# taz.de -- 40. Verleihung des Bachmann-Preises: Die stromernden Ichs | |
> Drei Tage lang lasen AutorInnen am Wörthersee um die Wette. Fast alle | |
> Texte erzählten aus einer Innenansicht heraus. | |
Bild: Sharon Dodua Otoo, Bachmann-Preisträgerin 2016 | |
Hört mich, liebt mich, seht doch, wie ich wirklich bin. Folgt mir, teilt | |
mich. Schenkt mir ein paar Likes. Vielleicht passt es in unsere Zeit, dass | |
es beim diesjährigen Bachmann-Preis in Klagenfurt so häufig um das „Ich“ | |
ging und beinahe jeder der 14 vorgetragenen Texte aus einer Innensicht | |
erzählt war, vollgepumpt mit Gedankenwust und Zwiegesprächen. | |
Das Ich kam aus dem Krieg oder lebte im Orient, das Ich war ein Schwimmer, | |
ein Zimmermädchen, Schriftstellerin oder Student, es zog sich Haare aus dem | |
Po, klappte fremde Koffer auf, das Ich war ein Ei. | |
Drei Tage lasen sieben Autorinnen und sieben Autoren vor einer | |
siebenköpfigen Jury am Wörthersee um die Wette, zum vierzigsten Mal, und | |
die Bedingungen waren allesamt, wie man sie sich im österreichischen | |
Kärnten für die Literaturtage wünscht: die Sonne gnadenlos, jede Nacht lau, | |
der Fußball schien so dramatisch, dass niemand über zu wiederholende | |
Präsidentenwahlen reden brauchte – beim Elfmeter gegen Italien rief der | |
ORF-Kommentator „ja, spinnt denn die Welt?“ –, und die Existenz des | |
Bachmann-Wettbewerbs, die immer wieder auf der Kippe steht, weil die | |
Fernsehausstrahlung teuer ist und der Fernsehsender sparen will, war | |
außerdem für ein weiteres Jahr gesichert. | |
Mit großen Worten hatte die Bürgermeisterin da den Eröffnungsabend | |
eingeleitet: „Klagenfurt verwandelt sich trotz der Europameisterschaft zu | |
einer wahren Literaturhauptstadt“ – Minuten später aber wich die Verheißu… | |
der Vergangenheit und einer ersten, intensiven Beschäftigung mit dem | |
Selbst: Burkhard Spinnen, lange Jury-Vorsitzender des Bachmann-Preises, | |
sprach in seiner „Rede zur Literatur“ ausschweifend von der Kraft, die es | |
ihn all die Jahre gekostet habe, die Vorwürfe abzuwehren, er veranstalte | |
eine „Vernichtungsorgie“. | |
Und das, obwohl er doch all die Jahre die vielen fremden, eingesandten | |
Texte mit sich „herumgetragen“ habe. Obwohl er die gesammelten Eindrücke | |
doch bis ins Wartezimmer seines Zahnarztes geschleppt habe, bis in den Stau | |
auf einer Autobahn, bis in seine Träume! Überhaupt, ein einziger Schmerz, | |
das Schreiben, seine „Rede zur Literatur“ allein: „Im Nu“ hatte sie 13 | |
Seiten, dann galt es zu straffen und zu verwerfen. „Nein, das waren | |
durchaus keine Belanglosigkeiten“, berichtete Spinnen vom Podium, bis man | |
glaubte, man habe Cäsar zugehört. Ich las, ich schrieb, ich kürzte. | |
## Größenwahn gedämpft | |
„Nein“, rief dann auch Stefanie Sargnagel, als sie ausgelost wurde, als | |
erste Teilnehmerin zu lesen. Dabei hätte es belebender nicht kommen können: | |
Sargnagel, die vor einem Jahr noch verächtlich über den Bachmann-Preis | |
gebloggt hatte, wurde dieses Jahr gleich von zwei Juroren eingeladen. In | |
Österreich ist sie längst ein „It-Girl“, eines der besonderen Sorte. | |
Zynisch und derb und in ihren Wiener Kneipen wahrscheinlich eher zu Hause | |
als beim Abendbuffet auf Schloss Maria Loretto, wo leise das | |
Wörtherseewasser ans Ufer schwappt. | |
Spätestens, nachdem ihr Videoporträt für den Wettbewerb verbreitet wurde, | |
in dem sie unter anderem ihre Lieblingsfarbe verriet – „intensives Grau“ … | |
wurde ihr Beitrag wohl zum meisterwarteten. Auch, weil man sich fragte, ob | |
sie tatsächlich einen Fließtext über mehrere DIN-A4-Seiten schreiben würde, | |
und nicht, wie sonst: Schnipsel. Sargnagel wurde mit Statusmeldungen auf | |
Facebook bekannt. Sie postet Mini-Einträge, live aus Österreich etwa | |
