| # taz.de -- Abtreibungen in Deutschland: Andauernde „Übelstände“ | |
| > Schon in den Siebzigern forderte Willy Brandt ein Ende der Illegalität. | |
| > 2018 hat sich diese Forderung noch immer nicht erfüllt. | |
| Bild: Beim „Marsch für das Leben“ protestieren jährlich christlich-fundam… | |
| Es war eine hitzige Debatte. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1974 | |
| diskutierten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags – 30 Frauen, 518 | |
| Männer – die Reform des Abtreibungsparagrafen 218. Die CDU/CSU-Fraktion | |
| favorisierte eine „Indikationsregelung“, die Abtreibung an eine Reihe | |
| medizinischer und ethischer Voraussetzungen knüpfte. Die Regierungkoalition | |
| aus SPD und FDP hingegen unterstützte die sogenannte Fristenregelung, nach | |
| der ein Abbruch grundsätzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche | |
| straffrei bleiben sollte. | |
| Auch der Kanzler ergriff in der Debatte das Wort. „Im Fall des Paragrafen | |
| 218“, schnarrte Willy Brandt ins Plenum, „überschneiden sich Ethik und | |
| Politik in klassischer Weise.“ Der Rechtsauftrag des seit 1871 geltenden | |
| Strafrechtsparagrafen 218 habe sich nach mehr als hundert Jahren weit von | |
| der sozialen Wirklichkeit entfernt. | |
| „Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und | |
| Tod, die hätten vermieden werden können“, sagte Brandt. Die angedrohten | |
| Haftstrafen für Frauen hätten diese „Übelstände“ aber nicht verhindert.… | |
| Gegenteil. „Der Paragraf 218 ist in dem, was er real bewirkte, ein schwer | |
| erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit des vorigen | |
| Jahrhunderts.“ | |
| Das 19. Jahrhundert, von dem Willy Brandt im April 1974 sprach, galt schon | |
| damals als graue Vorzeit. Mittlerweile ist die Bundesrepublik im | |
| übernächsten Jahrhundert angelangt – und noch immer gilt: „Wer eine | |
| Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder | |
| mit Geldstrafe bestraft.“ In der Praxis ist der Schwangerschaftsabbruch | |
| heute zwar bis zur 12. Woche nach Empfängnis rechtswidrig, aber in der | |
| Regel straffrei. Das ist das Resultat eines Urteils des | |
| Bundesverfassungsgerichts, das am 28. Mai 25 Jahre alt wird, und auf dem | |
| die heutige Gesetzeslage beruht. | |
| ## Die Frau als Schuldige, als Kindsmörderin | |
| Die Botschaft des Staates an ungewollt schwangere Frauen lautet also: Du | |
| brichst unser Recht, aber wir gucken nicht so genau hin. Doch sei dir nicht | |
| sicher, dass das so bleibt. Und übrigens: Die Verantwortung trägst du ganz | |
| allein. Und ach ja: Bezahlen musst du dafür auch, jedenfalls dann, wenn du | |
| nicht arm genug bist. | |
| Die Frau als Schuldige, als Kindsmörderin, die niedliche kleine Babys in | |
| den Ausfluss spült, weil sie kein Gewissen kennt. Diese Wahrnehmung wohnt | |
| bis heute der Debatte über den Paragrafen 218 – und aktuell auch über den | |
| 219 a, der „Werbung“ und gleichzeitig auch Information verbietet – inne. | |
| Die „Übelstände“, von denen der Sozialdemokrat Willy Brandt einst | |
| gesprochen hat, sind nicht beseitigt. | |
| Im Gegenteil: In Zeiten des gesellschaftlichen Rollbacks scheint das Thema | |
| der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen geeignet, sich damit | |
| ultrakonservativ zu profilieren. Die Regierungspartei CDU, in der letzten | |
| Legislaturperiode laut Selbstbeschreibung noch „Die Mitte“, ist froh, mit | |
| dem Thema Abtreibung einen Punkt zu haben, bei dem sie ihre wiederentdeckte | |
| Rückwärtsgewandtheit unter Beweis stellen kann, ohne etwas riskieren zu | |
| müssen. | |
| Der alljährliche „Marsch für das Leben“ weltweit vernetzter | |
| christlich-fundamentalistischer Lebensschützer gilt nun als freie | |
| Meinungsäußerung von ein paar Bürgerbewegten. An Universitäten wird die | |
| interruptio graviditatis [1][kaum noch gelehrt]. Und KritikerInnen der | |
| geltenden Gesetzeslage werden als Leute denunziert, die wahlweise morden | |
| oder sich ihre Abtreibung wie ein Zahnbleaching abholen. | |
| Abort to go – das ist der Stand der deutschen Debatte im Jahr 2018, während | |
| in Weißrussland, in Frankreich und selbst im katholisch dominierten Italien | |
| Schwangerschaftsabbruch legal ist. | |
| Der raunende Ton in Deutschland hingegen ignoriert selbstgewiss die Krise, | |
| die Trauer und den Verlust jeder betroffenen Familie. Abtreibung als | |
| Verhütungsmethode, als kassenfinanzierte Beseitigungsmaschine behinderten | |
| Lebens – das ist der von konservativer Seite gesetzte Spin. Und das, obwohl | |
| die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche immer weiter sinkt: von 135.000 im | |
