# taz.de -- Neu-Übersetzung von Gustave Flaubert: Stilwille und Rauch | |
> Elisabeth Edl hat Flauberts Desillusionsroman „L’Éducation sentimentale�… | |
> neu übertragen. Der deutsche Titel lautet jetzt „Lehrjahre der | |
> Männlichkeit“. | |
Bild: Größter Roman des französischen 19. Jahrhunderts: Gustave Flaubert | |
Es ist, schon rein äußerlich, eine prachtvolle neue deutsche Ausgabe der | |
„Éducation sentimentale“, gedruckt und ausgestattet wie zu Zeiten, als es | |
noch einen Unterschied zwischen Hard- und Paperbacks gegeben hat: | |
wunderbares Papier, Leinen, zwei verschiedenfarbene Lesebändchen, ein | |
ausführliches, kenntnisreiches Nachwort, verlässliche und ausführliche | |
Anmerkungen. Und: ein kanonischer Anspruch. | |
Dieser Anspruch konzentriert sich in der Neuübersetzung des Titels, der nun | |
„Lehrjahre der Männlichkeit“ lautet. „Für fast alle großen Romane der | |
Weltliteratur“, schreibt die Übersetzerin Elisabeth Edl, „setzt sich | |
irgendwann auch in der fremden Sprache ein kanonischer Titel durch.“ | |
Der Einfall, den größten Roman des französischen 19. Jahrhunderts über den | |
Titel mit dem bedeutendsten deutschen des 18. Jahrhunderts – mit Goethes | |
„Lehrjahren“ nämlich – zu verbinden, stammt von dem Journalisten, Lektor | |
und Übersetzer Paul Wiegler, der die „Éducation sentimentale“ in seiner | |
1951 posthum erschienenen Übersetzung als „Lehrjahre des Gefühls“ | |
betitelte. | |
Elisabeth Edl geht einen Schritt weiter und zieht zur Namensgebung einen | |
feministischen Roman der [1][deutschen Romantik] heran, Friedrich Schlegels | |
„Lucinde“. Dort wird die Entwicklung der männlichen Hauptperson bis zur | |
entscheidenden Begegnung mit jener verführerischen und freiheitsliebenden | |
Lucinde in einem „Lehrjahre der Männlichkeit“ überschriebenen Kapitel | |
geschildert. | |
Flaubert kannte Schlegels „Lucinde“; in der „Ur-Éducation“ von 1845 he… | |
eine der Figuren so. Wenn dem Rückgriff auf Schlegel trotzdem eine gewisse | |
Willkürlichkeit (und nicht zuletzt eine denkbar unhistorische Verbeugung | |
vor gegenwärtigen Genderdebatten) anzumerken ist, liegt das auch daran, | |
dass der Bezug auf Goethe schon in den frühen fünfziger Jahren den | |
Gattungscharakter der „Éducation“ eigentlich verfehlt hat. | |
## Vom Helden bleibt nichts übrig | |
Denn anders als bei Goethe, der das allmähliche Hineinwachsen des Helden | |
und seiner Illusionen in die Realitäten der bürgerlichen Gesellschaft | |
schildert, bleibt bei Flaubert weder von der Gesellschaft noch von seinem | |
Helden etwas Nennenswertes übrig. „Bildung“ ist das Ziel der von Goethe | |
inaugurierten deutschen Romantradition. In der französischen dominiert der | |
bei Flaubert kulminierende „Desillusionsroman“. | |
Löst die Übersetzung selber den kanonischen Anspruch ein, den der Titel | |
beansprucht? Das kann man so oder so sehen. | |
Der erste Satz des Romans versetzt die Leserin mit dem Realsymbol eines | |
Dampfschiffs an den Vorabend der industriellen Ära. Bei Edl (die für den | |
Hanser-Verlag auch schon Flauberts „Madame Bovary“ übersetzt hat) liest | |
sich das so: „Am 15. September 1840, gegen sechs Uhr früh, kurz vorm | |
Ablegen, paffte die Ville-de-Montereau dicke Wolken am Quai Saint-Bernard.“ | |
## Etwas vage Gegenwärtiges | |
Bei Paul Wiegler, am Anfang derjenigen „Éducation“, die ich in den | |
siebziger Jahren zum ersten Mal (und dann immer wieder) gelesen habe: „… | |
