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# taz.de -- Linksfraktion im Bundestag: Sie sind neu, wollen viel und sind furc…
> Die neuen Abgeordneten der Linken kommen aus den sozialen Bewegungen. Ist
> ihr freundlicher Stil nur eine Phase oder die Zukunft linker Politik?
Bild: Luke Hoß und Lea Reisner auf der Fraktionsebene im Reichstag
Berlin taz | Die Abgeordnete Lea Reisner, 36 Jahre alt, kommt am
Montagmittag leicht abgekämpft in ihr Bundestagsbüro. Kein optimaler
Wochenstart. Die Sommerpause ist vorbei. Die Haushaltswoche beginnt, das
Hochamt des Parlamentsbetriebs. Sie habe nur drei Stunden geschlafen, sagt
sie. Allerdings aus erfreulichen Gründen.
Ihre Partei, die Linke, hat [1][bei den Kommunalwahlen] in Köln am Sonntag
10,8 Prozent geholt – ihr bestes Ergebnis in NRW. Reisner wohnt in
Köln-Kalk, einem Stadtteil mit vielen Migranten und hoher Arbeitslosigkeit.
In Kalk ist die Linkspartei, wenn auch bei niedriger Wahlbeteiligung, mit
30 Prozent stärkste Kraft geworden. Eigentlich wollte Reisner am Sonntag um
20 Uhr nach Hause gehen. Daraus wurde dann nichts.
Reisner ist eine von vielen Neuen der Linke-Fraktion im Bundestag. Die
Aktivistin hat bei Sea-Watch und Reporter ohne Grenzen gearbeitet. Mit
Parteipolitik hatte sie eher wenig am Hut, kannte den Betrieb aber ein
wenig. Sie war mal ein Jahr Mitarbeiterin einer
Linke-Bundestagsabgeordneten.
„Ich habe mich am Anfang nicht ganz so oft in den Gängen des Bundestags
verlaufen“, sagt Reisner. Und sie kannte schon den Unterschied zwischen
einem Entschließungsantrag und einem Änderungsantrag. Auf ihrem schwarzen,
ausgewaschenen T-Shirt steht: „No one is free until everybody is free“ –
ein Slogan der US-Bürgerrechtsbewegung.
Lea Reisner, was war Ihre wichtigste Erfahrung in den letzten sechs Monaten
im Parlament?
„Die Debatten in der Fraktion finden respektvoll und wertschätzend statt“,
sagt sie. So klingen viele linke Neuparlamentarier. Es gebe zwar
Stressthemen. Aber Flügel, Peergroups, die sich gegenseitig die Pest an
den Hals wünschten – früher nicht ganz unbekannt in der Linksfraktion –,
die gebe es nicht. Meinungen und Mehrheiten wechselten eher flüssig.
## Fest vertäut mit dem Wahlkreis
Manches befindet sich noch in der Kategorie Zwischenlösung. Das Gespräch
mit Luke Hoß, 24 Jahre alt, findet in einem schmucklosen Konferenzraum
statt. Sein Büro ist etwas überfüllt, gerade sind eine neue Praktikantin
und eine FSJlerin angekommen. Hoß, Jurastudent aus dem bayerischen Passau,
war bis vor Kurzem der jüngste Abgeordnete im Bundestag und daher medial
äußerst gefragt. Die linke Nachrückerin Lizzy Schubert ist jetzt die
Jüngste.
Hoß, mit Britpop-Pony und in Lederschuhen, trägt es mit Fassung. Es sei
doch gut, wenn mehr Jüngere im Parlament sind, sagt er. Hoß ist rasant die
Karrerieleiter hochgepurzelt. Chef der Grünen Jugend in Passau, Eintritt in
die Linke, Kreisvorsitzender, MdB. Es ging alles schnell. Vielleicht betont
er deshalb, so wie viele neue linke Bundestagsabgeordnete, wie wichtig der
Wahlkreis sei. Die solidarische Küche, die die Linke in Passau an jedem
letzten Sonntag im Monat organisiert, hat er seit März 2025 kein einziges
Mal verpasst. Bloß nicht abheben.
