# taz.de -- Anthropologin über Feminismus in Iran: „Sie politisieren unseren… | |
> Viele Iranerinnen unterstützten 1979 die Revolution, heute unterdrückt | |
> sie das Regime. Mode war und ist Teil des Widerstands, sagt die | |
> Anthropologin Homa Hoodfar. | |
Bild: Straßenszenen in Teheran Anfang Oktober | |
taz: Im Jahr 1979 unterstützten viele Frauen die Revolution, die das Regime | |
hervorgebracht hat, das sie jetzt unterdrückt. Warum? | |
Homa Hoodfar: Damals ging es vielen Menschen vor allem um die Freiheit der | |
Gedanken. Natürlich waren manche, so wie ich, auch um die Rechte der Frauen | |
besorgt. Aber die Mehrheit sagte: Wenn wir erst einmal die Demokratie | |
haben, wird auch das gelöst werden. Die Generation meiner Eltern hat uns | |
gewarnt, dass diese Revolution – nicht am Anfang, aber in ihrem weiteren | |
Verlauf – immer religiöser werden würde. Und dass in einem religiösen | |
System Frauen und Minderheiten niemals die gleichen Rechte haben werden wie | |
die Männer der ethnischen und religiösen Mehrheit. | |
Warum wurden diese Warnungen von den Massen nicht gehört? | |
Viele glaubten damals nicht, dass Iran eine islamische Republik werden | |
würde. Das Regime des Schahs war während des Kalten Krieges ein Teil des | |
westlichen Blocks. Gleichzeitig waren wir Nachbarn eines kommunistischen | |
Landes. Das Regime des Schahs hat das genutzt, um uns zu ängstigen: Sie | |
sagten uns, dass Kommunisten weder an Privateigentum noch an Gott und die | |
Wichtigkeit der Familie glaubten. Das ging vielen nahe: Die Familie ist | |
eine Institution in Iran. Als die Revolution begann, bestand sie vor allem | |
aus Studenten und der städtischen Mittelschicht. Das Regime sagte: Das sind | |
Kommunisten. Also mussten die Demonstranten der Öffentlichkeit vermitteln, | |
dass sie eben keine Kommunisten waren, sondern lediglich für Demokratie | |
kämpften. | |
Das Tragen des Kopftuchs war eine Möglichkeit, genau das zu tun. Ich hatte | |
sogar jüdische Freundinnen, die anfingen, es zu tragen, wenn sie zu den | |
Demonstrationen gingen. Der Hidschab war ein Symbol: Wenn du ihn trägst, | |
kannst du kein Kommunist sein. Als meine Freundinnen später ihre Kopftücher | |
wieder ablegen wollten, sagten die Anführer der Revolution: Wenn ihr das | |
tut, brecht ihr die Einheit, die wir nach außen hin darstellen müssen. | |
Viele Frauen fügten sich – zum Wohle der gesamten Revolution. | |
Wann haben die iranischen Frauen zum ersten Mal gemerkt, dass sie betrogen | |
worden waren? | |
Als Ruhollah Chomeini an die Macht kam, hob er Gesetze auf, die Frauen | |
schützen sollten, und nahm ihnen Rechte, die sie in langem Kampf errungen | |
hatten. Am Tag nachdem Chomeini verkündete, dass die Verschleierung nun | |
Pflicht sei – am 8. März 1979, dem Internationalen Frauentag – fand in | |
Teheran eine spontane Demonstration statt. Normalerweise hätte das kaum | |
Beachtung gefunden, außer bei einigen elitären, gebildeten Feministinnen. | |
Aber diese Demonstration wurde riesig. | |
Viele männliche Linke und Liberale verweigerten ihre Unterstützung. | |
[1][Frauen waren die erste Gruppe, die sich der Islamischen Republik | |
entgegenstellte], gegen sie protestierte – und das zu einem Zeitpunkt, als | |
das Regime offiziell noch gar nicht die Macht ergriffen hatte. Sie | |
verstanden: Wenn ein Regime genau den Frauen, die für seine Existenz | |
gekämpft haben, grundlegende Entscheidung über sich selbst versagt, ist das | |
