| # taz.de -- Doku über Hamburgs SPD-Basis: Das geilste Drama | |
| > Filmemacher Jan-Christoph Schultchen hat Hamburger SPD-Ortsvereine | |
| > begleitet. In dieser Zeit fuhr die Partei ihr schlechtestes Ergebnis seit | |
| > 1887 ein. | |
| Bild: Politik ist Handarbeit: Szene aus dem Dokumentarfilm „Unten“ | |
| Filmemacher Jan-Christoph Schultchen kümmert sich darum, dass sein Traum | |
| Wirklichkeit wird. Im Flur des Kreisbüros der SPD Bergedorf, dem | |
| flächenmäßig größten Bezirk Hamburgs am südwestlichen Stadtrand, legt er | |
| Flyer in den Zeitschriftenhalter. „Hier lass’ ich auch ein paar“, sagt er | |
| und strahlt. | |
| Die Flyer werben für [1][seinen Film „Unten – Im Ortsverein“] über | |
| Hamburger SPD-Ortsvereine, der am 6. November Premiere feiert und den er in | |
| Alleinregie auf eigene Kosten produziert hat. Schultchen ist 61, Kameramann | |
| und selbst SPD-Mitglied. Er träumt davon, dass Leute seinen Film sehen, | |
| sagt er. Dafür hat er seine Genoss*innen eineinhalb Jahre lang mit der | |
| Kamera begleitet, hauptsächlich in den ehemaligen | |
| Arbeiter*innenstadtteilen von Bergedorf, wo mehr als fünfzig Prozent | |
| der Einwohnenden eine Migrationsgeschichte haben. | |
| Begonnen hat er im Sommer 2023 und geendet zur Bundestagswahl im Januar | |
| 2025 – als die SPD mit 16,4 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis | |
| seit 1887 einfuhr. Um dann eine Regierungskoalition einzugehen unter einem | |
| Kanzler Friedrich Merz. | |
| ## Auf eigene Kosten | |
| Da arbeitet also einer jahrelang auf eigene Kosten an einer Dokumentation | |
| für die Kinoleinwand – und wählt als Thema die SPD? Wieso? Und warum lassen | |
| sich Teile der Hamburger SPD-Basis auch noch freiwillig filmen, während | |
| ihre Partei dermaßen den Karren in den Sand setzt? Und wie finden sie das | |
| Ergebnis? | |
| Um das herauszufinden, trifft die taz den Filmemacher Schultchen und einen | |
| Protagonisten des Films, Michael Schütze (57 und Vorsitzender der SPD | |
| Lohbrügge) am wichtigsten Drehort: dem Bergedorfer Kreisbüro. | |
| „Das hat visuell unglaublich viel zu bieten“, hat Filmemacher und Fotograf | |
| Schultchen schon am Telefon versprochen. Draußen leuchtet von der leicht | |
| angemoosten Fassade des graugrünen Eckhauses ein rotes Schild mit weißen | |
| Lettern: „SPD“. Am Briefkasten klebt ein zerrissener Sticker: „Zukunft: | |
| ialismu“. Das Gesicht von Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher | |
| (SPD) auf einem Plakat vom letzten Bürgerschaftswahlkampf an der gläsernen | |
| Eingangstür erinnert daran, dass die SPD in dieser Stadt eine weit | |
| bedeutendere Rolle spielt, als dieses Kreisbüro auf den ersten Blick | |
| vermuten lässt. | |
| Jetzt sitzen sich drinnen im Sitzungssaal Jan-Christoph Schultchen und | |
| Michael Schütze unter Neonlicht gegenüber, am Kopfende U-förmig | |
| angeordneter Tische. Vor den Fenstern hängen dicke rote Vorhänge, auf dem | |
| Tisch liegen verschnürte Stapel Filmplakate. Schultchen – mit zersaustem | |
| grauen Haar, Wollpulli und runder Brille – reißt aufgeregt ein Paket auf. | |
| „Die sind ganz frisch“, sagt er. | |
| ## Zwei Männer an der Basis | |
| Beide Männer sind geborene Bergedorfer. Schütze ist Historiker und seit 38 | |
| Jahren dabei, Schultchen seit 8: Schütze trat 1987 ein, „wegen Willy | |
| Brandt“, den er sehr bewundere. Schultchen wurde 2017 Genosse, als | |
| Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert die SPD-Basis aufrief, gegen eine | |
| Beteiligung an der Großen Koalition zu stimmen. Er trat ein, „weil die SPD | |
| [2][wieder eine linke Partei] werden muss“. Eigentlich hätten ihn eher so | |
| kommunistische Stammtische politisiert, heute ist er | |
| Ortsvereinsvorsitzender in Wentorf in Schleswig-Holstein an der Hamburger | |
