisches Testament“. „Das ändert mein Bild | |
von Richard schlagartig“, sagt mein Vater. Erst dieses konzentrierte | |
Nazitum in Richards Privaträumen hat ihn davon überzeugt, dass Richard kein | |
verwirrter Kopf war – oder nicht nur. | |
Am gleichen Tag bin ich mit Andreas Iloff verabredet. Iloff ist seit 2013 | |
in der AfD, seine anderen rechtsextremen Aktivitäten scheint er | |
weiterzuverfolgen. Am Telefon war er sehr freundlich. Er habe Richard immer | |
als „Oheim“ gesehen, von dem er „politisch viel gelernt“ habe. Iloff fr… | |
sich anscheinend, dass ich mich für meinen Großvater interessiere und für | |
die Freundschaft zwischen den beiden. Ich erzähle ihm, dass ich aus meiner | |
Recherche einen Text verfassen möchte, was ihn nicht davon abbringt, sich | |
mit mir zu treffen. | |
Ich fahre zum Auehof. Vor dem Gelände steht eine Säule aus Metall, eine | |
Nachbildung der Irminsul, eines heidnischen Heiligtums der Sachsen, das | |
Karl der Große zerstören ließ. Sie wird von Rechten und Rechtsextremen | |
genutzt, um den Mythos des Germanentums fortzuspinnen, als Symbol für den | |
Kampf gegen „das Fremde“. | |
Zwei Deutschlandflaggen sind gehisst, sie sehen ein wenig zerrupft aus. Ich | |
rufe, niemand reagiert. Auch auf mein Klingeln passiert nichts. Nach | |
einigen Minuten sehe ich Iloff auf dem Hof laufen und rufe wieder. | |
Ich nenne meinen Namen, er erinnert sich. Das Treffen hat er vergessen. | |
Jetzt müsse er seine Kinder wegfahren und habe keine Zeit. Trotzdem spricht | |
er kurz über Richard. Dieser sei „schuld“ gewesen, dass er nun in der | |
Politik sei. Richard sei eine der gutmütigsten Personen gewesen, die reale | |
Politik wäre nichts für ihn gewesen, „diese Schlangengrube“. | |
Auch sei er weder rechts noch links gewesen, sondern hätte sich Probleme | |
von allen Seiten angesehen und dann die „richtigen Schlüsse“ daraus | |
gezogen. Die beiden hätten viele lange und fruchtbare Diskussionen gehabt. | |
Iloff muss los, wir wollen am nächsten Tag telefonieren, und er erzählt mir | |
noch mehr. | |
Den Namen Adrich habe Richard ihm damals gegeben. Kennengelernt hätten sie | |
sich bei einem Treffen 1993 in Verden. Aus Unterlagen in Richards Büro weiß | |
ich, dass Richard aktiv im Deutschen Bund war. 1993 gab es den Unterlagen | |
nach ein Treffen des Bundes in Verden. Iloff sei damals „junger Soldat“ in | |
Wildeshausen in Niedersachsen gewesen und habe niemanden gekannt. Über | |
solche Treffen habe er Anschluss gefunden. | |
Iloff sagt, die beiden hätten sich über 15 Jahre lang mindestens einmal die | |
Woche getroffen. Sie hätten sich ausgetauscht, gegenseitig politisiert, | |
wobei Richard ihn, Iloff, ein wenig abgemildert habe. Richard habe ihn | |
mitgeformt, immer gefordert: „Untermauer das.“ Deshalb habe Iloff in | |
Richard einen Mentor gesehen. Das wolle er nun an die nächste Generation | |
weitergeben. | |
Es sei auch Richard gewesen, der ihm gesagt habe, dass man ein Stück Land | |
bräuchte, und ihn zum Kauf des Hofes anregte – und dafür das Geld mittels | |
des Darlehens beisteuerte. In den beiden Vereinen hätten sie sich mit | |
Renovierung und Aufbau des Hofes befasst. Aus meiner Recherche weiß ich, | |
dass sie sich dort auch mit anderen Rechtsextremen vernetzten und | |
germanische Rituale feierten. Auf dem Hof fanden einige Neonazitreffen | |
statt. | |
Iloff erzählt, dass sich Richard Winold nannte. Richard sei ein | |
„metapolitischer“ Mensch gewesen. Die Neue Rechte nutzt diesen Begriff | |
häufig. Es geht dabei um eine Strategie, Bereiche, die vordergründig nicht | |
politisch sind, mit der eigenen Weltanschauung zu füllen und entsprechend | |
zu formen. So will die Neue Rechte dann auch den eigentlich politischen | |
Raum erobern. | |
Mein Großvater hat einen der rechtesten AfDler in Norddeutschland, Andreas | |
Iloff, massiv politisch geprägt und einen Treffpunkt der rechten Szene | |
finanziert. Über dem Computer in seinem Büro hängt ein von Richard | |
geschriebener Zettel, auf dem so etwas wie sein Motto steht: „Hoher Geist | |
und Geldkraft ermächtigen mein Land und die Seinen“. | |
Er hat sich in verschiedenen rechten und rechtsextremen Vereinigungen | |
