| # taz.de -- Gaza-Tagebuch: Bis zum Einbruch der Nacht auf dem Bürgersteig | |
| > Die Offensive auf Gaza-Stadt beginnt, als unsere Autorin noch dort ist. | |
| > Der Versuch, schnell in den Süden des Gazastreifens zu fliehen, | |
| > scheitert. | |
| Bild: Wo viele Menschen in Gaza derzeit unterkommen, auch unsere Autorin: ein Z… | |
| Wir glauben immer, wir hätten noch Zeit – doch so schnell rinnt sie uns | |
| davon. Als ich die Nachbarn Mitte September „Yalla, beeilt euch!“ rufen | |
| höre, ist mir nicht bewusst, dass mit ihrem Ruf schon wieder ein | |
| Zeitabschnitt verstrichen ist. Der Vermieter des Hochhauses in Gaza-Stadt, | |
| in dem wir eine Wohnung gemietet hatten, war vom israelischen Militär | |
| angerufen worden. Und musste uns auffordern, das Gebäude zu verlassen, | |
| bevor es bombardiert wurde. Zehn Minuten. Das war die gesamte Zeit, die uns | |
| der israelische Soldat zum Verschwinden gab. | |
| Die Verwirrung war groß, die Minuten verstrichen. Was sollte ich mitnehmen? | |
| Nichts zählte mehr außer das Überleben. | |
| Jeder von uns Jüngeren trug ein Kind: Vier Kinder, vier junge Menschen. | |
| Meine Mutter und mein Vater an unserer Seite. Ich hielt die kleine Tochter | |
| meines Bruders, Rima, in meinen Armen, während ich die zitternde Hand | |
| meiner Mutter umklammerte. Bereits zweimal in diesem Krieg hat sie kleine | |
| Schlaganfälle erlitten – aufgrund des Schocks. Mein Vater trug in der einen | |
| Hand eine Tasche mit offiziellen Dokumenten und in der anderen sein | |
| Telefon. Er versuchte verzweifelt, einen Freund oder Verwandten zu | |
| erreichen, bei dem wir unterkommen könnten – selbst wenn es nur in einem | |
| Zelt wäre. Aber wie so oft gab es keinen Empfang. | |
| ## Wie in einem Buch von Ghassan Kanafani | |
| Wir saßen auf der Straße im Schatten eines anderen Wohnturms – der genauso | |
| gut das nächste Ziel sein könnte. Die Erschöpfung zwang uns, einen Moment | |
| zu verweilen. Alle wussten, dass die Luftangriffe näher rückten. Unsere | |
| Augen waren auf den Turm gerichtet. Die Augen der anderen mit Mitleid darin | |
| auf uns. Wir hatten versucht, ein Taxi in den Süden zu buchen. Entgegen der | |
| Abmachung kam es nicht. | |
| Die Sonne brannte hinunter, versengte die Haut und auch unsere Herzen. Ich | |
| dachte an das Buch „Männer in der Sonne“ [1][des palästinensischen | |
| Schriftstellers Ghassan Kanafani.] Darin erzählt er die Nakba anhand von | |
| drei Männern. In meinem Kopf verbanden sich die Fäden der Geschichte | |
| miteinander: Der Kreis wiederholt sich. Seit mehr als siebzig Jahren sind | |
| wir gefangen in dieser Situation, gefangen durch die Besatzung und uns | |
| selbst. Im Buch sind es drei Männer, in der Realität heute ein ganzes Volk. | |
| Die Stunden an der Straße vergingen langsam. Als das Ziel – der Wohnturm – | |
| endlich zerstört war, legten sich Rauch, Staub und Schreie. Wir blieben bis | |
| zum Einbruch der Nacht auf dem Bürgersteig zurück. Dann machten wir uns auf | |
| den Weg zum Lager meiner Tante. Staub bedeckte unsere Gesichter und | |
| Kleidung, Müdigkeit umhüllte uns. Als wir ankamen, brachen wir zusammen. | |
| Meine Tante fragte: „Was ist passiert?“ Alle Augen richteten sich auf uns, | |
| sie warteten auf eine Antwort. Niemand sprach. Die Worte blieben mir im | |
| Hals stecken. Schließlich flüsterte ich: „Nichts.“ In meinem Kopf schrie | |
| ich, erlebte alles noch einmal. Doch außer „Nichts“ kam nichts aus meinem | |
| Mund. | |
| ## Die Morgendämmerung scheint orange in das Zelt | |
| Wir ruhten uns aus, klopften den Staub ab und saßen zusammen, während mein | |
| Vater dann doch alles bis ins kleinste Detail erzählte. Wir lagen | |
| nebeneinander im Zelt, eng aneinander gedrängt wie Sardinen. Ich starrte an | |
| die Zeltdecke. Mit dem Gesicht im Schmutz, nur mit einem zerfetzten Tuch | |
| bedeckt, spürte ich die Erde – ihre Kälte, ihren Geruch, ihre Körnigkeit an | |
| meinen Handflächen. Ich versuchte erst, sie abzuschütteln, aber sie klebte | |
| sich hartnäckig an mich. Also gab ich auf. Der Schlaf kam leicht. | |
| Trotz der Kälte der Nacht schlief ich bis zum Morgen. Die Morgendämmerung | |
| schlich sich in unser Zelt, ihr Licht war orange und sanft. Das Zwitschern | |
| der Spatzen in der Luft streifte mein Ohr. Ich sah mich um – alle anderen | |
| waren schon wach. Meine Tante neckte mich: „Na, Sawsan, du hast wohl gut | |
| geschlafen letzte Nacht!“ Ich streckte mich, gähnte und antwortete: „Das | |
| Lager ist tatsächlich komfortabel.“ Alle lachten. Meine Tante schüttelte | |
| den Kopf: „Du musst geträumt haben. Der Beschuss hörte erst im Morgengrauen | |
| auf“. | |
| Ich lachte auch, verwirrt über mich selbst. Und glaubte wieder daran, dass | |
| es noch mehr Zeit geben möge. Dass mehr Leben auf mich wartete. Mehr | |
| Morgen, der uns nach langen Nächten der Angst beruhigen würde. Und trotz | |
| all dem, was auch ein neuer Morgen wieder bringen könnte. Inzwischen sind | |
| wir im Süden angekommen. Wie viel Zeit bleibt uns diesmal? | |
| Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische | |
| Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit | |
| acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht. | |
| Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges | |
| nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ | |
| holen wir Stimmen von vor Ort ein. | |
| Aus dem Englischen Lisa Schneider | |
| 29 Sep 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/ghassan-kanafani-palaestina-100.html | |
| ## AUTOREN | |
| Sawsan Al-Ajouri | |
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