| # taz.de -- Israelische Gesellschaft: „Es macht mir Angst, wozu die Menschhei… | |
| > Wie konnte die israelische Gesellschaft so sehr abstumpfen? Diese Frage | |
| > bewegt unsere Autorin. Mit einer Freundin tauscht sie sich darüber aus. | |
| > Ein Chatverlauf. | |
| Bild: Der Gegenwind verfängt nicht in der Mehrheitsgesellschaft: Protest gegen… | |
| Unsere Autorin ist in der Ukraine geboren und in München aufgewachsen. 2012 | |
| zog sie zum Studium nach Israel, lernte Hebräisch und nahm später als Jüdin | |
| die israelische Staatsbürgerschaft an. Sie arbeitete als Kellnerin, als | |
| Kindergärtnerin mit Geflüchteten und als Tourguide in der | |
| Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Zuletzt leitete sie Bildungsreisen in | |
| Israel und den palästinensischen Gebieten. Vor fünf Jahren verließ sie das | |
| Land, auch weil es sie erschöpfte, sich vor Bekannten und Freund:innen | |
| immer wieder für ihre linken, humanistischen Positionen rechtfertigen zu | |
| müssen. In dem hier abgedruckten Chatverlauf versuchen sie und eine | |
| israelische Freundin zusammen zu begreifen: Wie kann die israelische | |
| Gesellschaft einen Genozid zulassen? | |
| Marina: Es fällt mir schwer zu verstehen, warum du und andere Freundinnen | |
| in Israel bleiben. Dieses Land fühlt sich so toxisch und vom Krieg | |
| gebeutelt an. Wie kann man dort noch leben? | |
| E: Du hast recht, es ist seltsam. Seltsamer als früher. | |
| M: Inwiefern? | |
| E: Das Land begeht einen Völkermord, und niemand in meinem Umfeld erwähnt | |
| ihn auch nur … | |
| M: Die Bevölkerung leugnet immer noch, [1][dass es ein Genozid ist]? | |
| E: Niemand spricht darüber. Man schweigt es tot. | |
| M: Weil es ihnen egal ist. | |
| E: Es geht immer nur um die Geiseln. | |
| M: Es macht mir Angst, wozu die Menschheit fähig ist. Ich würde gerne zu | |
| Besuch nach Israel kommen, aber ich kann mich einfach nicht überwinden. | |
| E: Das Schweigen fühlt sich an wie eine Art Abwehrmechanismus gegen die | |
| Ohnmacht. So erkläre ich mir das zumindest. Die Sache ist die: Normale | |
| Leute können sowieso nichts bewirken. Es gibt ja diejenigen, die gegen den | |
| Hunger in Gaza demonstrieren, die den Krieg auch für die Menschen in Gaza | |
| beenden wollen. Aber diese Demonstrationen bringen nichts, sie sind | |
| sinnlos. Auch die riesigen Demonstrationen, die den Krieg beenden und die | |
| Geiseln befreien wollen, bringen nichts. Deshalb ist man dazu übergegangen, | |
| einfach nicht mehr darüber zu sprechen. Nicht mehr darüber nachzudenken. | |
| M: Klar. Aber wenn wir ehrlich sind: Die Israelis interessiert [2][der | |
| Völkermord, den sie begehen], einfach nicht besonders. | |
| E: Es gibt immer diejenigen, die Palästinenser in Gaza hassen oder [3][die | |
| verrückten rechtsradikalen Ideologen]. Aber die meine ich nicht. Ich | |
| spreche über die anderen. | |
| M: Ich weiß. Nicht die Extremisten. Die normalen Leute. Die interessiert es | |
| nicht. Einige wenige ja, aber die meisten nicht. | |
| E: Es scheint sie zumindest nicht in ihrem alltäglichen Leben zu | |
| beschäftigen. Ich bin mir unsicher. Vielleicht wirkt es nur so, weil sie | |
| sich selbst davor beschützen wollen, sich schlecht zu fühlen. Das sind | |
| einfache Leute. Die meisten haben kein anderes Land. Sie müssen einfach mit | |
| der aktuellen Situation hier klarkommen, wie auch immer sie aussieht. | |
| M: Welche Rolle spielt es, ob sie sich selbst vor Schuldgefühlen bewahren | |
| wollen? Das sind ihre Söhne, ihre Brüder und Ehemänner, die einen | |
