| # taz.de -- Aussteigerin über rechte Szene: „An der Wand hingen Salzteig-Run… | |
| > Heidi Benneckenstein wuchs in einer Nazifamilie auf, besuchte | |
| > Neonazi-Zeltlager, verprügelte einen Fotografen. Dann stieg sie aus. | |
| Bild: Heidi Benneckenstein in Berlin im Herbst 2017 | |
| taz: Frau Benneckenstein, wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Vater | |
| gesprochen? | |
| Heidi Benneckenstein: Lange her, zum Glück. Da war ich 15. | |
| Vor neun Jahren also. Seitdem sind Sie ihm nicht mehr über Weg den | |
| gelaufen? | |
| Nein. Ich bin damals, nach einem Streit, aus dem Haus gegangen und war weg. | |
| Mir war klar, dass ich ihn nicht mehr sehen würde. Ich hatte lange Angst, | |
| dass es doch passieren könnte und ich dann ausraste. Aber das ist vorbei. | |
| Es hätte keinen Sinn, ihm irgendetwas zu sagen. Es ist zu viel passiert. | |
| Sie sind in einer Nazi-Familie aufgewachsen, in einem Dorf bei München. Ihr | |
| Vater, Beamter beim Zoll, leugnete den Holocaust, wollte Ostpreußen | |
| regermanisieren und schickte Sie in Zeltlager der rechtsextremen | |
| „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie erinnern Sie sich an Ihre Kindheit? | |
| Mein Vater hat bestimmt, was läuft. Meine Schwestern und ich mussten | |
| aufpassen, dass wir nichts Falsches machten, nichts Falsches sagten, nicht | |
| laut waren. Beim Essen durften wir nur sprechen, wenn wir aufgefordert | |
| wurden. Wenn wir die Tür aus Versehen zu laut zugehauen hatten, mussten wir | |
| es zehnmal leise tun. Und wir hatten so eine blöde Treppe, die ich als Kind | |
| öfter runtergefallen bin, das tat weh. Trotzdem musste ich die Treppe | |
| danach zehnmal rauf- und runterlaufen. Mein Vater hatte auch große Freude | |
| daran, uns Schwestern gegeneinander auszuspielen. | |
| Wie haben Sie und Ihre Schwestern reagiert? | |
| Wir haben alle versucht, aus der Schusslinie zu kommen – auch auf Kosten | |
| der anderen. Als ich bei einem Schulsportfest mit einem Mädchen aus den | |
| Philippinen ein Team bilden musste und mit ihr, Hand in Hand, Stationen | |
| ablief, erzählten meine Schwestern unserem Vater davon. Es gab ein | |
| Donnerwetter. Warum ich mich mit Fidschis abgebe? Meine Schwestern haben | |
| dann beschlossen, mich zur Strafe nicht mehr zu berühren – von sich aus. | |
| Sie wussten, dass sie dafür gelobt würden. Und unser Vater fand das | |
| tatsächlich eine super Idee. | |
| Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Familie anders ist als andere? | |
| Sehr früh. Jeden Morgen kam die Preußische Allgemeine, an der Wand hingen | |
| Runen aus Salzteig, wir hatten Stickdecken mit völkischen Sprüchen und im | |
| Keller Bücher über NS-Größen. Ich habe früh gemerkt, dass unsere Eltern | |
| anders mit uns sprechen, besonders mein Vater. In unserem Dorfkindergarten | |
| sollte ich wegen meiner blonden Haare im Krippenspiel den Engel spielen. | |
| Mein Vater war außer sich und rief in der Kita an, ob sie denn nicht | |
| wüssten, dass ich konfessionslos sei. Ich verstand nicht, was los war. Je | |
| älter ich wurde, desto stärker drängte sich die Ideologie meines Vaters in | |
| mein Leben. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Als wir zum Beispiel in der achten Klasse mit der Schule das ehemalige | |
