| # taz.de -- 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin: Schönes Scheitern | |
| > Emotionalität, sprachliche Süße, faszinierende Frauenfiguren, politische | |
| > Radikalität. Das alles fand unser Autor einst in den Schriften | |
| > Hölderlins. | |
| Bild: Hölderlin im Kreisverkehr von Peter Lenk, Hölderlin-Kunstwerk, Lauffen … | |
| Friedrich Hölderlin, dessen nicht hospitalisiertes Leben von 1770 bis 1806 | |
| gedauert hat, gehört zu einer goethezeitlichen Lost Generation. Im | |
| Vertrauen auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen in der Folge der | |
| Französischen Revolution verließen junge Intellektuelle die Sicherheiten | |
| ihrer Heimat, ihrer sozialen Schicht und der ständisch vorgezeichneten | |
| Laufbahnen. Aber ihre Hoffnungen erwiesen sich im Verlauf der 1790er Jahre | |
| in desaströser Weise als trügerisch. | |
| Hölderlin ist nicht der Einzige, der damals zu neuen Ufern aufbrach und nie | |
| ankam. Hölderlins enger Freund Casimir Ulrich Boehlendorff wurde schwer | |
| depressiv. Friedrich Emerich, ein befreundeter Journalist, starb 1802, nach | |
| traumatisch desillusionierenden Erlebnissen im französischen Staatsdienst, | |
| vereinsamt und paranoid in einem Würzburger Spital. | |
| Hölderlins erster Verleger ertränkte sich 1796 bankrott und politisch | |
| verfemt im Rhein. Heinrich von Kleist erschoss sich 1811 am Wannsee. „Es | |
| wäre ein schreckliches Verzeichnis“, schrieb der Romantiker Achim von Arnim | |
| 1815 über Hölderlins Generation, „alle die herrlichen teutschen Geister | |
| aufzuzählen, die […] in Krankheit, Selbstmord oder verhassten Geschäften | |
| untergegangen sind.“ | |
| Das spätere 19. Jahrhundert (Revolution, Industrialisierung, Reichseinigung | |
| von oben, Gründerboom, Gründerkrach und all that jazz) hatte nicht viel | |
| Geduld mit den Beautiful Losers der Goethezeit. Erst die | |
| kulturrevolutionären, literaturreligiösen, lebensreformerischen, oft | |
| esoterischen Zirkel der frühen Moderne haben Hölderlin wiederentdeckt – | |
| zuerst der George-Kreis, aus dem die erste Werkausgabe hervorging. | |
| ## Radikale Politisierung, Antipsychiatrie und Mythisierung | |
| Der Höhepunkt enthusiastisch anverwandelnder Rezeption des Dichters im | |
| letzten Jahrhundert aber wurde in den Jahren nach 1968 erreicht. In Leben | |
| und Werk Hölderlins schienen drei Obsessionen und Lieblingsprojekte der | |
| Achtundsechziger um 200 Jahre vorweggenommen: radikale Politisierung (der | |
| „Jakobiner“ Hölderlin), Antipsychiatrie und eine vom frühen Derrida | |
| inspirierte „dekonstruktive“ Tendenz zur Mythisierung von Text, die in der | |
| „Frankfurter Ausgabe“ Dietrich E. Sattlers im Verlag Stroemfeld/Roter Stern | |
| ihr Monument erbaute. | |
| Zu dieser Zeit gehörte identifizierende Hölderlin-Lektüre längst zu den | |
| Grundlagen meines inneren Universums. Zum Teil hatte das sehr auf der Hand | |
| liegende Gründe. Ich war damals Zögling des „Evangelisch-Theologischen | |
| Seminars“, derselben im 15. Jahrhundert gegründeten Internatsschule, in der | |
| neben Schelling, Hesse und vielen anderen schwäbischen Intellektuellen eben | |
| auch Hölderlin auf das Tübinger Stift vorbereitet worden war, wo | |
| jahrhundertelang der kirchliche Nachwuchs Württembergs studierte. | |
| Dort trafen Schelling und Hölderlin in den Jahren nach der Französischen | |
| Revolution auf Hegel, mit dem sie einen schwärmerisch | |
| gesellschaftskritischen Jungmännerbund gründeten, der bei der Entwicklung | |
| der klassischen deutschen Philosophie eine wichtige Rolle gespielt hat. | |
| Hölderlin war für mich und meine Mitschüler ein Local Hero. Schon 1970 | |
| hatten mir meine Eltern – bei einem Ausflug nach Tübingen mit dem | |
| 18-jährigen Uracher Seminaristen – in der „alten“ Buchhandlung Gastl mei… | |
| erste Hölderlin-Ausgabe gekauft. | |
| Es war die warm orangefarben broschierte, von Friedrich Beißner und Jochen | |
| Schmidt herausgegebene dreibändige Taschenbuchausgabe des Insel-Verlags von | |
| 1969, die heute, zerfleddert und von unzähligen Notizen bedeckt, in meinem | |
| Bücherregal steht. In diesen drei Bänden zeigte sich dem Heranwachsenden | |
| ein subjektiver und zugleich irgendwie subversiver Zugang zur Welt der | |
| klassischen deutschen Literatur. | |
| ## Hölderlin der „mütterliche Autor“ | |