| Völkermord in Gaza begehen. | |
| E: Vielleicht könnte ich das Thema mit einem befreundeten Pärchen mal | |
| ansprechen. Aber ich glaube, sie würden sich als Verräter fühlen, offen | |
| darüber zu reden. In meinem Umfeld hasst man die Menschen in Gaza nicht, | |
| das wäre zu vereinfacht gesprochen. Ich habe auch Verwandte in Aschkelon | |
| (Stadt an der Küste nahe dem Gazastreifen; d. Red.). Der Sohn der Familie | |
| kämpft in Gaza. | |
| M: Natürlich gibt es viele gute Leute, das ist doch überall so. Aber es | |
| gibt auch eine Kollektivschuld. Was sagen deine Verwandten denn zu all dem? | |
| E: Sie sind mental absolut am Boden. Ich glaube beide, sie und ihr Sohn, | |
| sind verrückt geworden und leiden an Realitätsverlust. Aber du hast recht, | |
| all das ist nicht über Nacht passiert. Ich meine: Es ist einfach eine | |
| verrückte Realität, in einer Stadt zu leben, wo sie jeden Tag hören, wie | |
| man über Gaza die Bomben abwirft. Sie haben erzählt, ihr Sohn glaubt jetzt: | |
| Der Krieg in Gaza ist das echte Leben und das Leben im Frieden ist eine | |
| Illusion. | |
| M: Ich verstehe nicht, was du damit meinst. | |
| E: Von mehreren Seiten habe ich den Eindruck, unter den israelischen | |
| Soldaten und Reservisten herrscht ein überwältigendes Gefühl von | |
| Kameradschaft. Und genau für dieses Gefühl kehren sie immer wieder in den | |
| Krieg zurück. Wenn ich meine Verwandten sagen höre, ihr Sohn glaube, der | |
| Krieg sei das echte Leben, obwohl er eine Frau und Kinder zu Hause hat, | |
| glaube ich, das ist auch mit diesem Solidaritätsgefühl unter Kameraden zu | |
| erklären. Psychologisch steckt etwas Schreckliches und sehr Komplexes | |
| dahinter. Und es fühlt sich unmöglich an, zwischen diesen zwei Realitäten | |
| zu existieren, zwischen friedlichem Alltagsleben und der | |
| Kriegskameradschaft und dem Adrenalin. Soldaten verlieren deshalb auch | |
| ihren Realitätsbezug, wenn sie versuchen, sich zwischen diesen zwei | |
| Parallelwelten zu bewegen. | |
| M: Das ist todtraurig. Die Täter sind gleichzeitig die Opfer. | |
| E: Wie gesagt, ich glaube, meine Verwandten haben allmählich den Verstand | |
| verloren, auch wenn sie nach außen erst einmal ganz normal wirken. Mit den | |
| Jahren haben sie seltsame Bewältigungsstrategien entwickelt. Sie glauben | |
| jetzt sogar an Gott. | |
| M: Haha. | |
| E: Ihre Enkelkinder haben so lange mit dem ständigen Raketenalarm gelebt. | |
| Wer würde da nicht verrückt werden? Ich weiß, du fühlst das wahrscheinlich | |
| anders. Aber ich habe Mitgefühl mit ihnen. Sie sind aus der ehemaligen | |
| Sowjetunion hierhergezogen. Sie haben viel durchgemacht und sie haben | |
| keinen anderen Ort zum Leben. Sie versuchen einfach, in diesem Land als | |
| Familie zusammenzubleiben. Und plötzlich müssen sie irgendwie auf diesen | |
| Krieg reagieren, der um sie herum geschieht. Wie soll man damit klarkommen? | |
| M: Ich habe auch Mitgefühl. Aber du kannst ein schwieriges Leben haben und | |
| gleichzeitig [4][Palästinensern nicht ihre Menschlichkeit absprechen]. Das | |
| geht beides zusammen. | |
| E: Du hast recht. | |
| M: All das ist einfach eine Riesentragödie. | |
| E: Und sie geht immer weiter. | |
| M: Aber der Völkermord wäre nicht möglich gewesen, wenn die israelische | |
| Gesellschaft nicht schon lange vor dem 7. Oktober dazu bereit gewesen wäre. | |
| E: Das stimmt. | |
| 26 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marina Klimchuk | |
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