| # taz.de -- Arbeitsstreit wegen Überstunden: Kampf gegen Tabak-Konzern | |
| > Manfred Fischer beliefert Zigarettenautomaten. Ohne Überstunden sei der | |
| > Job nicht machbar, sagt er. Doch sein Arbeitgeber will die nicht | |
| > bezahlen. | |
| Bild: Darf niemals leer sein und wird unter ziemlich schlechten Bedingungen bef… | |
| hamburg taz | Wenn Manfred Fischer (Name geändert) seine Überstunden | |
| abbummeln würde, hätte er fünf Monate am Stück frei. Diese 800 Überstunden | |
| hat der Angestellte im Einzelhandel innerhalb von nur zwei Jahren | |
| angesammelt. Aber sein Arbeitgeber, die Tobaccoland Automatengesellschaft, | |
| erkennt die Überstunden nicht an. Deshalb hat Fischer den Konzern nun | |
| [1][vor dem Arbeitsgericht verklagt]. | |
| Das Brisante: Tobaccoland hat seine Mitarbeiter wegen der Coronapandemie | |
| von März bis Mai in Kurzarbeit geschickt. Aber Kurzarbeit und Überstunden | |
| schließen sich arbeitsrechtlich aus, wer für sein Unternehmen | |
| Kurzarbeitergeld vom Bund bekommen will, muss versichern, [2][dass in | |
| seinem Betrieb weniger Arbeit anfällt als sonst]. | |
| Nur wenn etwa dringende Reparatur- oder andere besondere Aufträge | |
| reinkommen, dürfen auch mal Überstunden anfallen – aber eben nicht | |
| regelhaft. Über Tobaccoland aber sagt Fischers Anwalt Simon Dilcher: „Es | |
| würde mich nicht wundern, wenn der Fall kein Einzelfall ist, sondern | |
| Angestellte regelmäßig unbezahlte Überstunden machen müssen.“ | |
| Fischers Job ist es, täglich mehrere Zigarettenautomaten anzufahren, das | |
| Geld herauszuholen und die Ware nachzufüllen. Für 15 Euro die Stunde. Er | |
| hat also kein Büro, sondern sitzt von morgens bis abends im Auto. Dass | |
| seine Arbeitszeit beginnt, wenn er ins Auto einsteigt, hat der Europäische | |
| Gerichtshof 2015 entschieden: Die Fahrten, die Arbeitnehmer*innen ohne | |
| festen Arbeitsplatz zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und | |
| des letzten Kunden des Tages zurücklegen, [3][stellen Arbeitszeit dar]. | |
| ## Überstunden? Nicht vorgesehen | |
| Die Firma mit Sitz im schleswig-holsteinischen Quickborn sieht das aber | |
| anders. An- und Abfahrtswege werden dort zwar elektronisch erfasst, gelten | |
| aber nur als betriebliche Abwesenheit, also als Zeit, in der man steuerfrei | |
| Spesen vom Finanzamt erstattet bekommen kann. | |
| „Die Arbeitsplanung für die Kollegen, die den Service an unseren Automaten | |
| in ganz Deutschland besorgen, wird so vorgenommen, dass die anfallende | |
| Arbeit während der vertragsmäßigen Arbeitszeit vorgenommen werden kann“, | |
| sagt der Unternehmenssprecher Burkhard Armborst. Überstunden seien nicht | |
| vorgesehen. | |
| „Das ist nicht wahr“, sagt Fischer. Die Touren, die ein Fahrer in einer | |
| Woche fahren muss, werden vom Teamleiter zugeteilt. Eine Tour, bei der | |
| weniger als 70.000 Euro aus den Automaten geholt werden, interessiere die | |
| Arbeitgeber nicht, sagt Fischer. Das bedeutet: Mindestens zehn Stunden | |
| Arbeitszeit am Tag, und wenn ein Automat kaputt ist, auch mal locker 14 | |
| oder 15 Stunden. Bezahlt werden aber viel weniger. | |
| Vor Gericht leugnet der Personalchef des Norddeutschen Zweigs des | |
| Tabakkonzerns, Jürgen Mommertz, das überhöhte Arbeitsaufkommen Fischers | |
| nicht. Er sieht sich aber durch eine Klausel im Arbeitsvertrag abgesichert: | |
| Nur für drei Monate haben Mitarbeiter*innen rückwirkend das Recht, ihre | |
| Überstunden vergütet zu bekommen, wenn sie ihren Anspruch rechtzeitig | |
| geltend machen. Alles, was sie davor zu viel gearbeitet haben, verfällt. | |
| Der Konzern will seinen unbequemen Mitarbeiter schon lange loswerden. Zwei | |
| Abfindungen hat Fischer schon ausgeschlagen. „Ich hätte viel Geld bekommen | |
| können“, sagt er, „aber ich will das nicht. Ich will Gerechtigkeit.“ Am … | |
| November erreichte ihn dann die Kündigung, der Grund: betriebsbedingt. Der | |
| Konzern stecke angeblich in einer wirtschaftlichen Notlage. „Wir leiden | |
