Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abtreibungen in Norwegen: Staatsfeminismus als Lösung
> Seit 40 Jahren gibt es in Norwegen das Recht auf einen selbstbestimmten
> Schwangerschaftsabbruch. Selbst Konservative verteidigen das Gesetz.
Bild: Demonstration zum Internationalen Frauentag 2017 in Oslo
Der Himmel über Oslo war so wie immer Anfang März, grau und langweilig.
Dennoch war am 8. März 2014 etwas anders als sonst: Normalerweise sind es
um die 2.000 Menschen, die sich ins Stadtzentrum aufmachen, um den
internationalen Frauentag zu begehen. An diesem Samstag jedoch drängten
sich die Menschen auf den Straßen der Osloer Innenstadt. Der historische
Youngstorget-Platz war vollgepackt, viele Demonstrant*innen mussten in die
Nebenstraßen ausweichen. Von „Zuständen wie in den 1970er Jahren“ war in
den Zeitungen danach die Rede. Schätzungen der Osloer Polizei zufolge kamen
10.000 bis 15.000 Menschen auf den Youngstorget-Platz, in vielen anderen
norwegischen Städten wurden ebenfalls Rekorde gebrochen.
Die Auslöserin für die Aufregung, die damals so viele Menschen
mobilisierte, war an diesem Tag nicht in Oslo: Erna Solberg, auch heute
noch Ministerpräsidentin von Norwegen und damals gerade in ihrer ersten
Legislaturperiode, zog ein Treffen mit ihrer konservativen Partei Høyre
vor. Es war ihre Regierung, die im Herbst zuvor einen umstrittenen
Gesetzesentwurf verfasst hatte: Dieser hätte es Hausärzt*innen erlaubt,
ihre Unterschrift auf der Überweisung ans Krankenhaus für ungewollt
Schwangere zu verweigern, wenn diese einen Schwangerschaftsabbruch wollen.
Dieser Gesetzesentwurf also trieb die Menschen wütend auf die Straße. Eine
Überweisung ist für eine Abtreibung zwar nicht zwingend nötig, doch vielen
Menschen war das damals nicht bewusst – Kritiker*innen fürchteten, dass
ungewollt Schwangere dann weite Wege zu mehreren Ärzt*innen auf sich nehmen
würden. Zudem legen viele Patientinnen Wert darauf, vor einer Abtreibung
mit dem Arzt ihres Vertrauens zu sprechen. Sollte dieser ihnen die
Überweisung verweigern, hätte dies auch eine moralische und
stigmatisierende Botschaft: Was du tust, ist falsch.
Norwegen hat seit dem 30. Mai 1978 ein äußerst liberales Recht zum
Schwangerschaftsabbruch. Bis zur zwölften Woche ist es allein Entscheidung
der Frau, ob sie einen Abbruch vornehmen lassen will. Der Eingriff ist
kostenlos. Eine Beratungspflicht oder eine gesetzlich vorgeschriebene
Bedenkzeit gibt es nicht. Das Recht auf Selbstbestimmung geht sogar so
weit, dass eine Frau bei einer Zwillingsschwangerschaft bloß einen Fötus
entfernen lassen kann.
## Geschlossen gegen Einschränkungen
Um das Recht Selbstbestimmung zu verteidigen, protestierten an jenem
Frauentag vor vier Jahren so viele Menschen wie seit den 70er Jahren nicht
mehr. Ihr Motto: „Schützt das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch. Nein zum
Recht auf Vorbehalt“. Zwei Monate später ließ die Regierung Solberg den
Vorschlag fallen.
In der Rückschau erscheint der 8. März 2014 wie eine Machtdemonstration der
Straße. Wie schon in den 1970er Jahren bastelten die Menschen Transparente
und reimten Slogans, um für das Recht auf Abtreibung zu kämpfen. Und doch
gab es Unterschiede: Es waren nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“,
also linke Frauenaktivist*innen, die ihre Stimmen erhoben.
Auch der Ärzt*innenverband protestierte. Konservative Wähler*innen
schrieben Briefe an die Ministerpräsidentin, um sie umzustimmen. In einer
Umfrage vom Februar 2014 sprachen sich zwei von drei Norweger*innen gegen
die Gesetzesänderung aus. Und auch 165 der insgesamt 187
Bürgermeister*innen des Landes lehnten den Entwurf ab. Eine prominente
Bürgermeisterin, Mitglied in Solbergs konservativer Høyre-Partei, gab
bekannt, sollte das Gesetz in Kraft treten, werde sie es auf kommunaler
Ebene blockieren.
