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# taz.de -- Todesopfer rechter Gewalt in Leipzig: Aufarbeitung und Anerkennung
> Ein Initiativkreis erinnert an die Todesopfer rechter Gewalt. Nuno
> Lourenço war einer davon: Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.
Bild: Nuno Lourenço starb, nachdem ihm Neonazis mit Springerstiefeln gegen den…
LEIPZIG taz | Weil Deutschland verloren hatte, musste Nuno Lourenço
sterben. Fast 20 Jahre ist es her, dass die deutsche
Fußball-Nationalmannschaft bei der WM 1998 bereits im Viertelfinale aus dem
Turnier ausschied. Acht frustrierte Jugendliche im Alter zwischen 15 und 21
Jahren beschlossen damals, noch am selben Abend, „Ausländer
aufzuklatschen“. So zitierte später die Staatsanwaltschaft die Angeklagten.
Die jungen Rassisten griffen einige Kilometer südlich von Leipzig mit
Eisenketten und -stangen fünf portugiesische Gastarbeiter an. Eines der
Opfer war Lourenço, der an jenem Tag seinen 49. Geburtstag feierte. Der
Haupttäter trat ihm mit Springerstiefeln mehrmals ins Gesicht. Ein halbes
Jahr später starb der Portugiese in seiner Heimat an den Folgen der
Verletzungen.
Mittlerweile ist dieses Verbrechen fast vergessen. Wer im Internet nach
Nuno Lourenço sucht, erhält nur wenige brauchbare Treffer. Einer davon
verweist auf den „Initiativkreis Antirassismus“, der mit mobilen Infotafeln
und regelmäßigen Demonstrationen an die Todesopfer rechter Gewalt in und
nahe Leipzig erinnert.
Anfang Juli dieses Jahres fuhr die Gruppe in die an Leipzig grenzende
Kleinstadt Markkleeberg. Im ländlichen Stadtteil Gaschwitz, dem Tatort,
wollten die vor allem jungen Personen über das damalige Geschehen und die
juristische Aufarbeitung informieren.
Doch nur etwa 20 Menschen hörten zu. Einige, mit denen die Aktivisten ins
Gespräch kamen, wollten mit der Vergangenheit nicht mehr konfrontiert
werden, erzählt ein Mitglied des Initiativkreises, das Jo Schaft genannt
werden möchte. Abgesehen von ihm und seinen Mitstreitern erinnert vor Ort
nichts mehr an die schrecklichen Taten.
## Rassismus bei staatlichen Akteuren?
„Vor einigen Jahren gab es einige Personen, die sich vorgenommen hatten,
die rechtsmotivierten Morde in Leipzig aufzuarbeiten“, erklärt Schaft.
Diese gründeten 2010 den Initiativkreis. Nach dem rassistischen Mord an dem
19-jährigen Iraker Kamal Kilade in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober
jenes Jahres organisierte die Gruppe eine Demonstration mit mehr als 1.000
Teilnehmenden und eine Prozessbegleitung am Landgericht.
In den folgenden Jahren recherchierte der Initiativkreis in alten
Presseartikeln zu Fällen, bei denen ein rechtes Tatmotiv festgestellt wurde
oder nach Ansicht der Antirassisten wahrscheinlich war. Unter anderem
rekonstruierten sie den Justizskandal im Fall Nuno Lourenço, über den vor
knapp 20 Jahren das ARD-Politmagazin „Monitor“ berichtet hatte.
So war die Witwe des getöteten Portugiesen auf 35.000 DM Kosten sitzen
geblieben. Das Landgericht hatte es laut schriftlicher Urteilsbegründung
„versehentlich unterlassen“, über die Kosten der Nebenklage zu entscheiden.
Den Verurteilten wiederum hatte das Gericht – anders als üblich – die
Kosten des Verfahrens nicht auferlegt.
