| # taz.de -- Buch des Soziologen Philipp Staab: Allein mit den Problemen der Geg… | |
| > Unsere Gesellschaft ist in einer schweren Identitätskrise, schreibt der | |
| > Soziologe Philipp Staab in seinem neuen Buch. Kommen wir da wieder raus? | |
| Bild: Mit der am Horizont drohenden Klimakatastrophe funktioniert die Selbstent… | |
| Berlin taz | Das fast schon rührend schlichte Modell eines Hauses wandert | |
| durch dieses Buch, das den Titel „Systemkrise“ trägt und dem man viele | |
| interessierte Leserinnen und Leser wünscht, weil es, so der Eindruck, dazu | |
| beitragen kann, unsere herausfordernde Gegenwart besser zu verstehen. | |
| Das Haus, in einfachen Strichzeichnungen präsentiert, repräsentiert unsere | |
| Gesellschaft. Zunächst sieht es noch ganz stabil aus. Ein paar Abschnitte | |
| weiter bröckelt aber schon das Fundament. Die Dachbalken werden morsch. | |
| Irgendwann stehen die Wände schief. Schließlich pfeift der Sturm gegen das | |
| Haus und erschüttert es endgültig in seinen Grundfesten. | |
| Der Sturm, das ist die Klimakatastrophe, die inzwischen unseren Alltag | |
| erreicht hat. Sie spielt in diesem Buch die zentrale Rolle der | |
| menschengemachten Bedrohung, die nun von außen die gesellschaftlichen | |
| Rahmenbedingungen verschiebt. Aber auch im Inneren des Hauses gibt es | |
| Herausforderungen. Wird es halten? | |
| Philipp Staab heißt der Autor dieses Buches. Er ist Soziologieprofessor, | |
| 1983 geboren, er lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin. Während | |
| andere Autor*innen in diesem Bücherherbst näher herangehen an die | |
| heftigen aktuellen Kulturkämpfe – Polarisierung, Zerstörungslust, Vibe | |
| Shift lauten die Stichworte –, tritt Staab ein, zwei Schritte zurück. | |
| ## Die Aussicht auf Wohlstand erzeugte Gefolgschaft | |
| Er bemüht sich, aufs Ganze der Gesellschaft zu blicken. Das ist ein Wagnis. | |
| Denn das Ganze, so die vielfach gehörte Diagnose, löst sich gerade | |
| krisenhaft auf. Aber warum tut es das und in welchem Rahmen? Und warum | |
| kommen derzeit vor allem rechte kulturkämpferische Narrative durch? Philipp | |
| Staab legt eine zur Bearbeitung solcher brisanten Fragen interessante | |
| Gegenwartsanalyse vor. | |
| Um das zu tun, lehnt er sich an ein berühmtes Vorbild an, an Jürgen | |
| Habermas’ Band „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ aus dem Jahr | |
| 1973, damals ein ziemlicher Aufreger. Nach dem Abebben der | |
| Studentenproteste um das Jahr 1968 herum erklärte Habermas den | |
| Revoltierenden, dass sie ihre Revolte sowieso falsch verstanden hatten. | |
| Ihre Revolutionshoffnungen waren noch den Ideen eines Aufstands des | |
| Proletariats gefolgt. | |
| Bei der Arbeiterschaft hatte sich die boomende Nachkriegsgesellschaft aber | |
| längst Gefolgschaft, Habermas sagt Legitimation, erkauft, durch | |
| Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und die Aussicht auf Wohlstand für | |
| (fast) alle. Die 68er-Revolte deutete Habermas nun als gesellschaftliche | |
| Sinnkrise. Die jungen Leute wollten halt nicht mehr so funktionieren wie | |
| ihre Eltern, deren Malocherei kam ihnen entfremdet vor, sie wollten | |
| Selbstverwirklichung. | |
| An diese Analyse knüpft nun Philipp Staab an. Auf die von Habermas | |
| analysierte gesellschaftliche Sinnkrise hat die kapitalistische | |
| Gesellschaft vielfältig reagiert, sagt Staab, und zwar mit einer | |
| Erweiterung der individuellen Möglichkeiten der Sinnstiftung. Neue, | |
| vielfältige Identitätsangebote. Mehr Ellbogenfreiheit für Frauen und | |
