# taz.de -- Bebauung von Friedhöfen: Grüne Infrastruktur in Gefahr | |
> Ein Biotop auf einem ehemaligen Friedhof in Berlin-Neukölln soll | |
> Eigentumswohnungsbau weichen. Angesichts der Klimakrise sorgt das für | |
> Protest. | |
Bild: Bedrohtes Biotop mitten in der Großstadt: Der Emmauskirchhof | |
BERLIN taz | Abseits des Weges, inmitten des mit Efeu überwachsenen | |
Waldbodens, liegt ein einsamer Grabstein. Die Messingletter auf der | |
quadratischen Granitplatte sind noch gut zu erkennen: „Unvergessen, Hermann | |
Krause, 1900–1973“. Spaziert man weiter über das verwilderte Gelände des | |
Emmauskirchhofs, stellt sich die Frage, ob tatsächlich noch jemand | |
regelmäßig an Herrn Krause denkt? | |
Als Friedhof wird der Emmauskirchof im Süden Neuköllns schon seit Jahren | |
nicht mehr genutzt – die letzten Beisetzungen erfolgten in den 1980er | |
Jahren. Dafür konnte sich die Natur in den letzten Jahrzehnten auf dem | |
Gelände weitgehend ungehindert ausbreiten. Zu den dickstämmigen Laubbäumen, | |
die einst für den Friedhof gepflanzt wurden, gesellt sich nun ein junger | |
Wald aus Fichten und Douglasien. Dazwischen dichtes Unterholz, dass kaum | |
ein Durchkommen zulässt. | |
„Der Bewuchs auf allen Ebenen macht den Emmauswald ökologisch besonders | |
wertvoll“, erklärt Anwohnerin Selma, die ihren vollen Namen nicht in der | |
Zeitung lesen will, bei einem Spaziergang über das Gelände. Totholz bleibt | |
hier einfach liegen – [1][ein Paradies für Insekten, Pilze und | |
Mikroorganismen]. | |
Doch bei Wohnraum für Insekten, Pilzen und Vögeln soll es nicht bleiben. | |
Sieben fünfstöckige Gebäuderiegel will das private Wohnungsbauunternehmen | |
Buwog hier errichten, mitsamt Tiefgaragen und befestigter Durchwegung. | |
Insgesamt plant die Vonovia-Tochter 441 Eigentumswohnungen auf dem 3,9 | |
Hektar großen Gelände. Für eine solch umfangreiche Bebauung müsste ein | |
Großteil der Bäume und Vegetation gerodet werden, fürchtet Selma, die sich | |
in der Anwohner:innenintiative „Emmauswald bleibt“ gegen die Pläne | |
einsetzt. „Trotz Klima- und Biodiversitätkrise werden die letzten | |
ökologisch wertvollen Flächen des Bezirks vernichtet.“ | |
## Schon viel zu viel versiegelt | |
Ginge der „Emmauswald“, wie die Initiative das Biotop nennt, verloren, | |
würden nicht nur Tiere und Pflanzen darunter leiden, sondern auch die | |
Menschen. „Es wurde in der Gegend schon wahnsinnig viel versiegelt“, sagt | |
Selma und deutet auf die weiß blitzenden Fassaden der Neubauten, die am | |
Rande des Friedhofsgeländes bereits fertiggestellt worden sind. Dabei | |
stünden in den Neubaugebieten noch viele Wohnungen leer, sagt Selma. Nicht | |
verwunderlich bei [2][Quadratmeterpreisen von bis zu 24 Euro] kalt pro | |
Monat, die auf der Plattform Immobilienscout für die Wohnungen verlangt | |
werden. | |
Berlins Bevölkerung wächst, laut aktueller Prognose des Bundes könnte sie | |
in 30 Jahren das erste Mal seit 1944 die 4-Millionen-Marke überschreiten. | |
Um den steigenden Bedarf an Wohnraum zu decken, setzt der Senat vor allem | |
auf Neubau. 20.000 Wohnungen wollte die frühere von Franziska Giffey | |
geführte rot-grün-rote Koalition jährlich bauen – ein Ziel, das auch die | |
kommende Koalition von CDU und SPD weiterverfolgen will. | |
Da es besonders in den Innenstadtlagen kaum noch unbebaute Grundstücke | |
gibt, rücken immer öfter Flächen in den Fokus, die bislang anderweitig | |
genutzt werden: Supermärkte, Parkplätze oder eben ehemalige Friedhöfe. Doch | |
in dem hochkomplexen System Stadt reicht es nicht aus, einfach nur | |
Wohnungen zu bauen. Es bedarf auch allerhand Infrastrukturen, die das Leben | |
in der Stadt erst möglich machen: Neben Straßen, Strom, Schul- und | |
Kitaplätze gehören auch Grünflächen dazu. | |
## Pläne von gestern | |
Diese grüne Infrastruktur ist ein wichtiger Bestandteil, mit den Folgen der | |
Klimakrise in den Städten umzugehen. Während Hitzewellen kühlen sie durch | |
Verdunstung und spenden Schatten; bei Starkregen speichern sie Wasser. „Im | |
Sommer merke ich schon von meiner Wohnung aus, wie der Wald kühlt“, | |
berichtet Selma begeistert. | |
[3][Trotz ihrer steigenden Bedeutung sind Grünflächen bislang nur | |
unzureichend geschützt.] Zwar will Berlin die Neuversiegelung bis zum Jahr | |
2030 auf Netto-Null senken – was allerdings bedeutet, dass lediglich eine | |
entsprechende Ausgleichsfläche geschaffen werden muss, wenn ein Grundstück | |
asphaltiert oder bebaut wird. Ökosysteme wie im Emmauswald benötigen aber | |
Jahrzehnte, um sich zu etablieren, oder bis neugepflanzte Bäume eine | |
vergleichbare Menge Kohlenstoff speichern. Zeit, die angesichts der | |
Klimakrise nicht bleibt. | |
Ein Mittel, was den Bezirken bleibt, ist, keine Bebauungspläne für | |
wertvolle Biotope wie den Emmauswald aufzustellen. „So etwas würde man | |
heute nicht mehr so planen“, sagt der zuständige Baustadtrat des Bezirks | |
Neukölln Joachim Biedermann (Grüne) gegenüber der taz. Allerdings seien die | |
Planungen schon seit 2011 im Gange. Die letzte Hoffnung für den Emmauswald | |
liegt deshalb auf der Bezirksverordnetenversammlung, die in den kommenden | |
Wochen über den Bebauungsplan entscheidet. | |
4 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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