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# taz.de -- Autorin über Inklusion: „Ein behindertes Kind irritiert“
> Mareice Kaisers erste Tochter kam mit mehrfacher Behinderung zur Welt.
> Über die Herausforderungen eines inklusiven Alltags hat sie ein Buch
> geschrieben.
Bild: „Es gibt viele Barrieren in den Köpfen“, sagt Mareice Kaiser
taz: Frau Kaiser, Berlin als besonders offene und fortschrittliche Stadt –
stimmt das für ein Leben mit einem behinderten Kind?
Mareice Kaiser: Dazu fällt mir als Erstes unsere Suche nach einer
integrativen oder im besten Fall inklusiven Kita ein. Es gibt in
Friedrichshain-Kreuzberg ungefähr 240 Kitas, etwa die Hälfte betreut auch
Kinder mit Behinderungen, nur 50 arbeiten integrativ. Ich habe alle, die
infrage kamen, durchtelefoniert, eine Handvoll hat dann gesagt, wir könnten
mal vorbeikommen, aber es sei eher schwierig, gerade mit einem mehrfach
behinderten Kind. Das zeigt ja schon mal, wie wenig inklusiv und
barrierefrei Kreuzberger Kitas sind.
Vorher hatten Sie in Hamburg gelebt, warum sind Sie nach Berlin gezogen?
Aus Hamburg sind wir weggezogen, weil wir keine bezahlbare Wohnung für vier
Personen gefunden haben. Ich habe früher in Berlin gelebt und hatte
Heimweh, dann habe ich auf Anhieb eine Wohnung in meinem alten Kiez
gefunden. Mit dem Umzug wollten wir auch mit der schweren Zeit am Anfang
abschließen und noch mal neu anfangen.
Auf welche Barrieren ist Ihre Familie gestoßen?
Es gibt viele Barrieren in den Köpfen. Ein mehrfach behindertes Kind
irritiert. Überall. Weil behindertes Leben für Menschen ohne Behinderungen
nicht dazugehört und weil wir eben nicht in einer inklusiven Gesellschaft
leben. Wir haben dann ja eine Kita gefunden, in der wir mit offenen Armen
empfangen wurden. Dort habe ich auf jeden Fall so etwas wie eine inklusive
Haltung gespürt, auch in der Zusammenstellung der Familien mit Kindern aus
unterschiedlichen Herkunftskulturen und aus Regenbogenfamilien.
Sie schildern vieles aus einer Einzelkämpferperspektive. Ist das Netz von
Beratungsangeboten tatsächlich so löchrig?
Es gibt Beratungsangebote, das Problem ist aber, dass die nicht zu dir
kommen, sondern dass du zu denen kommen musst. Mit einem schwer
mehrfachbehinderten Kind hast du andere Sachen zu tun, als dich um Hilfe zu
kümmern. Gleichzeitig muss man erst lernen, dass man Hilfe annehmen darf.
Viele ziehen sich erst mal zurück, oft ist auch Scham dabei. Und du gehst
halt nicht so leicht raus wie mit einem nichtbehinderten, nicht
pflegebedürftigen Kind. Wir hatten eine Sauerstoffflasche, die meine
Tochter brauchte, einen Monitor, der piepste, Sachen für Darmspülungen.
Sie beschreiben auch, dass es viel mit Privilegien zu tun hat, was man
bekommt.
Ja, zum Beispiel bei dem Geschwisterwagen, den wir beantragt haben. Meine
große Tochter brauchte einen Reha-Buggy, weil sie nicht allein laufen
konnte, und die kleine konnte auch noch nicht so lange laufen. Ein
Geschwisterwagen ist aber nicht vorgesehen in den Krankenkassengesetzen.
Unser Berater meinte, das könnten wir vergessen. Ich hatte schon ein paar
Jahre Erfahrung und dachte immer, wenn ich das nicht durchkämpfe, macht es
keiner. Vielleicht können andere davon profitieren. Beim zweiten oder
dritten Widerspruch haben wir den Wagen bekommen. Jetzt ist es eine lustige
Anekdote, aber es ist eigentlich total traurig, dass Menschen, die eh schon
in sehr schwierigen Situationen sind, sich solchen Kämpfen aussetzen
müssen. Mich hat das viele Nerven und viel Zeit gekostet.