| Hölderlin war, anders als Kleist, Bismarck und Fontane (die Hausheiligen | |
| meines Vaters), der „mütterliche“ Autor. Schon auf den vergilbten Seiten | |
| handschriftlicher Florilegien, in denen meine Mutter im heimischen | |
| Esslingen als junges Mädchen ihre intensivsten Lesefrüchte sammelte, nahm | |
| er einen wichtigen Platz ein. | |
| Jetzt bot er einen Zugang zur klassischen Geisteswelt, der geprägt schien | |
| durch die von der Männertradition ausgeschlossenen Motive, die dem jungen | |
| Mann die wichtigsten waren: Emotionalität, sprachliche Süße und | |
| Ausführlichkeit (statt preußischer Understatement-Monumentalität), | |
| faszinierende Frauenfiguren, schönes Scheitern, protomodernistische | |
| Auflösung, Antiautoritarismus und politische Radikalität. | |
| Es war folgerichtig, dass die Beschäftigung mit Hölderlin bis zur | |
| Dissertation und darüber hinaus das Hauptgeschäft des jungen | |
| Literaturwissenschaftlers blieb (der ich dann doch nicht geworden bin). An | |
| meinen 25. Geburtstag habe ich zwei distinkte Erinnerungen: erstens das | |
| Album „The Who by Numbers“, das mir meine Freundin geschenkt hatte, und | |
| zweitens meinen Entschluss, über Hölderlin zu promovieren („Schon Mitte | |
| zwanzig und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!“). | |
| In den nun folgenden Jahren kristallisierten sich meine mühsamen und lange | |
| wenig erfolgreichen Versuche, schreiben zu lernen, um das Werk Hölderlins. | |
| Das unvergleichliche Gefühl, nach langem Auf-dem-Papier-Herumstottern | |
| plötzlich Luft unter die Tragflächen zu bekommen und erst ein paar Stunden | |
| später wieder herunterzukommen, worauf zum ersten Mal etwas dastand, das | |
| vielleicht doch irgendwie haltbar war – all das habe ich beim Verfassen | |
| einer Zulassungsarbeit über Hölderlin erlebt (man wird süchtig danach). | |
| ## „Talente muss man entmutigen“ | |
| Später allerdings gab mir mein Doktorvater Heinz Schlaffer, dessen | |
| pädagogisches Motto damals erklärtermaßen „Talente muss man entmutigen“ | |
| lautete, die erste Version meiner Doktorarbeit mit dem Verdikt zurück, das | |
| könne man ja alles möglicherweise so sehen, aber es sei so grauenvoll | |
| formuliert, dass man es kaum lesen könne. Ich verbrachte die nächsten | |
| Monate mit einer vollständigen stilistischen Überarbeitung, die ihm die | |
| Bemerkung entlockte, jetzt sei es ein bisschen besser, aber immer noch | |
| ziemlich schlecht. | |
| Im Übrigen schien Schlaffer, der sich damals vor allem mit Goethe, | |
| Kommerell und Aby Warburg beschäftigte, nicht allzu viel zu halten von der | |
| damals entstehenden „Stuttgarter Schule“ um Thomas Horst, Helmut Bachmaier | |
| und Peter Reisinger, die (inspiriert von den intrikaten | |
| philosophiehistorischen Forschungen Dieter Henrichs) vor allem die | |
| philosophischen Fragmente und das Spätwerk Hölderlins auf Spuren | |
| systematischer Einsichten abklopfte und die ich so hemmungs- wie | |
| hoffnungslos bewunderte. | |
| Das Spätwerk Hölderlins, sagte Schlaffer, erinnere ihn eher an die | |
| assoziativ-poetischen Bilder, die vor dem Einschlafen in einem aufsteigen. | |
| Je weiter es in die achtziger Jahre hineinging und je deutlicher mir wurde, | |
| dass ich Stuttgart (und das Schwäbische überhaupt) würde verlassen müssen, | |
| wenn noch etwas aus mir werden sollte, desto gleichgültiger wurden mir | |
| meine Bemühungen um Hölderlin. | |
| Eine Rezension von Uwe Henrik Peters Buch „Hölderlin. Wider die These vom | |
| edlen Simulanten“ in der Stuttgarter Zeitung war mein Einstieg in den | |
| literarischen Journalismus. Aber ich las das Belegexemplar schon als | |
| DAAD-Lektor in London. Damals, also um 1985 herum, habe ich, wie es am Ende | |
| von Wittgensteins „Tractatus“ heißt, die „Leiter“ die das Werk Hölder… | |
| für mich war (und die zugleich Schwaben, Idealismus, | |
| revolutionär-gnostische Weltverneinung, Universitätskarriere bedeutete) | |
| weggeworfen, nachdem ich auf ihr hinaufgestiegen war. | |
| „Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig“, heißt … | |
| bei Wittgenstein, und so ist es mir mit Hölderlin auch gegangen. Aber | |
| vergessen habe ich seine Sätze nie. | |
| 19 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephan Wackwitz | |
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