| Konzentrationslager in Dachau besucht haben, stachelte er mich beim | |
| Abendessen an, kritische Fragen zu stellen. | |
| Zum Beispiel? | |
| Für ihn deutete ein Schild, dass die Verbrennungsöfen nachträglich zu | |
| Dokumentationszwecken errichtet wurden, darauf hin, dass es gar keine gab. | |
| Danach sollte ich fragen. Ich sollte provozieren. | |
| Gab es keine anderen Eltern oder Lehrer, die misstrauisch wurden und sich | |
| erkundigten, ob bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung ist? | |
| Nicht wirklich. Mein Vater ist sehr dominant gegenüber Erziehern und | |
| Lehrern aufgetreten. Davon waren viele eingeschüchtert. Einmal, in der | |
| dritten Klasse, korrigierte ich meine Grundschullehrerin, dass das | |
| Deutschlandlied aus drei Strophen besteht. Ich habe ihr am nächsten Tag | |
| sogar ein völkisches Liederbuch mitgebracht. Sie gab es mir kommentarlos | |
| wieder. Ich glaube, sie war einfach überfordert. | |
| Hatten Sie Freundinnen, denen Sie sich anvertrauen konnten? | |
| Ja. Meiner besten Freundin habe ich alles erzählt. Das durfte ich | |
| eigentlich nicht. Zu Hause wurde gesagt: Was wir hier besprechen oder was | |
| ihr in den Zeltlagern erlebt, dürft ihr nicht weitererzählen. Aber solche | |
| Geheimnisse kann ein Kind nicht für sich behalten. Meine Freundin konnte | |
| sich gar nicht vorstellen, dass ich das wirklich erlebe. Für sie war das | |
| wahrscheinlich einfach spannend. | |
| Als Sie 7 Jahre alt waren, schickte Sie Ihr Vater das erste Mal in ein | |
| Lager der „Heimattreuen Deutschen Jugend“. Wie war das? | |
| Für mich war es die Hölle. Anfangs, weil ich Heimweh hatte und einfach nur | |
| nach Hause wollte. Später, weil alles so durchstrukturiert war, was zu mir | |
| überhaupt nicht passte, weil ich inzwischen recht aufmüpfig war. Jeder | |
| Schritt wurde kontrolliert. Wir mussten um sieben Uhr aufstehen, zum | |
| Frühsport. Zum Frühstück durften wir erst, wenn das Zelt aufgeräumt war. | |
| War es nicht ordentlich, mussten wir Liegestütze machen. Dann kam der | |
| Fahnenappell vor den Zelten, wir mussten auch bei eisiger Kälte eine halbe | |
| Stunde strammstehen. Dann haben wir besprochen, was man den Tag über macht. | |
| Das konnten Schwimmbadausflüge sein oder auch AGs, in denen es zur Sache | |
| ging. | |
| Was heißt das? | |
| Ich kann mich an einen Vortrag erinnern, wie man sich auf den Tag X | |
| vorbereitet, an dem der Staat zusammenbricht. Es ging darum, | |
| Lebensmittelvorräte anzulegen, Schlafsäcke bereitzuhaben, solche Dinge. Und | |
| immer wieder ging es um NS-Größen. Ehrenmitglied der HDJ war Hans Ulrich | |
| Rudel, der Wehrmachtsflieger. Der wurde verehrt, über ihn gab es regelmäßig | |
| Vorträge. Genauso über Hanna Reitsch, auch eine Nazi-Fliegerin, oder Agnes | |
| Miegel, eine Dichterin, die Hitler verehrte. In einem der Lager hießen die | |
| Zelte „Führerbunker“ und „Germania“. Das war aber eine Ausnahme, in der | |
| Regel hielt sich die HDJ bedeckt, um keinen Ärger mit der Polizei zu | |
| bekommen. Unsere Lager waren meist abgeschieden von Städten, wir gaben uns | |
| als Pfadfinder aus oder als Katholische Deutsche Jugend. | |