betätigt. Über vermeintlich „kulturelle“ Aktivitäten und intellektuelles | |
Wirken hat er die neurechte Szene beeinflusst. In welchem Ausmaß dies | |
geschah oder wie wirkungsvoll er innerhalb der Szene war, kann ich nicht | |
sagen. | |
Ich weiß auch nicht, wie einflussreich der Deutsche Bund tatsächlich ist | |
und ob Richard in späteren Jahren dort noch aktives Mitglied war. Dass sein | |
Weltbild und sein Tun – anders als von seinen Söhnen und dem Rest der | |
Familie gedacht und blind gehofft – durchaus Hand in Hand gehen, ist ein | |
Fakt, dem sich meine Familie wird stellen müssen. | |
Wie solch eine Auseinandersetzung richtig abläuft, möchte ich nicht | |
bestimmen. Allein in diesen Prozess zu gehen, ist schon ein wichtiger | |
Schritt, glaube ich. Denn wenn wir nicht zu dem, was wir ablehnen, in | |
Konfrontation gehen, lehnen wir es dann wirklich ab? Die Auseinandersetzung | |
mit dem „politischen Erbe“ meines Großvaters zum Beispiel wird den Rechten | |
in Deutschland das Leben nicht direkt schwerer machen; auch geht es erst | |
mal nicht darum, irgendwen politisch zu bekehren. | |
Vielmehr schärfen diese Auseinandersetzungen unsere Identität in eine | |
antifaschistische Richtung, was dann in der Folge hoffentlich unser Handeln | |
beeinflusst. | |
Man hätte Richard, als er noch lebte, sicherlich nicht einfach in einer | |
Diskussion von seinen Ansichten abgebracht. Mein Vater hatte es eine Zeit | |
lang versucht und es nicht geschafft. Vielleicht ist auch ein kompletter | |
Beziehungsabbruch möglich, wobei das in meiner Familie auch nicht passiert | |
ist. Bestimmt war es aber keine Lösung, so zu tun, als wäre diese Seite | |
nicht Teil meines Großvaters. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich mit | |
dem politischen Handeln Richards auseinanderzusetzen. | |
Das ist für die Söhne natürlich schwieriger als für mich, der ich kaum eine | |
emotionale Bindung zu meinem Großvater hatte. Sie sind mit ihm aufgewachsen | |
und müssen ihn auf verschiedenen Ebenen bewerten. Nach unserem gemeinsamen | |
Besuch von Richards Büro habe ich noch mal mit meinem Vater telefoniert. Er | |
will sich jetzt ganz offen mit seinem Vater befassen – und dabei nichts | |
ausblenden. Das ist schon mal ein Anfang, denke ich und sage ich ihm. | |
Der Versuch, das Darlehensgeld zurückzuholen, hat nicht geklappt. Auf der | |
Urkunde fügte mein Großvater am Tag der Unterzeichnung handschriftlich | |
hinzu, dass im Falle seines Todes das Geld an Iloff geht. Nach rechtlicher | |
Beratung entschieden mein Vater und seine Brüder, es nicht weiter zu | |
probieren. | |
Dass die zwei Vereine um den Auehof nicht mehr aktiv sind, ist glaubhaft. | |
Richard scheint dort wichtiger Bestandteil der Aktivitäten gewesen zu sein. | |
Diese werden sich nach seinem Tod verlagert haben. Iloff hat sich einen | |
bürgerlicheren Anstrich verpasst. Seit einigen Jahren gibt es keine | |
Berichte mehr über Neonazitreffen auf dem Gelände. | |
Mein Großvater Richard war nicht nur ein überzeugter Rechter, sondern | |
vernetzte sich mit anderen, schrieb und dachte die Ideologie weiter. Das | |
widert mich an. Und gleichzeitig bin ich ihm in vielen Punkten ähnlich, | |
Resultat der familiären Bande, schätze ich. Unter anderem Andreas Iloff | |
wies mich darauf hin, als ich sagte, dass ich Kulturwissenschaften | |
studiere. „Das hätte ihm gefallen“, weil er sich auch viel mit Kulturen | |
auseinandergesetzt habe. | |
Auch ich betreibe so etwas wie Ahnenforschung. Auch ich beschäftige mich | |
mit vielen Themen auf einer intellektuellen Ebene. Dass ich dabei eine | |
andere Perspektive einnehme, Ahnenforschung betreibe, um das | |
menschenverachtende Weltbild meines Großvaters und seines Vaters zu | |
beleuchten, ist eine tröstliche Differenz. | |
Ich werde auch demütig. Wir, die Menschen mit Nazihintergrund, haben selbst | |
nichts verbrochen, doch sollte unsere moralische Überlegenheit nicht dazu | |
führen, dass wir blind werden für die eigenen Unzulänglichkeiten. | |
Deshalb frage ich euch: Welche Nazis sind in eurem Familienkeller | |
versteckt? | |
5 Jun 2021 | |
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