keine gute Nachricht – und es werden Schlimmere folgen. Genau das geschah | |
auch. | |
Der Aufstand der Frauen geriet im Laufe der Zeit etwas ins Stocken. | |
Selbst diejenigen, die Chomeini unterstützten, wollten nicht wirklich ein | |
islamisches Regime, wollten nicht, dass die Scharia zum Gesetz des Landes | |
wird. Doch dann überfiel Irak den Iran. Wenn es eine Bedrohung von außen | |
gibt, kommen die Menschen zusammen. Sie sagten: Erst bekämpfen wir den | |
Feind und dann kümmern wir uns ums Interne. Chomeini sagte: Krieg ist ein | |
Segen. Deshalb wollte er auch nicht, dass er endet, selbst nachdem Iran all | |
sein vom Irak besetztes Land zurückerobert hatte. Denn Chomeini wusste: | |
Solange der Krieg weitergeht, ist ihm und dem Regime die Macht sicher. | |
Es gab aber auch Frauen, die das Regime aus Überzeugung unterstützt haben. | |
Chomeini hat sich an religiöse Frauen gewandt und gesagt: Wir brauchen | |
euch, wir verlassen uns auf euch. Einerseits zwangen sie Frauen zurück in | |
ihre Häuser und die Arme ihrer Familien. Gleichzeitig brauchte das Regime | |
die Unterstützung von Frauen. Ich kehrte 1981 nach Iran zurück, nachdem ich | |
mein Studium im Ausland beendet hatte. Am Tag des Geburtstags des Propheten | |
– ein Feiertag im Islam – gab es eine Demonstration religiöser Frauen. | |
Sie war so riesig, dass ich entgegen der Marschrichtung lief und erst nach | |
zwei Stunden das Ende des Demonstrationszugs erreichte. Und während ich | |
daran vorbeilief, sah ich viele traditionelle Frauen, die noch nie in ihrem | |
Leben eine politische Rolle gespielt hatten. Wir, die Modernisten, hatten | |
nie daran gedacht, mit ihnen zu reden. Aber Chomeini gab ihnen ein Gefühl | |
der Wichtigkeit. Die Familien dieser Frauen hatten sie immer an der kurzen | |
Leine gehalten, im Namen der Religion, der Kultur, der Ehre. Auf einmal | |
konnten sie zu Demonstrationen gehen, durften arbeiten, Freiwilligendienste | |
ausüben – sie hatten mehr Freiheit als vorher. | |
Die persönlichen Lebensentscheidungen von Frauen wurden dadurch politisch. | |
Ja, etwa auch in Bezug auf ihr Aussehen: 1991 wollte ich mir einen Manteau | |
kaufen – eine Art Mantel, den viele Frauen trugen, anstelle eines langen, | |
dunklen Umhangs namens Tschadoor, den das Regime als ideale Bekleidung | |
darstellte. Da ich nicht in Iran lebte und eine Farbe wollte, die zu allen | |
Gelegenheiten passt, entschied ich mich für einen schwarzen. Die junge | |
Angestellte weigerte sich, ihn mir zu verkaufen. Sie sagte: Wenn du Schwarz | |
trägst, dann müssen wir alle Schwarz tragen. | |
Nach einer langen Debatte über Politik und Frauenrechte verkaufte sie mir | |
einen glänzenden, leuchtend grünen Manteau aus Satin. Er war lang und saß | |
locker, aber fiel schon aus großer Entfernung auf. Aber da Grün die Farbe | |
des Islams ist, konnte die [2][Sittenpolizei] nichts dagegen sagen. Ich | |
erinnere mich auch, wie meine Freundinnen vorschlugen, mir die Haare zu | |
färben – wie sie selbst es taten. Ich sagte ihnen, das sei nicht mein Stil. | |
Doch sie lachten und sagten: Das ist nicht der Punkt. Haarfarbe könne das | |
Regime nicht einfach abwischen. | |
In vielen Gesprächen sagten mir iranische Frauen, dass sie sich eigentlich | |
nicht für Politik interessierten, einfach nur leben wollten. Das Regime | |
politisierte unseren Lippenstift, unsere Haare, die Farben, die wir trugen. | |