| Grenze. Weil [3][Kommunalpolitik] einen Sog ausgeübt habe. | |
| Ortsvereine sind die kleinste organisatorische Einheit der SPD. Sie bringen | |
| lokale Themen über Anträge ins Wahlprogramm und stemmen den Wahlkampf. Dass | |
| sie in Hamburg Distrikte heißen, ist nicht das Einzige, was hier anders | |
| läuft als im Bund. Zwar holte die SPD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl | |
| im Februar 5,7 Prozentpunkte weniger als vor fünf Jahren, blieb aber mit | |
| Abstand stärkste Kraft. In anderen Städten gibt es nur einen Ortsverein | |
| oder gar keinen. In Hamburg 75, allein im Bezirk Bergedorf 6. | |
| Das ist auch einer der Gründe, warum Schultchen hier drehen wollte: „Weil | |
| hier was los ist“. Außerdem sei es praktisch gewesen, dass er von seinem | |
| Wohnort in Wentorf mal eben rüberfahren konnte, wenn eine Aktion war. Geld | |
| verdient er eigentlich als Kameramann und Fotograf, drehte schon mal für | |
| ARD und Arte, hat Imagefilme und Musikvideos produziert, für Volkswagen, | |
| Bosch und für Fettes Brot. „Habe reiche Leute noch reicher gemacht“, sagt | |
| er darüber, „also gutes Handwerk, aber letztendlich entfremdet“. | |
| Schultchen hatte die Idee zu seinem Film am Anfang mal vergeblich dem NDR | |
| angeboten, als Geschichte über Partizipation und Demokratie von unten. Am | |
| Ende hat er dann doch alles selbst gemacht, Kamera, Schnitt, Produktion – | |
| er „besitze ja die Produktionsmittel“, die Entscheidungen. | |
| ## Ein Meer roter Fahnen | |
| Obwohl Schultchen selbst in seinem Film nicht auftaucht, ist er als | |
| einziger auf dem Filmplakat zu sehen. In heroischer Pose hält er eine | |
| riesige wehende SPD-Fahne, den Blick an der Betrachterin vorbei auf eine | |
| unbestimmte Stelle außerhalb des Bildes gerichtet, hinter ihm ein düsterer | |
| wolkenverhangener Himmel. | |
| Michael Schütze hingegen kommt auch wirklich im Film vor, und das gleich an | |
| mehreren Stellen. Gesehen hat er das Ergebnis aber noch nicht. War er denn | |
| gar nicht neugierig? „Tatsächlich nicht, weil ich von Anfang an ’ne | |
| kritische Distanz hatte“, sagt er. Er habe zudem die Rückmeldung bekommen, | |
| dass das Ergebnis „nicht so schlimm ist, wie ich es befürchtet habe“, sagt | |
| er, „also aus Sicht der SPD-Lohbrügge jetzt gesehen“. Außerdem war er im | |
| Urlaub, als Schultchen den Film im August im Kreisbüro vorführte. | |
| Schultchen: „Leute hatten Tränen in den Augen.“ Schütze: „Vor Lachen?“ | |
| Schultchen: „Nee, vor Rührung!“ | |
| Schütze, Vokuhila, Jeanshose und Jeanshemd, schaut zurückgelehnt und mit | |
| verschränkten Armen zu, wie Schultchen die Plakate auspackt. Er trägt all | |
| Denim, also Jeans mit Jeans: heute, bei allen Auftritten im Film und auf | |
| fast allen Fotos, die es von ihm im Internet gibt. Never change a running | |
| outfit. | |
| Als Jan-Christoph Schultchen mit der Filmidee ankam, war Michael Schütze | |
| sehr skeptisch. „Ich hätt’s nicht mitgemacht“, sagt er. Er habe als | |
| Ortsvereinsvorsitzender den Auftrag, seinen Ortsverein zu schützen. „Du | |
| weißt ja nicht, was der Typ macht. Gibt genug Leute, die uns in die Pfanne | |
| hauen wollen“, sagt er. Aber es gab einen Beschluss, die Mehrheit war | |
| dafür. „Also …“ | |
| Wenn Jan-Christoph Schultchen von der Idee zum Film erzählt, überschlägt | |
| sich seine Stimme und er trommelt mit den Fingern auf den Tisch. In einer | |
| der Sitzungen seines Wentorfer Ortsvereins habe er gedacht, wenn jetzt eine | |
| Kamera laufen würde: „Das ist ja das geilste Drama!“ Dass man da mit Leuten | |
| sitze, die politisch alle was wollten, aber so verschieden seien: „von | |
| reaktionär bis ganz revolutionär, Polizisten, irgendwelche Jusos, da | |
| irgendeinen Konsens zu finden: fast nicht möglich!“ Schultchen klingt, als | |
