# taz.de -- Aufstand der Zapatisten: Revolte aus dem Dschungel | |
> Vor 20 Jahren rebellierten die Zapatisten gegen Neoliberalismus und die | |
> Unterdrückung der Ureinwohner in Mexiko. Verändert hat sich seitdem nicht | |
> viel. | |
Bild: Vor 20 Jahren: Mitglieder des Zapatischen Befreiungsheers im mexikanische… | |
BERLIN taz | Es war eine verrückte Silvesternacht, 1993/94, in Mexiko. In | |
der Hauptstadt erhob Präsident Carlos Salinas de Gortari sein Glas auf das | |
wichtigste Werk seiner sechsjährigen Amtszeit: das Nordamerikanische | |
Freihandelsabkommen Nafta. Kanada, die USA und Mexiko bildeten zusammen | |
einen kaum noch regulierten neoliberalen Markt. Der Vertrag hat Mexiko von | |
Grund auf verändert. | |
Zur selben Stunde, im südlichsten und ärmsten Bundesstaat Chiapas, krochen | |
vermummte indigene Guerilleros – in ihrer Mehrzahl vom Volk der Mayas – aus | |
ihren Verstecken im Nebel des Urwalds von Lakandonien. Sie nahmen San | |
Cristóbal de las Casas und sechs weitere Provinzstädte im Handstreich ein. | |
Mit einem spektakulären Überraschungscoup betrat das Zapatistische | |
Befreiungsheer (EZLN) die Bühne der Öffentlichkeit. Auch das hat Mexiko | |
verändert. Wenn auch – das kann mit dem Abstand von zwanzig Jahren gesagt | |
werden – nicht viel. | |
Präsident Salinas de Gortari reagierte schlau. Er wollte den Konflikt auf | |
kleiner Flamme abkochen. Er schickte 12.000 Soldaten ins Konfliktgebiet, | |
ordnete aber bereits am 12. Januar einen einseitigen Waffenstillstand an | |
und stellte den Zapatistas eine Generalamnestie in Aussicht. Bis dahin | |
waren bei kleineren Scharmützeln 46 Rebellen getötet worden. Die | |
Zapatisten, die in entlegenen Gegenden Land von Großgrundbesitzern | |
requirierten, sollten belagert, neutralisiert und ohne großes | |
internationales Aufsehen aufgerieben werden. | |
## Das militärische war nur Theater | |
Salinas de Gortari, ein Raubtierkapitalist durch und durch, glaubte, | |
Freihandel und deregulierte Märkte, das sei die Zukunft. Die Zapatistas | |
wirkten dagegen eher wie die wiederauferstandene Vergangenheit. Die | |
Hochzeit der bewaffneten Rebellion hatte in Lateinamerika und in der | |
Karibik Mitte der fünfziger Jahre in Kuba begonnen und war 1994 längst | |
vorbei. | |
Keine guten Voraussetzungen also für eine kleine und schlecht bewaffnete | |
Guerilla, die zudem über keine breite Machtbasis verfügte. Ihr | |
militärischer Anfangserfolg – die Besetzung von sieben Provinzstädten – w… | |
einzig dem Überraschungsmoment zu verdanken und währte nur wenige Tage. | |
Dann zog sich die Zapatistische Befreiungsarmee zurück in den Urwald. | |
Der linke chilenische Soziologe Tomás Moulián sprach später von der | |
„Inszenierung“ eines Guerillakriegs. Er meinte das nicht negativ. Er | |
verstand die Zapatistas als Protagonisten einer ganz neuen Form des | |
militanten Klassenkampfs, in dem die Botschaft, der Diskurs an erster | |
Stelle stand; das Militärische war nur Theater. | |
## Revolutionäre Accessoires | |
Subcomandante Marcos, das öffentliche und zugleich versteckte Gesicht der | |
Zapatistas mit den grünen Augen im Sehschlitz der über den Kopf gezogenen | |
Wollmütze, war zur Ikone stilisiert, die eine Zeit lang dem Porträt Ernesto | |
Che Guevaras mit dem melancholisch in die Ferne schweifenden Blick | |
ebenbürtig war. | |
Der Mann im grünen Drillich zeigte sich gerne zu Pferd, die Pfeife im Mund, | |
über die Brust zwei gekreuzte Patronengurte wie einst der mexikanische | |
Freiheitsheld Emiliano Zapata, der Namensgeber der Guerilla. Über die | |
Schulter lugte der Lauf seines Gewehrs, und wer ein bisschen genauer | |
hinsah, konnte erkennen, dass die Munition vor der Brust nicht in den Lauf | |
der umgehängten Waffe passte. Es waren dicke Schrotpatronen, optisch | |
beeindruckend, aber fürs Töten denkbar ungeeignet. Sie waren keine Drohung, | |
sondern ein revolutionäres Accessoire. | |
Der militärische Aufmarsch des 1. Januar 1994, sagt Moulián, war „ein | |
Scheingefecht“. Die Zapatistas „benutzten ihn als Sprachrohr, als Pamphlet, | |
zur verbalen Auseinandersetzung – so wie sie auch die charismatische | |
Führerfigur benutzten: Sie machten Marcos zu einer Gestalt der | |
Massenmedien.“ | |
Die ersten Worte des ersten Kommuniqués vom 2. Januar 1994 waren ein | |