| Jahr 2001 auf 101.000 im Jahr 2017. | |
| Das politische Framing ist vergleichbar jenen uralten, moralisch sich | |
| überhebenden Verdächtigungen gegen Homosexuelle als Kinderficker, denen man | |
| meinte, die Ehe verweigern zu müssen. Und zwar exakt so lange, bis diese | |
| Sorte Diskriminierung gesellschaftlich und politisch nicht länger | |
| vermittelbar war. Ähnlich verhält es sich mit der Selbstbestimmung von | |
| Familien: Lesben, die Kinder kriegen, Frauen, die abtreiben, Familien, die | |
| Kitaplätze mit der Lupe suchen – irgendwie klappt es doch schließlich | |
| trotzdem immer. Wozu braucht es da neue Gesetze? | |
| Der politische Trend zur Diffamierung schiebt achtlos beiseite, was einer | |
| demokratischen Debatte gebühren würde: Offenheit, Empathie, Respekt. Frauen | |
| und Männer in einer Konfliktsituation werden mal wieder zu einer zu | |
| vernachlässigenden Minderheit erklärt. Argumentative Mauern werden | |
| hochgezogen, der Ton wird schriller. | |
| Schon die Debatte über den Paragrafen 219 a und die [2][Allgemeinärztin | |
| Kristina Hänel] ist bezeichnend. Eine seit 37 Jahren approbierte Ärztin, | |
| die ihre Patientinnen im Netz darüber informiert, dass sie | |
| Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, wird zu einer Strafe von 6.000 Euro | |
| verurteilt. Weil sie damit angeblich für Abtreibungen geworben hat, was | |
| verboten ist. Etwas zu äußern, was Frauen zusteht, gilt als | |
| Straftatbestand. | |
| ## Es ist illegal | |
| KritikerInnen richtet die neue CDU-Generalsekretärin Annegret | |
| Kramp-Karrenbauer per Twitter aus, man müsse „nicht jede ,Mode' mitmachen“, | |
| für die Konservativen sei der Schutz der Menschenwürde und das Lebensrecht | |
| des Ungeborenen immer aktuell. „Darum Pflicht zur umfassenden Beratung und | |
| Werbeverbot beibehalten.“ Menschenwürde gegen ein zur „Werbung“ | |
| degradiertes Recht auf Information – wer wollte dem schon widersprechen in | |
| diesen Zeiten? | |
| Das Signal der Geschichten von Kristina Hänel und [3][ihren | |
| kriminalisierten KollegInnen] lautet: Was ihr tut – die Ärztin und die | |
| Patientin – ist illegal. Und ja, das ist es. Nicht einmal die Reform des | |
| 218 nach der deutschen Wiedervereinigung konnte daran etwas ändern. | |
| Das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 ist | |
| nun auch schon wieder ein Vierteljahrhundert alt. Der Abbruch bis zur 12. | |
| Schwangerschaftswoche, urteilten die Richter seinerzeit, sei zwar nach wie | |
| vor rechtswidrig, müsse aber strafrechtlich nicht verfolgt werden. | |
| Vorausgesetzt, die Frau hat sich bis zu drei Tage vor dem Eingriff beraten | |
| lassen. | |
| Es mag sein, dass das für die westdeutschen Frauen ein Fortschritt war – | |
| für die ostdeutschen war es das weiß Gott nicht. In der DDR hatte seit 1972 | |
| das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ gegolten. Frauen | |
| durften innerhalb der ersten zwölf Wochen frei über einen Abbruch | |
| entscheiden. Keine Beratungspflicht, kein Reinreden, schon gar keine | |
| Strafandrohung. Das Wort der Frau galt. | |
| ## Die Zeiten werden nicht besser | |
| Nach der Wiedervereinigung gab es für die Ostfrauen noch eine dreijährige | |
| Übergangsfrist, danach galt der „Übelstand“ des Paragrafen 218 auch für | |
| sie. Ohne auch nur umziehen zu müssen, waren aus körperpolitisch befreiten | |
| misstrauisch beäugte Frauen geworden. Darüber, im Moment des historischen | |
| Umbruchs auch nur zu erörtern, was der Westen geschlechterpolitisch vom | |
| Osten lernen könnte, wurde von den Verfassern des Einigungsvertrages nicht | |
| einmal nachgedacht. | |
| Und tatsächlich, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1993 | |
| war ein verdruckster, aber praktikabler Kompromiss gefunden worden: Du | |
| darfst abtreiben – sehr wahrscheinlich wirst du nicht dafür bestraft. | |
| Damals konnte sich wohl niemand auch nur vorstellen, dass ein | |
| Vierteljahrhundert später eine rechte Partei im gesamtdeutschen Parlament | |
| sitzen würde, die die Meldepflicht für Abtreibungen und „gesetzliche | |
| Korrekturen für einen wirksamen Lebensschutz“ einführen möchte. | |
| So ändern sie sich, die Zeiten. Und nein, sie werden gerade nicht besser | |
| für Familien in Nöten. Mehr denn je gilt Willy Brandts Diktum von 1974, im | |
| Fall des Paragrafen 218 überschnitten sich Ethik und Politik in klassischer | |
| Weise. | |
| „Der Paragraf 218 ist in dem, was er real bewirkte, ein schwer erträglicher | |
| Restbestand sozialer Ungerechtigkeit des“ … nein, nicht des vorigen, | |
| sondern mittlerweile des vorvorigen Jahrhunderts. | |
| 23 May 2018 | |
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