| War den Kinder klar, was in den Lagern lief? | |
| Die Botschaft jedenfalls kam an. Einmal sollten wir aus einem Stück | |
| Sperrholz die Deutschlandkarte sägen, in den Grenzen von 1937. Ein Junge | |
| verzierte seine Karte mit einem schwarzen Hakenkreuz. Gestört hat das | |
| niemanden. | |
| Was waren das für Kinder, die an den Lagern teilnahmen? | |
| Die meisten kamen aus Familien, die seit Generationen in der rechtsextremen | |
| Szene verankert sind. Bildungsbürgertum. Viele Kinder gingen aufs | |
| Gymnasium. Als einmal eine Familie aus Berlin dabei war, wirklich | |
| Unterschicht, ist das sofort aufgefallen. Der HDJ ging es um die | |
| Heranzüchtung einer rechtsextremen Elite. | |
| Was heißt das genau? | |
| Ziel war es, dass wir später Führungspositionen in der Bewegung einnehmen. | |
| Es wurde Wert darauf gelegt, dass man gebildet ist und studiert, auch die | |
| Mädchen. Auch wenn die HDJ-Mädchen von damals heute fast alle Hausfrauen | |
| sind. Für sie ist ideologisch eben die Rolle als Mutter vorgesehen. | |
| Welche Rolle hat Ihre Mutter gespielt? | |
| Meine Mutter war sehr passiv, untergeordnet. Sie hat vieles einfach | |
| mitgemacht, weil sie einer Auseinandersetzung mit meinem Vater nicht | |
| gewachsen war. Ich glaube nicht, dass sie hinter dem Politischen stand. Das | |
| hat man gesehen, als meine Eltern sich getrennt haben. Danach war bei ihr | |
| nichts mehr davon zu spüren. | |
| Als Ihre Eltern sich getrennt haben, waren Sie neun. Sie sind zu Ihrer | |
| Mutter gezogen. Warum blieben Sie in der Szene? | |
| Mit meiner Mutter gab es oft Konflikte, weil ich trotzig war und meine | |
| Mutter auch darauf passiv reagierte. Dann kam die Pubertät und ich bin | |
| zurück zu meinem Vater, der mich mit offenen Armen empfangen hat. Plötzlich | |
| durfte ich Sachen, die vorher verboten waren: eine Stereoanlage, ein Handy. | |
| Für mich war das super. Aber als ich 15 war, ging es nicht mehr. Ich zog | |
| erst wieder zu meiner Mutter, später in eine eigene Wohnung. | |
| Wie erging es Ihren drei Schwestern? | |
| Die jüngste ist eine Nachzüglerin, die hat von alldem nicht viel | |
| mitbekommen. Meine älteste Schwester war schon ausgezogen und hält bis | |
| heute zu meinem Vater, die andere ging in eine Pflegefamilie. Mehr möchte | |
| ich dazu nicht sagen. | |
| Sie blieben auch nach dem Bruch mit Ihrem Vater in der rechtsextremen | |
| Szene. Warum? | |
| Ja, aber nicht mehr in der HDJ, sondern bei den Kameradschaften. In Erding | |
| besuchte ich einen Stammtisch, wir gingen auf Konzerte, pöbelten Punks und | |
| Polizisten an. Ich fand das klasse. Es war moderner als bei der HDJ, und | |
| hier konnte ich rebellieren, ganz offen. | |
| Andererseits waren Sie auch in der NPD – unter lauter alten Männern. | |
| Das war bizarr. Bis 18 kannte ich fast nur Nazis. Der NPD-Ortsverband war | |
| ein Haufen gescheiterter Existenzen, alle lästerten übereinander. Da habe | |
| ich zum ersten Mal Wahlkampf gemacht, mit Infoständen in der Fußgängerzone. | |
| Für die NPD war ich das Vorzeigemädchen. Aber niemand hat sich für unsere | |
| Stände interessiert, und ich wusste mitunter nicht, was auf dem Flyer | |
| steht. Aber damals waren das für mich kleine Schritte zur Revolution. | |