lag die ‚Stadt Montereau‘ fahrbereit am Quai Saint-Bernard. Dicke | |
Rauchwolken entwälzten sich ihrem Schlot.“ Bei Maria Dessauer wiederum, | |
2001, liegt das Schiff, das den Helden nach Paris bringen wird, „fahrbereit | |
am Quai Saint-Bernard und stieß dicke Rauchschwaden aus“. | |
Was passiert in diesen deutschen Versionen des französischen Satzes? Es ist | |
eine Art Duell zwischen französischer Klassizität – „fumait à gros | |
tourbillons“ lautet der Urtext – und verschiedenartigen deutschen Milieus | |
des Stilwillens: expressionistisch bei Wiegler, naturalistisch bei | |
Dessauer. Edls „paffen“ wiederum bringt etwas vage Gegenwärtiges, in | |
Verbindung mit den „dicken Wolken“ auch Gemütliches, fast ein bisschen | |
Harmloses (eine Art „[2][Jim Knopf] und Lukas der Lokomotivführer“-Ton) an | |
das klassisch-kalte „fumait“ heran. | |
Kurz: Wie man es macht, ist es falsch. Und doch ist die „Éducation | |
sentimentale“ hinter all diesen Schleiern, hinter all den auf verschiedene | |
Art an sich selber scheiternden Übersetzungen zu spüren; und außerdem | |
wollen wir als Leser, wenn wir schon kein Französisch können, jetzt endlich | |
in das Buch hineinkommen und wissen, wie es weitergeht mit diesem seltsam | |
uneindeutigen Fréderic Moreau und seiner Reise ins Leben. | |
## Erinnern – transitiv oder reflexiv? | |
Was alles nur heißen soll: Es gibt keine kanonische Übersetzung dieses | |
größten Romans des großen Flaubert, ebenso wenig wie eine endgültig | |
„richtige“ Übersetzung seines eigenartigen Titels. Was kanonisch wird, | |
entscheidet sich sowieso erst frühestens in schätzungsweise fünfzig Jahren. | |
Elisabeth Edls Übersetzung ist redlich, leidlich genau, manchmal in einem | |
übertriebenen Aktualitätswillen fragwürdig (auf Seite 202 zum Beispiel | |
frönt sie – „dann erinnerte er augenblicklich seine große Liebe“ – dem | |
zeitgenössischen Anglizismus, „erinnern“ transitiv zu verwenden, statt, wie | |
es als Nachbildung des Französischen von 1869 in jedem Fall korrekt wäre, | |
als Reflexivum mit Präposition; und so weiter). | |
Es ist eine gute Übersetzung – und das heißt: eine so möglichst wenig | |
schlechte Übersetzung wie ihre Vorgängerinnen. Ob sie sich als kanonisch | |
durchsetzen wird? Wer kann das wissen. Es ist wie bei Denkmälern in Parks | |
und auf öffentlichen Plätzen, deren kanonischer („eigentlicher“) Zweck, an | |
[3][Otto von Bismarck] oder Alexander Hamilton zu erinnern, längst | |
überwuchert ist von den Erinnerungen, Eindrücken und Assoziationen, die | |
jedem und jeder, die an ihnen vorbeigegangen sind, beim zerstreuten | |
Hinsehen auf jene Statuen in den Sinn kamen; sodass am Ende jede und jeder | |
sein eigenes Denkmal hat und von kanonischer Wahrheit nicht die Rede sein | |
kann. | |
## Zerfleddert und vergilbt | |
Als ich den wundervoll ausgestatteten Hanser-Band weglegte und mir (zum | |
wievielten Mal?) die zerfledderte und vergilbte johannisbeerfarbene Kladde | |
aus der „Rowohlts Klassiker“-Reihe mit Paul Wieglers Übersetzung vornahm, | |
war ich zu Hause in der mir gewohnten „Éducsentime“ und Elisabeth Edls | |
Kanonizitätsanspruch vergessen. | |
Was weder Paul Wieglers Übersetzung besser macht als die von Elisabeth Edl | |
noch dieser etwas am Zeug flicken kann. Wohl aber ihren Anspruch | |
dementiert, auf Deutsch die „Éducation to end all Éducations“ geliefert zu | |
haben. | |
19 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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