| wäre es wirklich das geilste, was er sich vorstellen kann. | |
| Und ungefähr so hat er es dann auch gemacht und bei vielen Sitzungen in | |
| Bergedorf einfach die Kamera laufen lassen. Herausgekommen ist ein durchaus | |
| kinotauglicher Film. In hohem Kontrast und mit zurückgefahrenen Farben | |
| wechselt er Szenen von endlosen Diskussionen im Kreisbüro, von Gesprächen | |
| am Wahlkampfstand im Winter, den Jusos beim Boßeln mit Ansichten von | |
| Straßenzügen und Plattenbauten in Bergedorf im Schneeregen. | |
| Der Film trägt ab und zu dick auf. Zum Beispiel, wenn Szenen von Demos mit | |
| Interviews und einer fetten Version der „Internationalen“ übereinander | |
| geschnitten sind und rote Schals, rote Pullunder, rote Regenschirme und | |
| rote Parteibücher nicht ausreichen, sondern Schultchen regelmäßig Szenen | |
| mit SPD-Rot überblendet. | |
| Aber es gibt auch ruhige Stellen, der Film ist durchaus nachdenklich. Einen | |
| Kommentartext gibt es nicht. Die Protagonist*innen erklären, was man | |
| sieht, wie die SPD funktioniert und was sie in der Partei hält. Es fallen | |
| Sätze wie: „Ich lauf jetzt nicht stolz rum und erzähl, dass ich in der SPD | |
| bin“, Touali Koré, 22, Jusos Bergedorf, oder: „Warum bin ich eigentlich | |
| hier? Ich könnte auch schlafen oder Wäsche aufhängen“, Clemens Schlage, 24, | |
| auch Juso. | |
| Mehrere Protagonst*innen berichten der taz, dass ihnen der Film | |
| gefällt. Als sie ihn zum ersten Mal in großer Runde im Kreishaus sahen, | |
| habe es große Empathie untereinander gegeben, sagt Clemens Schlage von den | |
| Bergedorfer Jusos, der das mit dem Wäsche-Aufhängen gesagt hat. „Weil man | |
| im Film ehrlicher war als im Alltag.“ Viele hätten sich sehr gesehen | |
| gefühlt. | |
| Dass die Protagonist*innen den Film mögen, sei ihm wichtig, sagt | |
| Jan-Christoph Schultchen. „Die Leute, die hier an der Basis arbeiten, denen | |
| kannst du nix vorwerfen. Die machen alles genau richtig.“ | |
| ## Was sie antreibt | |
| In seinen besten Momenten fragt der Film, was Leute motiviert, sich heute, | |
| in entfremdeten neoliberalen Verhältnissen, [4][an der Basis einer Partei] | |
| wie der SPD zu engagieren und dabei noch am Anspruch festzuhalten, linke | |
| Politik zu machen. Und was es mit ihnen macht, wenn sie länger dabei sind | |
| und in der Parteihierarchie aufsteigen – oder eben an der Basis bleiben, | |
| wie Michael Schütze. | |
| Auch wenn Schütze den Film noch nicht gesehen hat, findet er schon gut, | |
| dass es ihn gibt, auch wegen der Aufmerksamkeit: „Natürlich freut man sich, | |
| wenn man liest, dass die SPD-Lohbrügge ’n toller Ortsverein ist, klar, weil | |
| man dieses Lob normalerweise ja nicht kriegt, weil die Leute nicht | |
| mitkriegen, was wir machen.“ | |
| SPD-Ortsvereine können den Film beim Filmverleih ausleihen, über die | |
| Bundesrepublik verstreut sind schon ein paar Veranstaltungen geplant. Und | |
| Michael Schütze will ihn schon auch noch sehen, am 11. November in Hamburg, | |
| bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung. | |
| Zum Schluss zeigt Schütze noch, was an der SPD nicht totzukriegen ist. Über | |
| einen Tisch im Flur des Kreisbüros gebeugt, malt er Kreise auf die | |
| Rückseite eines alten Flyers. „Schreibt noch!“, sagt er und hält einen | |
| schlichten Kugelschreiber aus vergilbter roter Hartpappe in die Höhe: ein | |
| Werbegeschenk aus dem Bundestagswahlkampf 1986. | |
| 1 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://barnsteiner-film.de/unten-im-ortsverein/ | |
| [2] /Linke-in-der-SPD/!5449202 | |
| [3] /Kommunalpolitik-in-Schleswig-Holstein/!5981337 | |
| [4] /Abstimmung-ueber-SPD-Vorsitz/!5636233 | |
| ## AUTOREN | |
| Amira Klute | |
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