| Es gab nur wenige Frauen in der Szene. In welcher Rolle sahen Sie sich? | |
| Aus meiner Sicht unterschied ich mich von den anderen Frauen. Ich bin ja in | |
| die Szene hineingeboren und kam nicht über einen rechtsextremen Freund | |
| dahin. Die meisten Frauen waren Anhängsel, wurden in der Kameradschaft | |
| herumgereicht, von einem Mann zum anderen. Dafür war ich zu stolz. Ich war | |
| über die HDJ ideologisch geschult. Ich dachte, ich sei etwas Besseres. | |
| Zur rechtsextremen Szene gehört auch Gewalt. Sie selbst haben mit 16 Jahren | |
| einen Fotografen verprügelt, der die Beerdigung einer Neonazi-Größe | |
| dokumentieren wollte. Wie kam es dazu? | |
| Das schockiert mich im Nachhinein auch. Für uns war dieser Fotograf, ein | |
| Antifa-Typ, eine absolute Provokation auf dieser Beerdigung. Aus ganz | |
| Deutschland waren damals prominente Nazis angereist, Udo Voigt, Christian | |
| Worch, Steiner Wulff. Mit denen stand ich am Grab, in der Hand hielt ich | |
| eine Fahne der NPD-Jugend. Als wir dann vom Friedhof abzogen und der | |
| Fotograf vor uns her lief, sind ich und zwei Kameradinnen losgestürmt und | |
| haben auf ihn eingestiefelt, am Ende waren wir 30. Ich habe mit den Fäusten | |
| zugeschlagen, ihm zwischen die Beine getreten. Ich war wie besinnungslos. | |
| Mir war egal, wie schwer ich ihn verletze. Nein, ich wollte ihn verletzen. | |
| Erst nach ein paar Tagen ist mir bewusst geworden, dass ich die | |
| Beherrschung verloren habe. Heute ist mir das fremd, als wäre ich damals | |
| ein anderer Mensch gewesen. | |
| Wie ging es dem Fotografen? | |
| Er hatte ein paar gebrochene Rippen und Prellungen, aber nichts Ernstes. | |
| Die Polizei lud mich zu einem Verhör vor. Aber darauf folgte nichts. | |
| Das Opfer arbeitet bis heute als Journalist in München. Sind Sie ihm wieder | |
| begegnet? | |
| Ja, häufig. Er ist ein freundlicher Mensch, der das natürlich nicht | |
| verdient hatte. Ich habe mich bei ihm entschuldigt, und damit war es für | |
| ihn erledigt. Davor habe ich eine ganz schöne Achtung. | |
| Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits mit Felix Benneckenstein liiert, | |
| einem Liedermacher der rechten Szene, mit dem Sie heute verheiratet sind | |
| und ein Kind haben. Gemeinsam beschlossen Sie auszusteigen. | |
| Man denkt immer, dass es ein Schlüsselerlebnis gibt. Aber so ist es nicht. | |
| Es gab immer wieder Momente, in denen ich dachte, hier läuft etwas falsch. | |
| Wenn Männer in der Szene, die die Familie als kleinste Zelle des Reichs | |
| rühmen, ihre Frauen betrügen. Oder der Alkoholkonsum, dem sich fast alle | |
| hingaben, ich ja auch, bis man völlig hemmungslos war. Das passt alles | |
| nicht zur NS-Ideologie. Es hat lange gedauert, bis ich diese Zweifel | |
| zugelassen habe. Anfangs habe ich mit Felix über unsere Leute gelästert. | |
| Irgendwann wurde aus dem Geläster ein Hinterfragen. Und als ich mit 17 | |
| Jahren das erste Mal schwanger wurde, war es dann echt so: Nee, Stopp, ich | |
| muss aufhören, es muss sich etwas ändern. Trotzdem hat es zwei Jahre | |
| gedauert, bis es so weit war. | |
| Dass ein Paar gemeinsam aussteigt, ist selten. Machte es die Sache eher | |
| leichter oder schwerer? | |
