| # taz.de -- Fiona Sironics nominiertes Romandebüt: Es gibt ein Leben nach dem … | |
| > „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ | |
| > von Fiona Sironic ist Coming-of-Age-Roman und Climate Fiction zugleich. | |
| Bild: Lässt ihre Figuren in den 2050ern über die Datenautobahn cruisen: Autor… | |
| „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ – | |
| ein Satz zum Verlieben, so lakonisch klingt er. Die Autorin Fiona Sironic | |
| wiederholt ihn immer mal wieder im Verlauf ihres vielversprechenden Debüts, | |
| das [1][Climate Fiction] und Coming-of-Age-Roman zugleich ist, als wäre | |
| ihre Erzählerin ihm selbst ein bisschen verfallen. Obendrein hat sie ihn | |
| zum Titel gekürt: ein bisschen kokett in seiner epischen Breite und | |
| durchaus verheißungsvoll im Kontrast von Niedlichkeit und Zerstörung. | |
| Tatsächlich schildert der Satz einen konkreten Vorgang, den die 16-jährige | |
| Ich-Erzählerin Era analog im Wald beobachtet statt wie sonst nur digital im | |
| Stream. Denn die gleichaltrige Maja und ihre kleine Schwester Merle zeigen | |
| ihr bizarres Zündel-Hobby, das einst mit dem Aufschäumen von Cola und | |
| Mentos begann, auf ihrem eigenen „Kanal“. Da sind sie ganz Töchter ihrer | |
| Eltern, der Promis Alice&Elisa, die als „Mumfluencerinnen“ ihren und den | |
| Alltag ihrer Kinder von klein auf dokumentiert haben und damit reich | |
| geworden sind. Ein Missbrauch, findet jetzt die ältere Maja: Was liegt da | |
| näher, als die Backup-Festplatten der Mütter zu verbrennen? | |
| Auch Era, der Maja schon in der Schule aufgefallen ist, wächst nur bei | |
| Frauen auf. Mutter und Tante leben prekär oder in alternativen Strukturen: | |
| Während die Tante in einem Gewächshaus-Wohnprojekt „Bienendienst“ leistet | |
| aka Pflanzen bestäubt, wertet die Mutter Influencerstreams wie die von | |
| Alice&Elise im Rahmen eines Forschungsprojekts zum „Early Internet“ | |
| wissenschaftlich aus. Die digitale Arbeit hat bereits ihre Wirbelsäule, | |
| Aufmerksamkeitsspanne und Mütterlichkeit in Mitleidenschaft gezogen. Era | |
| wiederum leistet auf Rat eines Therapeuten Trauerarbeit, indem sie | |
| Steckbriefe gerade [2][ausgestorbener Vogelarten erstellt], vom | |
| neuseeländischen Kakapo bis zur europäischen Elster, oder über gefiederte | |
| Dinosaurier und Pokémons philosophiert. | |
| Denn Fiona Sironics Roman spielt in einer nicht allzu fernen und leider | |
| nicht ganz unplausiblen Zukunft, mutmaßlich in den 2050er Jahren. Die | |
| Erderwärmung ist bereits fortgeschritten, das sechste Massenaussterben in | |
| vollem Gang, die Datenmassen fressen jede Menge Energie. Apropos, die nicht | |
| so Reichen ernähren sich nur noch von in heißes Wasser gerührtem Pulver. | |
| Die Familien von Era und Maja verkörpern in dieser Welt der ständigen | |
| Verluste zwei konträre Pole: Während die eine zu retten versucht, was zu | |
| retten ist, ihre Erinnerungen in feuerfeste Safes verschließt und | |
| bescheiden wirtschaftet, zählt im privilegierten Lifestyle der | |
| Influencerinnen nur die Gegenwart – selbst bei ihren rebellischen Kindern. | |
| Trotzdem erleben Era und Maja ihren ersten richtigen Crush miteinander, in | |
| aller Awkwardness und Glückseligkeit. | |
| ## Herrndorfs „Tschick“ kommt einem in dem Sinn | |
| Die Stimme, die die 1995 geborene Fiona Sironic für Era erfindet, knüpft | |
| nahtlos an den Titel an – die sensible Era erzählt genauso nerdig, cool und | |
| mutig, auch wenn sie letztlich auf der Seite der Bewahrerinnen steht. | |
| Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ kommt einem in den Sinn, wenn die Mädchen die | |
| jeweilige Enge ihrer Elternhäuser hinter sich lassen, weil sie von den | |
| Erwachsenen nichts mehr erwarten. Doch statt im Roadmovie übers Land | |
| cruisen Maja und Era doch meistens über die Datenautobahn, denn wenn sie es | |
| ins Freie schaffen, schlägt die Hitze zu „wie eine Wand“. Es bleibt aber | |
| auch Weißraum in Sironics Dystopie: Politik und Staatlichkeit kommen nur am | |
| Rande vor, etwa wenn die Schule nur noch online stattfindet oder Era der | |
| „porösen Staatsgewalt“ misstraut. Doch anders als [3][„Tschick“] läss… | |
| das Buch mit dem langen Titel nicht ganz locker weglesen. Alles ist strikt | |
| aus Eras unmittelbarer, mitunter sprunghafter Perspektive erzählt, weshalb | |
| sich Welt und Plot für die Leserin erst nach und nach zusammenpuzzeln. | |
| Dem widerspricht in gewisser Weise, dass die Ich-Erzählerin nach drei | |
| Vierteln des Textes behauptet, ihr Schreiben sei „der Versuch, aus all dem | |
| eins zu machen, mit einem Faden“. Auch Era muss sich auf vieles erst einen | |
| Reim machen. Etwa, wenn sie Maja zu Hause besucht und die Kulisse der | |
| Influencerinnen-Villa registriert, die Natürlichkeit und Privatheit | |
| vorgibt. Wenn sie zwischen die Fronten von Maja, Merle und ihren Müttern | |
| gerät. Oder als der Wald brennt und mit ihm das Tiny House und Maja | |
| plötzlich verschwindet. | |
| Sironic, die in Hildesheim und Wien Kreatives Schreiben und Sprachkunst | |
| studiert hat, begann 2020 mit der Arbeit an ihrem Roman. Damals war gerade | |
| Andreas Malms Manifest „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“ erschienen, | |
| in dem der schwedische Humanökologe recht unverhohlen zur materiellen | |
| Zerstörung der Dinge aufrief, „die unseren Planeten ruinieren“. „Am Sams… | |
| gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ geht noch einen | |
| Schritt weiter. „Ich glaube, man muss sich einfach auf den Moment | |
| konzentrieren“, sagt Maja, deren Netzwerk längst Mega-Datenfarmen ins | |
| Visier nimmt, und Era übersetzt: „Was sie damit meint, ist natürlich die | |
| komplette Auslöschung der Vergangenheit.“ Dass damit aber auch die Hoffnung | |
| sterben würde, beweisen ausgerechnet die Dinos: Dank ihnen wissen wir | |
| schließlich, dass es ein Leben nach dem Aussterben gibt. | |
| 13 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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