Jo Schaft vermutet, dass es sich dabei nicht um Zufall, sondern um ein
tiefer sitzendes Problem handelt: Rassismus bei staatlichen Akteuren. Mit
den Demonstrationen möchte der Initiativkreis nicht nur in die
Vergangenheit blicken, sondern auch eine Verbindung zu gegenwärtigen
Problemen herstellen.
## Nur bei vier Opfern ein rechtes Motiv erkannt
Während sich die Kundgebung für Lourenço in diesem Jahr besonders dem
damaligen Justizversagen widmete, stand bei einer ähnlichen Veranstaltung
vor fünf Jahren der sogenannte Party-Patriotismus bei Europa- und
Weltmeisterschaften im Fokus. „Dass es bei diesen nationalistischen
Massenveranstaltungen zu menschenverachtenden Exzessen kommt, wird gerne
verschwiegen“, hieß es im damaligen Demoaufruf.
Ein wichtiger Aspekt ist für die Gruppe zudem die Frage, ob die Todesopfer
rechter Gewalt auch vom Staat als solche anerkannt werden. Dies sei
besonders für die Hinterbliebenen wichtig, argumentiert Schaft. Das
Bundeskriminalamt (BKA) zählt 75 solcher Fälle seit 1990. Einige
Journalisten und Organisationen wie die antirassistische
Amadeu-Antonio-Stiftung kommen auf knapp 200 Fälle.
Derzeit handelt es sich beispielsweise laut BKA weder bei den tödlichen
Schüssen eines „Reichsbürgers“ auf einen Polizisten in Georgensgmünd, no…
beim letztjährigen Massenmord in München um rechtsmotivierte Taten. Die
Amadeu-Antonio-Stiftung und viele Experten sehen das anders.
Auch in Leipzig, wo Rechtsradikale im Bundesvergleich überdurchschnittlich
oft töteten, gehen die Einschätzungen deutlich auseinander. Während der
Staat lediglich vier Fälle anerkennt, deuten die Recherchen des
Initiativkreises auf mindestens doppelt so viele hin (siehe Infokasten).
## Die Gedenktafel für Kilade wird regelmäßig beschädigt
Insbesondere Homophobie und Sozialdarwinismus werden offenbar häufig nicht
als rechtes Tatmotiv betrachtet. In allen vier nicht anerkannten Fällen
hatten Richter, Strafverteidiger oder unabhängige Experten eine Nähe der
Täter zur rechten, teils neonazistischen Szene festgestellt – in den
Urteilen wurde diese jedoch nicht als ursächlich für das tödliche Handeln
bewertet.
Am 24. Oktober, dem Tag der Ermordung von Kamal Kilade, veranstaltet der
Initiativkreis jährlich eine Demonstration. Diese führt unter anderem an
einer Gedenktafel vorbei, die schon mehrmals beschädigt wurde. Im Moment
fehlt sie sogar vollständig, der Initiativkreis will sie während der Demo
wieder anbringen. Im Anschluss findet die „Leipziger Rede“ statt.
Hier erzählen Menschen über ihre eigenen Erfahrungen mit rassistischer
Gewalt und anderen Diskriminierungen. Dies sei wichtig, damit diesen
Personen einfach mal zugehört werde, ohne dass sie sich gleichzeitig für
irgendetwas rechtfertigen müssten, erklärt Jo Schaft.
Die Demonstrationen wiederum seien vor allem für die Familie von Kamal
Kilade relevant, mit denen die Aktivisten noch immer in Kontakt stehen:
„Wir machen das, um ihnen zu zeigen, dass es noch Menschen gibt, die sich
erinnern und gedenken.“
Eine Sprecherin der Stadt Leipzig erklärte auf Anfrage, die Stadt
unterstütze einige Aktivitäten des Initiativkreises finanziell. Eigene
Veranstaltungen oder Infomaterialien zu Todesopfern rechter Gewalt bietet
sie aber nicht an. Die Frage, wie man künftig Vandalismus am Gedenkort für
Kamal Kilade verhindern oder zumindest erschweren möchte, beantwortete die
Stadt nicht.
22 Oct 2017
## AUTOREN
René Loch
## TAGS
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