| Beides. Es gab Momente, in denen wir uns gegenseitig wieder reingezogen | |
| haben. Am Anfang war es Felix, der rauswollte. Da hatte ich noch gesagt: | |
| Nee, komm, das ist wichtig. Als dann seine CD veröffentlicht wurde, war er | |
| wieder voll drin in der Szene – und ich hatte schon abgeschlossen. Wirklich | |
| Schluss war erst, als Felix nach einer Schlägerei mit einem anderen Neonazi | |
| fünf Monate in Haft kam und gegen den Typen ausgesagt hat. Danach war Felix | |
| in der Szene eine Persona non grata. Grundsätzlich ist es zusammen | |
| leichter. Weil man über alles sprechen kann und nicht allein ist. Die | |
| meisten Aussteiger haben nichts mehr, gar nichts. Keine Freunde, keine | |
| Hobbys, keine Demos am Wochenende. Wir hatten uns. | |
| Konnten Sie vor der Szene verbergen, dass Sie aussteigen wollen? | |
| Das war ein großes Problem. Wir haben erst gelogen oder falsche Gerüchte | |
| gestreut. Wir haben erzählt, wir ziehen weg, wir machen eine Ausbildung, | |
| oder dass Felix’ Arbeitgeber verlangt, dass er sich politisch nicht mehr | |
| engagiert. Das wurde akzeptiert. Trotzdem kamen immer wieder Anrufe, ob wir | |
| nicht hier oder da mitmachen wollen. Dann haben wir unsere Handynummern | |
| geändert. Trotzdem kamen Leute an die neue Nummern und wir brauchten | |
| Ausreden, um sie fernzuhalten. | |
| Wie haben Sie den Ausstieg offiziell gemacht? | |
| Als Felix aus dem Knast kam, haben wir Kontakt zur Aussteigerhilfe „Exit“ | |
| aufgenommen. Wir haben eine neue Wohnung gesucht, ich holte die Mittlere | |
| Reife nach, ging auf die Berufsschule. Vor allem Felix aber wollte mehr als | |
| nur aussteigen. Wir haben gemerkt, dass es wichtig ist, Anlaufstellen zu | |
| haben. Aber Exit sitzt in Berlin, über die Münchner Szene wussten sie nicht | |
| viel. Wir hatten das Bedürfnis, etwas wiedergutzumachen und unsere | |
| Erfahrungen weiterzugeben. Da haben wir beschlossen: Wir gründen selbst | |
| einen Verein und betreuen bayerische Aussteiger. Und das haben wir | |
| öffentlich gemacht, auf einer Pressekonferenz. Da war dann klar, dass es | |
| keinen Weg zurück gibt. | |
| Wurden Sie bedroht? | |
| Ja. Unser Verein hatte anfangs eine Hotline für Aussteiger, irgendwann | |
| haben da nur noch besoffene Nazis draufgequatscht, auch mit Drohungen. | |
| Neben unserem damaligen Wohnhaus prangte eines Morgens ein Hakenkreuz an | |
| der Wand und der Spruch: Wir kriegen euch. Einen Nazi habe ich mal in der | |
| S-Bahn getroffen, der stellte sich ganz dicht neben mich, damit ich Angst | |
| bekomme. Habe ich aber nicht. Und es gab mal eine Phase, da wurde bei uns | |
| nachts geklingelt, mehrere Wochen lang. Das war ein ehemaliger Nachbar, der | |
| bei Pegida war, wie wir später festgestellt haben. | |
| Wie sind Sie damit umgegangen? | |
| Natürlich muss man abwägen. Aber ich fühle mich in München sicher. Und wo | |
| genau wir wohnen, behalten wir für uns. Am Anfang hatten wir so etwas wie | |
| Personenschutz. Die Polizei hatte damals bekannte Nazis aufgesucht und | |
| ihnen gesagt, wenn uns etwas passiert, wissen sie, wer es war. Den kurzen | |
| Draht zur Polizei haben wir bis heute. | |
| Wenn Sie sich die rechte Szene heute angucken: Erkennen Sie Leute von | |
| früher wieder? | |
