| # taz.de -- Dokumentarfilm-Festival in Leipzig: Die Sisyphusarbeit der Aufklär… | |
| > Konfrontation mit den Realitäten der Welt: Das war auf dem | |
| > Dokumentarfilm-Festival in Leipzig in Fülle zu erleben. | |
| Bild: In Matea Radics Kurzfilm „Paradaïz“ reist die Protagonistin zu ihrem… | |
| Mit einem Foto von sich vor ihrem ehemaligen Zuhause in Sarajevo in der | |
| Hand wagt sich die animierte Protagonistin in Matea Radic „Paradaïz“ auf | |
| die Reise in ihre Heimatstadt – und in ihre eigene Vergangenheit. In der | |
| Wohnung ihrer Eltern sind die Spuren dieser Vergangenheit unübersehbar – | |
| durch die Wände der Einschusslöcher im Flur fällt Sonnenlicht. Sorgfältig | |
| überklebt die Protagonistin jedes der Löcher mit einem Smiley-Aufkleber. | |
| Als die Bomben in ihrer Erinnerung wieder zu fallen beginnen, hebt sie das | |
| Gras der Landschaft um die Stadt wie eine Decke an und verkriecht sich | |
| schutzsuchend darunter. | |
| „Paradaïz“ bedient sich einer ebenso schlichten wie eindrücklichen | |
| Bildsprache. Die Universalität der Animation macht deutlich, wie lange die | |
| Schatten der Vergangenheit für all jene fortwirken, die Krieg und Traumata | |
| erlebt haben. Matea Radics Film gewann im Wettbewerb der animierten | |
| Kurzfilme auf der 68. Ausgabe von Dok Leipzig, die Sonntag zu Ende ging, | |
| die Goldene Taube. | |
| Die diesjährige Ausgabe war die letzte unter der Leitung von Christoph | |
| Terhechte, der die künstlerische Leitung des Festivals 2020 übernommen | |
| hatte. Zuvor hatte Terhechte von 2001 bis 2018 die Sektion Forum auf der | |
| Berlinale geleitet. In seiner Rede zur Eröffnung hatte Terhechte noch | |
| einmal auf die bedrohte Lage von Kultur und Filmfestivals hingewiesen: | |
| „Kultur ist bedroht. Sie ist bedroht durch schwindende Mittel, durch | |
| politische Einflussnahme, durch Selbstzensur und nicht zuletzt durch | |
| Gleichgültigkeit.“ | |
| Wie konkret diese Bedrohung ist, konnte der [1][Festivalleiter Ende letzten | |
| Jahres] selbst erleben, als die CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat | |
| öffentlich erwog, dem Festival die kommunalen Mittel zu streichen. Zu | |
| Beginn des nächsten Jahres wird Ola Staszel, bisherige Leiterin des Neiße | |
| Filmfestivals, die künstlerische Leitung von Dok Leipzig übernehmen. | |
| ## Kampf gegen nationalistischen Hass | |
| Wie in den letzten Jahren war auch diese Ausgabe ein Füllhorn der | |
| filmischen Konfrontation mit den Realitäten der Welt. Wer während des | |
| Festivals nach Leipzig kommt, reist ins Herz des zeitgenössischen | |
| Dokumentarfilms – in den Vorführungen ebenso wie in den Begegnungen am | |
| Rande des Festivals. | |
| Vor allem der internationale Dokumentarfilmwettbewerb wartete mit einer | |
| ganzen Anzahl starker Filme auf – darunter gleich eine ganze Reihe aus den | |
| Ländern des Balkans. Ivan Ramljak gewann mit seinem Footagefilm | |
| „Mirotvorac“/„Peacemaker“ über die Versuche des Polizeichefs von Osijek | |
| Anfang der 1990er Jahre, dem immer stärker werdenden nationalistischen Hass | |
| Grenzen zu setzen, die Goldene Taube als bester Langfilm im Internationalen | |
| Wettbewerb Dokumentarfilm. | |
| Ramljak beginnt mit dem Chaos, das auf den Mord an Josip Reihl-Kir am 1. | |
| Juli 1991 folgte. Beharrlich und präzise verwebt Ramljak zeitgenössische | |
| Aufnahmen aus dem kroatischen Fernseharchiv mit Zeitzeugenstimmen aus der | |
| Gegenwart, um die Vorgeschichte dieses Mordes zu erzählen. „Peacemaker“ ist | |
| ein ausgesprochen eindrücklicher Film, dessen Archivaufnahmen noch lange | |
| nachhallen. | |