| massiv unter dem Lockdown“, sagt Unternehmenssprecher Armborst. Tobaccoland | |
| bietet Fischer an, ihn für sechs Monate in einer Transfergesellschaft | |
| anzustellen. | |
| Die Abfindung, die die Firma in solchen Fällen zahlen muss, ergibt sich aus | |
| einem Sozialplan, den der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat verhandeln muss. | |
| Normalerweise berechnet sich eine Abfindung nach den Monaten der | |
| Betriebszugehörigkeit, multipliziert mit dem Bruttogehalt, multipliziert | |
| mit einem Faktor, der in der Regel zwischen 0,5 und 2 liegt. | |
| Für Fischer will Tobaccoland jetzt nur noch mit dem Faktor 0,1 rechnen. | |
| „Wir sind ja auch nicht mehr so gut aufgestellt, seit es überall | |
| Rauchverbote gibt“, begründet der Konzern-Anwalt Erich Heck den niedrigen | |
| Faktor vor dem Arbeitsgericht. | |
| In dem Magazin, das das Unternehmen für seine Mitarbeiter*innen herausgibt, | |
| klingt das ganz anders. „Vertrieb: Erfolgreich trotz Corona“, lautet die | |
| Titelstory. Das Jahr 2020 sei trotz allem ein erfolgreiches Geschäftsjahr | |
| gewesen, so das Fazit. Fischers Anwalt Dilcher sagt dazu: „Die Dreistigkeit | |
| mancher Arbeitgeber kennt keine Grenzen.“ | |
| ## Der Betriebsrat ist dabei – beim Chef | |
| Und was macht [4][der Betriebsrat] von Tobaccoland? Bei der Verhandlung vor | |
| dem Arbeitsgericht sitzt der Betriebsratsvorsitzende als Zuschauer im Saal, | |
| mitgebracht von der Geschäftsführung. Auch er hat den Sozialplan für die | |
| Entlassung Fischers mit abgesegnet. | |
| Bei Ver.di sind solche Zustände bekannt. Gerade da, wo Angestellte den | |
| ganzen Tag im Auto sitzen, sei es schwierig, gewerkschaftliche Strukturen | |
| zu etablieren und sich zu organisieren. „Da gehen Arbeitgeber häufig über | |
| das rechtlich zulässige hinaus“, sagt der Leiter der Ver.di-Geschäftsstelle | |
| Pinneberg, Ralf Schwittay. „Alle Schlechtigkeiten dieser Welt werden an | |
| irgendeiner Stelle ausgenutzt.“ | |
| Ein Urteil im Fall von Manfred Fischer wird das Gericht wohl erst im | |
| kommenden Jahr fällen. Bis dahin bereitet Fischer seine zweite Klage vor – | |
| gegen die Kündigung. Er sagt: „Die Abfindung zu nehmen und jetzt | |
| aufzuhören, ist keine Option für mich.“ | |
| 10 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Betriebsrat-Kuendigung-bei-Friseurkette/!5704413 | |
| [2] /Staatliche-Coronahilfe/!5704191 | |
| [3] https://www.dgbrechtsschutz.de/recht/arbeitsrecht/europa/europaeischer-geri… | |
| [4] /Demo-gegen-Arbeitsunrecht-bei-Starbucks/!5728489 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
| ## TAGS | |
| Überstunden | |
| Konzerne | |
| Arbeitskampf | |
| Tabakindustrie | |
| Schleswig-Holstein | |
| Arbeitsrecht | |
| Gesundheitspolitik | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Überwachung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Arbeitsbedingungen bei VW-Tochter: Sie sollen fahren, nicht pinkeln | |
| Bei der Volkswagentochter Moia wird die Arbeit über künstliche Intelligenz | |
| organisiert. Für die Arbeitnehmer*innen bringt das einige Probleme. | |
| Krankenschwester vor Gericht: Betriebsrätin schlägt Privatklinik | |
| Das Arbeitsgericht stimmt der Kündigung einer Krankenpflegerin nicht zu. | |
| Der Arbeitgeber hatte ihr vorgeworfen, als Betriebsrätin betrogen zu haben. | |
| Corona und die Selbstständigen: Sozialstaat für die Mittelschicht | |
| Die Coronamaßnahmen offenbaren die wirtschaftliche Verwundbarkeit vieler | |
| Selbstständiger. Das wirft mit Blick auf 2021 neue Gerechtigkeitsfragen | |
| auf. | |
| Covid-19 bei Amazon: Corona, eine dornige Chance | |
| Verdi wirft Amazon vor, die Gesundheit seiner MitarbeiterInnen zu | |
| vernachlässigen – ein Standort sei Corona-Hotspot. Der Konzern dementiert. | |
| Smart Home im Kinderzimmer: Wenn der Teddy spioniert | |
| Die Bundesnetzagentur warnt vor Spielzeug, das mit dem Internet verbunden | |
| ist. Daten sind nicht sicher, Käufer*innen können sich strafbar machen. |