| Klar. Vor allem bei der Identitären Bewegung kenne ich viele Gesichter, da | |
| sind ehemalige HDJler sehr aktiv. Zur NPD gab es immer Überschneidungen. | |
| Und die Szene der völkischen Siedler in Mecklenburg-Vorpommern ist fast | |
| eins zu eins die alte HDJ. | |
| Ist das die rechtsextreme Elite? | |
| Ja, das Konzept der HDJ ist aufgegangen. Und das ist traurig. Deswegen ist | |
| das Argument, man solle rechte Organisationen nicht verbieten, weil sich eh | |
| neue gründen oder das Ganze im Untergrund weitergeht, totaler Quatsch. Es | |
| ist wichtig, es denen so schwer wie möglich zu machen. | |
| Inzwischen sitzen mit der AfD erstmals Rechtspopulisten im Bundestag. Wie | |
| beobachten Sie den Rechtsruck in diesem Land? | |
| Ich finde beunruhigend, wie offen rassistisch man heute sein kann und was | |
| als salonfähig gilt. Wenn man hört, was Höcke oder Gauland sagen, das hätte | |
| früher einen Aufschrei gegeben. Ich habe das Gefühl, die Gesellschaft | |
| stumpft ab. Die Leute finden das normal oder sogar lustig, weil sie von der | |
| Politik eh frustriert sind. Das ist beängstigend. | |
| Wohin, denken Sie, wird das führen? | |
| Die rechte Szene wird jetzt sagen, man komme dem Tag X näher, dem | |
| Zusammenbruch des alten Systems: Schaut doch mal, wie wir die Bürger | |
| erreichen, bald sind wir die Mächtigen. Das hätte mich damals auch | |
| bestärkt. Die Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten wird angeheizt. | |
| Deshalb ist jetzt wichtig, dagegenzuhalten und für die Demokratie zu | |
| kämpfen. | |
| In München läuft auch der NSU-Prozess. Verfolgen Sie den? | |
| Ab und zu, das zieht sich ja ganz schön. Ich finde interessant, dass sich | |
| fast keiner der Angeklagten vom NSU distanziert hat. Im Gegenteil. Der | |
| Angeklagte Ralf Wohlleben hat sich mit Wolfram Nahrath einen überzeugten | |
| Neonazi als Anwalt genommen, auch ein früheres HDJ-Mitglied übrigens. | |
| Dieses Unverhohlene, das finde ich krass. | |
| Sie kamen dem NSU selbst nahe: 2008 saßen Sie mit Wohlleben, der als | |
| NSU-Waffenbeschaffer angeklagt ist, zusammen am Lagerfeuer. | |
| Ja, es gab ein kleines Fest im Braunen Haus in Jena. Mit dreißig Leuten | |
| saßen wir am Lagerfeuer und tranken Bier, Wohlleben war dabei. Ich fand ihn | |
| merkwürdig. Immer wieder warf er Holz und mehr Holz in das Feuer, bis die | |
| Flammen drei Meter hoch waren. Als wäre er nicht ganz bei Sinnen. | |
| Hätten Sie damals gedacht, dass Ihre Kameraden zu einer Mordserie fähig | |
| sind? | |
| Nein, das hätte ich mir nicht vorstellen können. Es gab Gewalt in der | |
| Szene, ja. Aber ich hätte mir nicht ausgemalt, dass da Leute losziehen und | |
| zehn Menschen ermorden. Das hat mich geschockt. | |
| Sie arbeiten heute als Erzieherin. Hatten Sie Probleme, mit Ihrer Vita | |
| einen Job zu finden? | |
| Als ich der Leitung der Berufsschule von meiner rechten Vergangenheit | |
| erzählte und dass ich aussteigen werde, wollten die mich rausschmeißen. | |
| Erst als sich Exit für mich einsetzte, konnte ich meine Ausbildung beenden. | |
| Bei der Kita gab es nie Probleme. Alle Kollegen wissen Bescheid und haben | |
| das akzeptiert. | |
| Und wie reagieren die Eltern der Kita-Kinder? | |