So wurde unser Aussehen zu einer alltäglichen Form des Widerstands. Wir | |
waren Hidschabis, weil wir es sein mussten – aber wir waren nicht die | |
Hidschabis, die das Regime wollte. | |
In der westlichen Berichterstattung wird oft hervorgehoben, dass iranische | |
Frauen – trotz der strengen Regeln, die ihnen aufgezwungen wurden – einen | |
eigenen Stil bewahrt haben. | |
Sich in einer Weise zu präsentieren, die den Ideen des Regimes | |
widerspricht, ohne ein einziges Wort zu sagen, war eine sehr deutliche Art, | |
Opposition zu demonstrieren. Während der Demonstrationen im Jahr 2009 wurde | |
das auch wichtig, weil es in den westlichen Medien kaum Sympathie für die | |
Iraner und Iranerinnen gab. Viele konnten nicht zwischen dem Volk und dem | |
Regime unterscheiden. | |
Doch die Bilder von den Demonstrationen, auf denen Frauen auf ihre eigene, | |
individuelle Weise verschleiert waren, änderten diese Auffassung. Im Jahr | |
2009 hofften viele Iraner und Iranerinnen noch, dass das Regime auf ihre | |
Forderungen eingeht und von innen heraus reformiert werden könnte. Sie | |
forderten faire und transparente Wahlen, eine Reform der Verfassung und der | |
Gesetze – nicht zwangsläufig dessen Sturz. Doch nach 2009 starb diese | |
Hoffnung. | |
Hat das Regime mit der Zeit auch die Unterstützung der religiösen Frauen | |
verloren, die Sie vorhin erwähnt haben? | |
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Mann, der an der Revolution | |
teilgenommen hat. Er war traditionell, religiös und ging jeden Freitag in | |
die Moschee. Er sagte: Vor der Revolution hatten wir nichts. Wir hatten | |
weder Geld noch Perspektive, aber wir hatten Gott. Nach der Revolution | |
haben wir immer noch nichts, und wir haben nicht einmal mehr die Moscheen | |
und Gott an unserer Seite. Viele religiöse Menschen in Iran sind der | |
Meinung, dass der einzige Weg zur Rettung des Islams eine säkulare | |
Regierung ist – weil es für Politiker so einfach ist, Religion für ihre | |
Zwecke zu missbrauchen. | |
Vor allem Frauen wurden sich unter diesem religiösen Regime ihrer Rechte | |
stärker bewusst. Genau das geschah und geschieht auch in [3][Afghanistan | |
unter den Taliban]: Sie [4][schlossen Schulen für Mädchen], hinderten | |
Frauen daran, arbeiten zu gehen – das politisierte sie und machte den | |
Afghaninnen ihr Frausein erst bewusst. Wenn man Menschen unterdrückt und | |
ihnen Rechte wegnimmt, die sie für selbstverständlich halten, fangen sie | |
an, Fragen zu stellen. | |
Glauben Sie, dass die Revolution der Frauen dieses Mal erfolgreich sein | |
könnte? | |
Es gibt eine große Solidarität: zwischen jungen und alten Frauen, | |
verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. Das gibt den | |
Demonstrierenden Kraft. Sowohl Männer als auch Frauen fordern: [5][Jin, | |
Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit]. Männer in Iran haben erkannt: In | |
diesem System haben sie Privilegien, aber auch sie sind nicht wirklich | |
frei. Eine Revolution hat viele Ebenen: die Veränderung der Gesellschaft – | |
der für mich wichtigste Aspekt – ist in Iran bereits gelungen. Der Wechsel | |
des politischen Systems mag länger dauern, aber dieses Regime hat seine | |
moralische Autorität verloren. Und es kann sich nicht ewig halten, allein | |
durch Gewalt. | |
15 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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