Dass es zu einem so geballten Aufstand überhaupt kam, ist nicht nur
Resultat einer außerparlamentarischen Bewegung – sondern liegt auch im
norwegischen Staatsapparat begründet. Um den zu verstehen, bedarf es einer
oft unterschätzten norwegischen Sozialwissenschaftlerin sowie ein wenig
norwegischer Geschichte.
## Schrittweise Liberalisierung
Erstmals diskutierten die Menschen dort im Jahr 1913 über
Schwangerschaftsabbruch, nachdem eine junge Frau an den Folgen einer
illegalen Abtreibung gestorben war. Denn Abreibung war damals mit nur
wenigen Ausnahmen streng verboten. Die Frauenrechtlerin Katti Anker Møller
schrieb wütend in der Zeitung Socialdemokraten: „Sie hätte gerettet werden
können, wenn sie in die Hände eines Arztes gekommen wäre.“
Religiöse und konservative Stimmen protestierten damals gegen diesen Satz.
Aber die Arbeiter*innenbewegung unterstützte Møllers Vorstoß, die in der
Selbstbestimmung über den eigenen Körper die Grundlage jeder Freiheit sah.
Frauenaktivist*innen bauten Beratungs- und Präventionsangebote aus und
kämpften für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Im Jahr 1960 wurde der Eingriff in besonderen Fällen erlaubt. Jedoch
mussten sich Schwangere, die abtreiben wollten, vor einem Komitee aus zwei
Ärzt*innen erklären. Kritiker*innen dieser Regelung bemängelten die
Unwägbarkeit dieses Verfahrens und die Erniedrigung, die damit einherging.
Die Wende kam 1969. Nach heftiger Debatte nahm die norwegische
Arbeiterpartei das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch
in ihr Parteiprogramm auf. Der Einfluss dieser sozialdemokratischen Partei
war groß; sie hatte in Norwegen von 1935 bis 1965 durchgängig die Regierung
gestellt, während der Zeit des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil heraus.
## „Wir lernten, wie man Politik macht“
In den folgenden neun Jahren kämpften norwegische Feminist*innen für ein
entsprechendes Gesetz – und zwar mithilfe einer Doppelstrategie: Zum einen
versuchten sie, ihr Ziel durch klassischen Aktionismus zu erreichen; sie
veranstalteten Sit-ins im Parlament, demonstrierten vor restriktiv
geführten Krankenhäusern und bauten Fraueninitiativen auf, die persönlichen
Schicksalen und Erlebnissen öffentlich Gehör verschafften.
Gleichzeitig setzten die Aktivist*innen auf einen Marsch durch die
Institutionen innerhalb des politischen Systems. „Die Frauenbewegung war in
den 1970er Jahren größtenteils außerparlamentarisch“, erinnerte sich Birgit
Bjerck, Aktivistin der 70er Jahre, in einem Seminarbeitrag 2006. Aber beim
Thema Schwangerschaftsabbruch sei viel innerhalb der Parteien gearbeitet
worden: „Wir lernten, wie man Politik macht“, schreibt Bjerck. Das Resultat
dieser zweispurigen Bemühungen zeigte sich Ende Mai 1978: Das Gesetz für
das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch wurde mit
knapper Mehrheit im Parlament verabschiedet.
Das Gesetz ist ein gutes Beispiel für das, was die Sozialwissenschaftlerin
und ehemalige Diplomatin und Politikerin Helga Hernes in den 1980er Jahren
als „Staatsfeminismus“ bezeichnet hat. Hernes, die gerade 80 Jahre alt
geworden ist, ist auch für ihre Perlenkette bekannt: Diese trug sie, um
ihre männlichen Forscherkollegen nicht zu verschrecken. Die Pionierin der
Gleichstellungsforschung stellte fest, dass Frauen drei potenzielle
Verbündete haben: sich selbst, Männer – und den Staat.
Das stellte die traditionelle Sichtweise auf staatliche Institutionen als
männlich geprägte und paternalistische Arena infrage. Hernes zeigte, dass
es möglich ist, einen frauenfreundlichen Wohlfahrtsstaat aufzubauen.
Erreicht wurde dieser durch eine gleichzeitige Mobilisierung „von unten“
durch Frauenrechtsaktivist*innen, und „von oben“ mithilfe der Parteien –
auch derer in Regierungsverantwortung. Der frauenfreundliche Staat wurde
also geboren aus Straßenkämpfen gepaart mit dem Wunsch nach Macht.
## Die Frauenregierung
Wie dieser Staatsfeminismus aussieht, verdeutlicht etwa ein Foto des
norwegischen Schlosses in Oslo an einem Maitag im Jahr 1986: Vor dem
Gebäude posiert die damalige Premierministerin Gro Harlem Brundtland mit
ihrem 18-köpfigen Kabinett. Acht der Minister*innen waren Frauen, das
Kabinett wurde als sogenannte Frauenregierung international bekannt.