Diese Erfahrungen haben Sie auf Ihrem Blog weiterverbreitet; welche
Reaktionen haben Sie darauf bekommen?
Ich habe gemerkt: Wir sind nicht allein. Es passiert nicht nur uns, dass
Anträge von den Krankenkassen abgewiesen werden oder dass Ärztinnen und
Ärzte so wenig empathisch mit einem umgehen. Da stimmt etwas im System
nicht, und wenn wir uns darüber austauschen, können wir uns stärken. Im
Internet kann man sich gut gegenseitig unterstützen. Bei meinem Blog ging
es eher um einen emotionalen Austausch, aber es gibt auch Seiten, auf denen
man sich Vorlagen für Widersprüche herunterladen kann.
Was müsste sich politisch noch tun?
Bei Inklusion ist abgesehen vom nicht inklusiven Blick oft das Geld das
Problem. Das merkt man auch bei der Diskussion über inklusive Schulen. Alle
wollen sie, aber wenn es dann darum geht, eine Rampe irgendwo zu
installieren, ist kein Geld dafür da. Denen, die das zu entscheiden haben,
fehlt der Blick für Menschen mit Behinderungen, wenn sie nicht selbst
betroffen sind.
Sind denn die Probleme überall gleich?
In der Großstadt gibt es schon mehr Möglichkeiten. Gleichzeitig finde ich
es paradox, dass Berlin so tut, als wäre es eine Weltstadt, aber mit einem
Rollstuhl kommst du keineswegs überallhin. Jedes zweite Café hat Stufen,
die U-Bahn-Stationen sind nicht barrierefrei, die Fahrstühle immer kaputt.
Ich kann mich mit meiner Freundin nicht überall treffen, weil sie nicht
reinkommt mit dem E-Rolli. Aber gerade auch in Kreuzberg habe ich mehrere
Lieblingscafés, bei denen ich weiß, dass die Haltung inklusiv ist. Da gibt
es eine Rampe, und da ist es okay, wenn ich mein behindertes Kind auf der
Toilette anspülen muss und es stinkt.
Werden Sie sich weiter für Inklusion engagieren?
Meine Tochter hat etwas mit mir gemacht, und das ist nicht weg dadurch,
dass sie nicht mehr da ist. Ich habe einen anderen Blick bekommen und
Freundinnen und Freunde mit Behinderungen, die ich vorher nicht hatte, die
bleiben ja auch. Aktuell arbeite ich neben meiner Tätigkeit als
Journalistin für einen Verein, Eltern beraten Eltern von Kindern mit und
ohne Behinderungen. Dort arbeite ich seit einem Jahr an einem Projekt für
geflüchtete Familien mit behinderten Kindern. Ich glaube nicht, dass mich
das Thema irgendwann loslassen wird. Dass man das Leben nicht planen kann,
wie wichtig Vielfalt in einer Gesellschaft ist, das weiß ich jetzt einfach
und werde es weitertragen.
Wie ist es mit Selbstorganisation und Selbsthilfegruppen?
Ich wollte nie in einer Sonderwelt leben. Wir haben relativ schnell das
zweite Kind bekommen, auch aus so einem Gedanken, dass das zusammengehen
soll, dass nicht alles behindert ist, nur weil mein Kind behindert ist.
Deshalb hatte ich kein großes Interesse an Selbsthilfegruppen. Ich finde
schade, dass es dabei oft wenig um ein Miteinander geht, sondern meist um
bürokratische Barrieren. Es gibt so viele lebenswichtige Sachen, die
geklärt werden müssen, dass für die schönen kein Platz mehr ist. Man kommt
oft nicht dazu, einen inklusiven Zirkusworkshop zu besuchen, es geht eher
darum, dass die Kinder nicht in die Kita können, weil kein Pflegedienst zur
Verfügung steht. Das ist vom System so gewollt, dass man kleingehalten
wird.
24 Nov 2016
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
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