griffiger Slogan, der seither bei allen sozialen Kämpfen Lateinamerikas | |
millionenfach wiederholt wurde: „Hoy decimos ¡basta!“ – „Heute sagen w… | |
es reicht!“ Triumphalistisch wurde angekündigt, die zapatistischen Truppen | |
würden in die über tausend Kilometer entfernte Hauptstadt marschieren und | |
die Regierungsarmee besiegen. Sie würden kämpfen für „Arbeit, Land, | |
Wohnung, Nahrung, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, | |
Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden“. Das „Volk von Mexiko“ solle sich | |
ihnen anschließen. | |
## Zwischen Scheinverhandlung und Repression | |
Der umfassende Katalog der Ziele erinnert ein bisschen an Che Guevaras | |
Aufruf: „Seid realistisch! Fordert das Unmögliche!“ Und es war ebendieser | |
Utopismus, der damals, 1994, einen Nerv traf. Marcos erkannte schnell, dass | |
er international fast mehr Widerhall fand als im eigenen Land und richtete | |
sich darauf ein. Seine eher poetisch und vage gehaltenen Briefe aus dem | |
Dschungel – die mehr Fragen als Antworten enthielten – wurden Kult. | |
Die Rede von der „nationalen Befreiung“ trat in den Hintergrund, es ging um | |
sehr viel mehr. Spätestens seit dem „Ersten Interkontinentalen Treffen für | |
die Menschheit und gegen den Neoliberalismus“ vom August 1996 in | |
Aguascalientes, wo 3.000 Besucher aus 42 Ländern zusammen mit 2.000 | |
Mexikanern debattierten, war klar: Die Zapatistas waren die Vorläufer eines | |
neuen linken Projekts. Sie waren die Ersten, die zeigten: Der ungezügelte | |
Kapitalismus muss nicht das Ende der Geschichte sein. Der „Sozialismus des | |
21. Jahrhunderts“, Attac, Occupy – das alles kam erst danach. | |
Salinas und genauso sein Nachfolger Ernesto Zedillo balancierten zwischen | |
Scheinverhandlung und Repression. Mehr als das Abkommen von San Andrés vom | |
Februar 1996 kam dabei nicht heraus, und auch dieser Vertrag über Rechte | |
und Kultur der indigenen Bevölkerung wurde bis heute nicht umgesetzt. In | |
Zedillos Amtszeit fällt das größte Massaker in der Geschichte des | |
zapatistischen Aufstands: Kurz vor Weihnachten 1997 überfiel eine der | |
Regierungspartei nahestehende Miliz das mit den Zapatistas sympathisierende | |
indigene Dorf Acteal und ermordete 45 wehrlose Männer, Frauen und Kinder. | |
Der Kampf um die Rechte der diskriminierten Urbevölkerung des Landes stand | |
bei den Zapatistas immer in einer seltsamen Parallelität zur Rede von der | |
gesamten Menschheit. Die beiden Themen bezogen sich zwar stets aufeinander, | |
konnten sich aber doch nie richtig berühren. In Mexiko ging es um indigene | |
Rechte, international um Humanität und gegen den Neoliberalismus. | |
## Letzter Propagandaerfolg | |
Die mexikanische Regierung nahm immer nur das indigene Anliegen wahr. Auch | |
der 2000 an die Macht gekommene konservative Präsident Vicente Fox lud die | |
Zapatistas zu Gesprächen darüber ein und glaubte, man könne das Thema „in | |
15 Minuten erledigen“. Der Marsch der Rebellen Anfang 2001 von Chiapas bis | |
nach Mexiko-Stadt war ihr letzter Propagandaerfolg. Doch die Verhandlungen | |
endeten, wie stets, im Nichts. | |
2003 zogen die zapatistischen Mayas Konsequenzen: Sie schlossen die von | |
ihnen beherrschten 27 „autonomen rebellischen Gemeinden“ in fünf Verbände | |
zusammen, die sie nach ihrer Mythologie „caracoles“ („Schnecken“) nennen | |
und die nach eigenen Regeln verwaltet werden. 2005 kündigte das EZLN an, | |
die Waffen niederzulegen. 2006 und 2007 warben sie mit „la otra campaña“ | |
(„der andere Wahlkampf“) genannten Rundreise durch Mexiko für ihr Ideal | |
autonomer Selbstverwaltung – und wurden kaum mehr beachtet. | |
Im März 2013 erklärte Marcos seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Jetzt, | |
zum 20. Jahrestag des Aufstands, hat er noch einmal einen Brief aus dem | |
Dschungel geschrieben, wie gewohnt im eher poetisch vagen Stil. Er enthält | |
Merksätze wie: „Gerechtigkeit bedeutet auch, zu verhindern, dass sich | |
Ungerechtigkeit wiederholt.“ Sein Thema: Der Kampf geht weiter. Wieder | |
enthält der Brief mehr Fragen als Antworten und klingt dabei nicht | |
kämpferisch oder trotzig, eher ein bisschen melancholisch. | |
2 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
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