| Minderheiten. | |
| ## Gesellschaftliche Identitätskrise | |
| Autonomere Möglichkeiten des privaten Lebens. Mit dem Versprechen einer | |
| permanent erweiterten Selbstentfaltung hat sich die liberalisierte | |
| Gesellschaft also die Legitimation ihrer Mitglieder erkauft und der | |
| Kapitalismus sich erneuert. | |
| Nur, und das ist jetzt der Kniff, mit dem Staab die Habermas’sche Deutung | |
| weiterführt, funktioniert das alles so in der Gegenwart halt nicht mehr, | |
| was eine gesellschaftliche [1][Identitätskrise] auslöst. Für diese Krise | |
| führt Staab zwei Gründe an. Zum einen haben sich die gesellschaftlichen | |
| Freiheiten inzwischen als mindestens anstrengend, zum Teil auch als | |
| trügerisch erwiesen. | |
| Die modernisierte Familie mit ihren vielfältigen Aushandelsprozessen will | |
| erst mal gewuppt und gemanagt werden. Zum Beschreibungsprofil der neuen | |
| Arbeitswelten gehört neben flachen Hierarchien und Selbstverantwortung auch | |
| der Burn-out. Nicht, dass man zu überkommenen Rollenmodellen zurückkehren | |
| wollte, aber als Verheißungen verkaufen kann man das nicht mehr. | |
| Hinzu kommt zum anderen mit großer Wucht der Klimawandel. Er zeigt, Staab | |
| zufolge, lebensweltlich konkret auf, dass der Erweiterung individueller | |
| Selbstentfaltungsmöglichkeiten Grenzen gesetzt sind. Die Szenarios kennt | |
| ein jeder. Die Erde reagiert auf die größer gewordenen Autos und | |
| Eigenheime, die Massenflugreisen und aus dem Boden sprießenden | |
| Großrechenzentren mit Temperaturanstiegen, Starkregen und Überschwemmungen | |
| da, Trockenheit dort. | |
| ## Verunsicherte Lebenswelten | |
| Damit aber funktioniert das zentrale Versprechen der Moderne auf stetig | |
| wachsende Selbstentfaltung nicht mehr. Staab: „Das etablierte Modell der | |
| Legitimationsbeschaffung durch Versprechen auf eine bessere Zukunft dürfte | |
| an durch Klimawandel und Ölkrise verunsicherte Lebenswelten nicht mehr | |
| anschlussfähig sein.“ Kurz, die Zeiten gesellschaftlicher Aufbrüche sind | |
| erst einmal vorbei. Von der Zukunftshoffnung schaltet die Lebenswelt darauf | |
| um, sich angesichts ihrer Bedrohung an die Gegenwart zu klammern und | |
| wenigstens möglichst viel von ihr zu retten. | |
| Die einzelnen Bausteine dieses Ansatzes sind keineswegs neu und auch nicht | |
| originell. Interessant ist aber, wie Staab sie zusammensetzt: als | |
| Identitätskrise einer Gesellschaft, deren eingeübte Strategien der | |
| Konfliktlösung nicht mehr reibungslos funktionieren. Staab: „Zugespitzt | |
| formuliert, taucht der Klimawandel die gesamte Kultur und mit ihr alle | |
| politischen Fragen in die Farben des Überlebens. | |
| Der politische Raum wird dabei in einer Weise eingefärbt, die verständlich | |
| macht, warum selbst vergleichsweise unschuldige Themen wie der Veggieday in | |
| der Kantine oder das Ausweisen von Zonen für Einfamilienhäuser von empörten | |
| Bürgern wie Konflikte ums Ganze behandelt und es dadurch tatsächlich auch | |
| werden.“ | |
| Wie mit diesem Ansatz umgehen? Vielleicht ist die produktive Frage gar | |
| nicht, ob er stimmt oder nicht, sondern was er dazu beiträgt, die | |
| [2][gegenwärtige Lage] zu erkennen. Dabei gibt es noch viele Leerstellen. | |
| So kommt die AfD bei Staab nicht systematisch vor. Warum werden die Leute | |
| nicht einfach konservativ, sondern laufen völkischen Denkern in die Arme? | |
| Staab benennt in seinem Blick aufs Ganze keine politischen Gegnerschaften | |