Dabei ging es nicht nur um den hohen Frauenanteil: Seit den 1970er Jahren
engagierte sich Brundtland, die selbst Ärztin war, für das Recht auf den
selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch. Im Jahr 1986 dann war sie in
einer Machtposition angelangt, in der sie rechtlich verankern konnte, wofür
sie zuvor gekämpft hatte.
Dass Norwegen bis heute ein frauenfreundlicher Staat ist, sieht man unter
anderem an Geschlechterquoten in Vorständen, am flächendeckenden Ausbau von
Kindergärten und an einer Elternzeit von bis zu 59 Wochen.
Der Siegeszug des Staatsfeminismus zeigt sich aber auch daran, dass er im
Volk beliebt ist; auch Menschen, die sich nicht als Feminist*innen
bezeichnen, unterstützen die frauenfreundliche Politik. Jeder Versuch, die
Väterquoten bei der Elternzeit zu kürzen, stieß bislang auf Widerstand. Und
wenn eine Regierung ein Gesetz beschließen will, das den Zugang zu einem
Schwangerschaftsabbruch erschwert – dann ist der Protest groß und laut.
24 May 2018
## AUTOREN
Maria Lavik
## TAGS
Schwerpunkt Paragraf 219a
Feminismus
Schwerpunkt Abtreibung
Norwegen
Frauenbewegung
Norwegen
Norwegen
Schwerpunkt Paragraf 219a
Elternzeit
Spanien
Feminismus
Feminismus
Schwerpunkt Paragraf 219a
Paragraf 218
Lesestück Interview
Schwerpunkt Paragraf 219a
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen: Norwegen liberalisiert Abtreibungen
Zukünftig können Schwangere in Norwegen bis zur 18. Woche abtreiben. Das
neue Gesetz soll im Sommer in Kraft treten
Serie Powerplay: Durch die gläserne Decke
Der Aufstieg der norwegischen Premierministerin Gro Harlem Brundtland war
hart. Die Serie „Powerplay – Smart Girls Go For President“ handelt davon.
Abtreibungsgesetz in Norwegen: „Weg von meiner Gebärmutter!“
Tausende NorwegerInnen demonstrieren für das 40 Jahre alte liberale
Abtreibungsrecht. Es droht zum Opfer der Koalitionsverhandlungen zu werden.
EU-Ministerrat zu exklusiver Väterzeit: Ohne Gesetz ist Emanzipation schwer
Aus der geplanten Ausweitung der bezahlten Elternzeit für Väter wird
nichts. Denn die deutschen Ministerien stimmten nicht rechtzeitig ab.
Kommentar Spanisches Kabinett: Adios, Machos!
Angewandter Feminismus in Spanien: Das Kabinett des neuen
Ministerpräsidenten Sánchez hat den höchsten Frauenanteil weltweit.
Kommentar Referendum in Irland: Ein Kampf für die Freiheit aller
Der Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist nicht nur einer für
ungewollt Schwangere – sondern einer für die Freiheit aller.
Referendum in Irland: Schlachtfeld der Antiabtreibungslobby
Irland stimmt über sein Abtreibungsgesetz ab. Beim Kampf um die Stimmen
mischen auch Aktivist*innen aus den USA mit.
Schwangerschaftsabbrüche in Bremen: Ärzteliste im Kommen
Ärzt*innen dürfen über Abtreibungen nicht informieren. Frauenbeauftragte
Wilhelm fordert deshalb, dass Behörden aufklären. Alle Fraktionen sind
dafür – außer der CDU.
Abtreibungen in Deutschland: Andauernde „Übelstände“
Schon in den Siebzigern forderte Willy Brandt ein Ende der Illegalität.
2018 hat sich diese Forderung noch immer nicht erfüllt.
Gynäkologin über Abtreibung in Italien: „Um vier Uhr früh anstellen“
Seit 40 Jahren ist Schwangerschaftsabbruch in Italien legal. Silvana
Agatone erzählt, wie Gesetz und katholische Realität aufeinanderprallen.
Kolumne Liebeserklärung: Norwegens tolles Gesetz
Die Norweger nerven mit ihrem Ölreichtum. Auf das Recht auf
Schwangerschaftsabbruch aber können sie wirklich stolz sein.
Thema Abtreibung im Medizinstudium: An die Papaya, fertig, abtreiben!
Medizinstudenten lernen viele medizinische Eingriffe – Abtreibungen aber
nicht. An der Berliner Charité zeigen Gynäkologinnen, wie es geht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.