| Anfangs hatten wir denen nichts gesagt, um nichts loszutreten. Eines Tages | |
| aber kam ein Kind zu mir und sagte, ich habe dich in der Zeitung gesehen | |
| und deinen Hund auch. Da habe ich sofort die Eltern kontaktiert. Die haben | |
| gesagt: kein Problem. Krass nur, was du erlebt hast. | |
| Sie haben eingangs geschildert, dass Ihre Kindheit unglücklich war. Sind | |
| Sie heute glücklich? | |
| Das bin ich. Wenn ich heute zurückblicke, merke ich, wie zerrissen ich | |
| damals war. Ich wusste überhaupt nicht, wer ich bin. | |
| Und heute ist das anders? | |
| Ja, das ist heute anders. | |
| 7 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
| Sabine am Orde | |
| ## TAGS | |
| Rechtsextremismus | |
| Schwerpunkt Neonazis | |
| Lesestück Interview | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Cottbus | |
| Hakenkreuz | |
| NSU-Prozess | |
| Schwerpunkt taz Leipzig | |
| Rechtsextremismus | |
| Zivilcourage | |
| Schwerpunkt Polizeikontrollen in Hamburg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kommentar Ex-AfDlerin bei der Linken: In Scharen, bitte! | |
| AfD-Aussteiger müssen wir wieder in unseren Reihen aufnehmen. Sonst werden | |
| sie den Rechten nicht den Rücken kehren – mangels Perspektive. | |
| Parteiwechsel von der AfD zur Linken: Eine AfDlerin sieht rot | |
| Tanja Bojani, Abgeordnete im Osnabrücker Kreistag, wechselt von der AfD zu | |
| den Linken. Die werden damit so stark wie die Rechtspopulisten. | |
| Kolumne Der rechte Rand: Die AfD-Verlierer | |
| Militant orientierte Rechtsextreme wie Christian Worch haben seit dem | |
| Erstarken des rechtspopulistischen Milieus in Deutschland an Einfluss | |
| verloren. | |
| Rechte Demonstration in Cottbus: Angriff auf Journalisten | |
| Bei einer Demonstration rechter Gruppen wurden am Samstag mehrere | |
| JournalistInnen angegriffen. Die Stadt gilt inzwischen als zu gefährlich | |
| für Geflüchtete. | |
| Beton-Hakenkreuz in Hamburg: Zeit für den Presslufthammer | |
| Das Auftauchen des Hakenkreuz-Fundaments auf einem Billstedter Sportplatz | |
| symbolisiert gespenstisch klar den wachsenden Faschismus à la NSU und AfD. | |
| Weiterer Aufschub im NSU-Prozess: „Sie wollen uns ärgern“ | |
| Die Plädoyers der Nebenklage verzögern sich erneut wegen der Verteidigung | |
| eines Angeklagten. Die Tochter eines NSU-Opfers fühlt sich brüskiert. | |
| Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig: Aufarbeitung und Anerkennung | |
| Ein Initiativkreis erinnert an die Todesopfer rechter Gewalt. Nuno Lourenço | |
| war einer davon: Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. | |
| Amoklauf in München 2016: Breivik-Fan war selbst Rechtsterrorist | |
| Politiker fordern eine Neubewertung des „Amoklaufs“ von München – als | |
| rechtes Attentat. Drei Gutachter kamen zu dem gleichen Schluss. | |
| Kampf gegen Rechts: Von guten Mächten getragen | |
| Sie habe „'ne Macke mit Nazis“, sagt Katharina König-Preuss. Seit 25 Jahren | |
| dokumentiert die 39-Jährige die Aktivitäten der rechten Szene. | |
| Waffenfund in Hamburg: Der stille Tod eines Neonazis | |
| In seiner Wohnung hortete der verstorbene Lutz H. Waffen, Munition und | |
| Nazi-Propaganda. Die Polizei zeigte kein Interesse an dem Material. |