| und gönnt einem so auch nicht die Entlastung durch mögliche Mobilisierung. | |
| ## Abstrakte Skizze statt ausgereifter Theorie | |
| Außerdem differenziert er nicht zwischen überkommenen und vielleicht ja | |
| doch zeitgemäßen Formen der Selbstentfaltung. Es ist schließlich etwas | |
| anderes, ob man im Vorort als Zweitauto einen SUV-Sportwagen in die | |
| Doppelgarage packt oder ob man sich in den urbanen Innenstadtbereichen | |
| mitsamt seiner Einkäufe und Kinder mit dem Lastenrad fortbewegt. Insgesamt | |
| ist in diesem Buch, ähnlich wie bei den Häuser-Modellen, vieles eher noch | |
| abstrakte Skizze als tatsächlich ausgearbeitete Theorie. Mal sehen, wie | |
| sich das Denken dieses Autors weiterentwickelt. | |
| Auf der Habenseite stehen aber viele augenöffnende Einsichten. So geht | |
| Staab davon aus, dass sich der Klimawandel als großes globales Szenario | |
| gesamtgesellschaftlich längst durchgesetzt hat. Selbst ihn zu leugnen, | |
| erweist sich längst als eine Strategie, mit ihm umzugehen: Augen zu und | |
| durch. Wenn das so ist, dann hilft noch mehr Ökoprotest und noch mehr | |
| Aufklärung, so wichtig sie bleiben, allein nicht mehr. | |
| Was dann? Wie ein Schatten aus der Vergangenheit erscheint in dem Buch etwa | |
| der Glaube an Prozesse subjektiver Reifung, den etwa noch Ulrich Beck in | |
| seinem Buch „Risikogesellschaft“ vertrat. [3][Jürgen Habermas] hat bei | |
| allen Krisenszenarios, die er entworfen hat, letztlich immer am zwanglosen | |
| Zwang der Vernunft festgehalten. | |
| Philipp Staab ist da deutlich pessimistischer. Ihm zufolge funktioniert das | |
| komplette Modell, dass ausgetragene Konflikte die Gesellschaft | |
| voranbringen, nicht mehr. Und das hat gerade auf progressiver Seite | |
| zunächst etwas Niederschmetterndes. | |
| ## Die Zeit drängt | |
| Hoffnung auf Problemlösungen setzt Staab eher auf Politiker*innen, die | |
| geistesgegenwärtig die Gunst günstiger Gelegenheiten nutzen – doch die kann | |
| man sich auch nicht einfach backen. Als Beispiel nennt Staab die | |
| Coronakrise, in der die Politik eine bessere materielle Ausstattung und | |
| kulturelle Aufwertung von Pflegeberufen hätte betreiben können (es | |
| allerdings nicht getan hat). Womöglich steht ihm auch Angela Merkel vor | |
| Augen, die [4][nach Fukushima] die Abkehr von der Atomenergie durchsetzte. | |
| Man kann nach dieser Lektüre aber auch denken, dass es strukturelle | |
| Ähnlichkeiten unserer Gegenwart mit den 1970ern gibt, in der Habermas seine | |
| Legitimationskrise analysierte. | |
| Nachdem sich 1968 die Revolutionshoffnungen zerschlagen hatten, mussten | |
| damals die emanzipativen Aufbrüche in einem kleinteiligen | |
| gesellschaftlichen Prozess Schritt für Schritt erstritten werden. In der | |
| Legitimationskrise der Gegenwart hat sich die Hoffnung etwa der | |
| Realo-Grünen zerschlagen, die ökologischen Probleme vernünftig und mit | |
| möglichst wenig Nebenfolgen für die Bevölkerung zu lösen. | |
| Vielleicht markiert ein zurücktretender Blick aufs Ganze, wie Staab ihn | |
| skizziert, ja – dem gegenwärtigen Augenschein zum Trotz – den Beginn eines | |
| langwierigen Prozesses, neue, zeitgemäße Konfliktlösungen einzuüben. Wenn | |
| das stimmt, dann schickt Staab die Gesellschaft auf den langen Marsch, sich | |
| nicht ständig von Triggerpunkten leiten und ablenken zu lassen. | |
| Immerhin ist das eine Perspektive. Leicht wird es nicht. Und die Zeit | |
| drängt. | |
| 25 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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