diesen: „Mein Größenwahn ist irgendwie gedämpft. Die andern AutorInnen sind | |
eh nett, ich muss sie nicht zerficken.“ | |
„Heftig für zehn Uhr morgens“ befand man in der Jury dann ihre Erzählung | |
einer gelangweilten Autorin, die ein bisschen Spaß und ein bisschen Sinn | |
sucht, vom Café in die Bar zieht, dort auf einen vermeintlichen Totschläger | |
trifft, ihrer Freundin eher widerwillig bei den Beziehungsproblemen zuhört | |
und aufs Erwachsenensein allgemein nicht viel Lust zu haben scheint. Dass | |
Sargnagel in Klagenfurt den Publikumspreis gewann, den sie sich mit | |
Sonnenbrille und einem Lob aufs „goldene Matriarchat“ abholte, war | |
vorauszusehen. | |
Ganz anders als die Kritik: Übereinstimmend klare Haltungen gab es unter | |
den Jurorinnen und Juroren in etwa so selten wie herausragend gute Texte. | |
Dass man sich brüstete, beim Bachmann-Preis „international wie nie“ zu | |
sein, Autoren aus Israel, England und Frankreich nach Klagenfurt gebeten | |
hatte, noch dazu Autoren höheren Alters, konnte nicht ändern, dass die | |
meisten Lesungen blass blieben. | |
## Tradition hat hier Tradition | |
So wurden die wenigsten Erzählungen oder Romanauszüge von einer Handlung | |
vorangetrieben, vielmehr verharrten die Ichs in inneren Monologen und | |
stromerten vor sich hin – hier das Kriegstrauma verarbeitend, dort den | |
Groll auf regimetreue Eltern. Man schlenderte mit Beduinen, traf ein paar | |
Hunde, und selbst wenn man eine Geflüchtete traf, wirkte das merkwürdig | |
zeitlos. Zeitlosigkeit aber hielt die Jury für wohltuend, trotz einer | |
Woche, in der es einen Anschlag auf Istanbuls Flughafen gab und in | |
Bangladesch zu einer Geiselnahme kam, zu der sich der IS bekannte. Die | |
Rückkehr zum Konventionellen, hieß es sogar einmal, werde wieder „zum | |
Risiko“. | |
Und ausgerechnet, wenn man die Chance hatte, sich weltoffen zu geben, fing | |
man an zu diskutieren. Da saß Tomer Gardi vor ihnen, im Kibbuz in Galiläa | |
geboren, mit einem Text in sehr gebrochenem Deutsch; „dann gehe ich Duschen | |
und trockene mich und liege nackt auf das Bett“, „und dann der Akkusativ | |
kommt“, allesamt mochten sie die Brüchigkeit dieses Stils – und dann | |
rätselte die Jury erst mal, wie ein solcher Text zu bewerten sei. Etwa mit | |
denselben Kriterien wie bei Muttersprachlern? „Welche | |
Einwanderungsbedingungen hat Sprache?“ | |
Aber so ist es eben mit Klagenfurt: Tradition hat hier Tradition. Draußen, | |
im Garten des ORF-Studios, waren sich zwei Damen schnell einig, dass der | |
Romananfang von Julia Wolf – der mit dem Schwimmer-Ich, ein schönes erstes | |
Kapitel, das von den Problemen und Sehnsüchten eines alternden Mannes | |
erzählt – der beste der Woche war: „Klassisch, das ist halt für uns.“ U… | |
auch im Studio störte sich niemand daran, dass ihr Text genauso gut „vor 25 | |
Jahren“ beim Bachmann-Wettbewerb hätte gelesen werden können, wie Juror | |
Klaus Kastberger sagte. Wolfs Schwimmbad-Stück wurde mit dem 3sat-Preis | |
ausgezeichnet; der sogenannte Kelag-Preis ging an Dieter Zwicky, einen | |
Schweizer, der bereits das zweite Mal in Klagenfurt las – diesmal eine | |
Geschichte, in der die Hauptfigur aus einer Kleinstadt besteht: Los Alamos. | |
Mit der Gewinnerin des eigentlichen Titels, um den hier konkurriert wurde, | |
war außerdem zu rechnen. Sharon Dodua Otoo, Engländerin und die | |
[1][Favoritin des Vortages], [2][gewann für ihre Persiflage auf ein | |
deutsches Rentnerpaar beim Frühstückstisch, den Bachmann-Preis]. 25.000 | |
Euro für einen Text, der zur Hälfte aus Sicht eines weich gekochten Eis | |
geschrieben ist. „Wer will schon ein Ei sein? Nicht wirklich rund, nicht | |
wirklich stabil, nicht wirklich attraktiv.“ Fast wie bei Loriot. | |
3 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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