| Srđan Kovačević’ „Ono što treba činiti“ / „The Thing to be Done“… | |
| ist ein gänzlich gegenwärtiger Film: Er dokumentiert die unermüdliche | |
| Arbeit des Büros für Arbeitnehmerrechte „Delavska svetovalnica“ im | |
| slowenischen Ljubljana. Auf engstem Raum kämpfen die drei Mitarbeiter_innen | |
| des Büros für Arbeitnehmer_innen, die in einer Kette von Subunternehmern | |
| gefangen sind und regelmäßig um ihren Lohn und ihre Rechte betrogen werden. | |
| ## Auf der Tonspur singt die Gewerkschaft | |
| Doch Kovačević bleibt nicht beim bloßen Dokumentieren: Mit Hilfe von einer | |
| guten Handvoll Liedern aus der europäischen Gewerkschaftstradition auf der | |
| Tonspur macht er hinter der alltäglichen Sisyphusarbeit von Goran Zrnić, | |
| Goran Lukić und Laura Orel das grundsätzliche Beharren auf | |
| Arbeitnehmerrechten sichtbar. Und wer den Film gesehen hat, weiß um die | |
| Geheimwaffe des Büros: Goran Lukić’ Kunst, am Telefon zu bekommen, was er | |
| will. Immer wieder bearbeitet Lukić Arbeitgeber und Klienten mit einer | |
| Mischung aus Charme, Witz und Unerschütterlichkeit. | |
| Seit den 1990er Jahren hat sich die Retrospektive zu einem der | |
| Markenzeichen von Dok Leipzig entwickelt. Anders als andere Festivals | |
| befragt Dok Leipzig konsequent unter stets neuen Gesichtspunkten die eigene | |
| Festivalgeschichte und damit nicht selten auch deutsch-deutsche | |
| Filmgeschichte oder wie in diesem Jahr gleich Grundannahmen über Festivals | |
| in Zeiten des Kalten Kriegs. | |
| Die diesjährige von den Filmhistorikern Tobias Hering und Tilman Schumacher | |
| kuratierte Retrospektive widmete sich unter dem Titel „Un-American | |
| Activities“ der überraschenden Erkenntnis, dass mitten im Kalten Krieg seit | |
| 1962 kein Festivaljahrgang des Leipziger Festivals ohne Filme aus den USA | |
| stattfand. Insgesamt 150 Filme brachten zu Lebzeiten der DDR Realitäten und | |
| soziale Konflikte der USA auf die Leinwände des Festivals, was die | |
| Kuratoren zum Anlass nahmen, die Retrospektive über den Festivalzeitraum | |
| hinaus zu erweitern und vor und nach dem Festival im Leipziger Luru-Kino | |
| weitere Filme zu präsentieren. Ein Teil der Filme wird im Januar im | |
| Berliner Zeughauskino erneut zu sehen sein. | |
| In seiner Einführung zu Eröffnung betonte Tobias Hering, dass man gut daran | |
| tut, die Reibungen und Spannungen zwischen dem Inhalt der Filme und dem | |
| Bild, dass die DDR-Kulturpolitik in Leipzig von sich zu vermitteln | |
| versuchte, nicht durch Blindheit oder Unfähigkeit derjenigen zu erklären, | |
| die die Filme ausgewählt haben. Vielmehr sollte die Auswahl dieser Filme | |
| historisch so verstanden werden, dass innerhalb des Festivals | |
| unterschiedliche Interessen bestanden. | |
| Das Überraschendste aber war, während der Vorführungen der Retrospektive | |
| immer wieder die Gegenwärtigkeit der Filmgeschichte festzustellen. So | |
| rechnete in der ersten Vorführung während des Festivals der | |
| US-Dokumentarfilmer Robert Carl Cohen mit über 90 in einer Videoschalte mit | |
| der US-Politik der Gegenwart ebenso nachdrücklich ab, wie sein Film | |
| [2][„Committee on Un-American Activities“] von 1962 es mit einer der | |
| letzten Selbstermächtigungen konservativer US-Politiker getan hatte. Dok | |
| Leipzig war auch dieses Jahr am Puls der Zeit. | |
| 3 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /67-Dokfilm-Festival-in-Leipzig/!6046885 | |
| [2] /Rituale-der-Demuetigung/!530020&s=Committee+on+Un+American+Activities&… | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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