Auch Lea Reisner betont, dass sie ja nur hier sei, weil die Linkspartei in
Köln „mich auf die Liste gesetzt hat“. Und: „Abgekoppelt in Berlin
herumzuschwirren, ist nicht ideal für linke Politik.“ Sich fest mit Basis
und Wahlkreis zu vertäuen, erscheint als Gegengift zu den Verlockungen der
Hauptstadtblase. Luke Hoß hat seine üppige MdB-Diät von 12.000 Euro auf
2.500 begrenzt, exklusive Ausgaben, die er als Abgeordneter braucht, etwa
eine Wohnung in Berlin.
Er fährt stoisch mit der S-Bahn nach Hause, statt den kostenlosen
Fahrdienst des Bundestags zu nutzen. Die Tunnel im Regierungsviertel, die
Bundestag und Jakob-Kaiser-Haus verbinden, erscheinen ihm als Sinnbild
eines abgedichteten Systems, das den Kontakt mit dem Leben draußen meidet.
Man müsse „nicht mal mehr vor die Tür gehen, um von Gebäude zu Gebäude zu
laufen“. Berufspolitiker will er nicht werden, sondern Gewerkschaftsanwalt.
Lea Reisner fremdelt auch ein wenig mit den Gewohnheiten des Bundestags.
Sie wohnt weit draußen und nutzt den Fahrdienst nur, wenn sie bis
spätabends arbeitet und morgens wieder früh im Büro sein muss, „ganz
selten“. Von Sea-Watch zum Fahrdienst. Das „fühlt sich sehr, sehr schräg
an“, sagt sie, verwundert über sich selbst.
Die neuen Linken klingen selten laut. Auch wenn sie radikal für eine ganz
andere Migrationspolitik, gegen Aufrüstung, für „Tax the Rich“ plädieren,
bleiben sie eher sanft.
Auch bei Gaza und Israel, dem linken Triggerthema?
Das Meinungsspektrum in der Fraktion ist ziemlich weit – von Bodo Ramelow
bis Ferat Koçak. Ramelow bezichtigte kürzlich [2][in einem Interview] eine
ungenannte junge Genossin der Hamas-Sympathien, hat sich dafür aber in der
Fraktion entschuldigt. Bei Koçaks Neuköllner Kreisverband tauchte zu einem
Sommerfest eine Miniorganisation [3][mit Hamas-Verbindung] auf.
Das empörte jene Linken, die bei radikaler Israelkritik Antisemitismus
wittern. Für den 27. September ruft die Linksfraktion zu einer
Gazasolidaritätsdemonstration auf. Schafft die neue Fraktion das, ohne
sich zu zerlegen?
## „Wertschätzend“ als Zauberwort
Cansu Özdemir, 37, ist neu im Bundestag, aber schon lange im Geschäft. 14
Jahre lang saß sie in der Hamburgischen Bürgerschaft, zehn Jahre als linke
Fraktionschefin. Özdemir lobt den Gaza-Antrag der Linksfraktion im
Bundestag und sieht eigentlich „keine Kontroverse“. Die Linkspartei
plädiere für das „Existenzrecht Israels und dafür, endlich Konsequenzen aus
Netanjahus schweren Menschenrechtsverletzungen zu ziehen“.
Die Fraktion stehe zu Völkerrecht und Menschenrechten, auch in Nahost. Die
Debatten in der Fraktion seien auch zu Gaza wertschätzend, sagt Özdemir.
Wertschätzend ist offenbar das Zauberwort der neuen Harmoniekultur der
Linken.
Als im Sommer bei der „United4 Gaza“-Demo in Berlin am Rand ein paar
IS-Fahnen wehten, kritisierte Özdemir, die kurdische Wurzeln hat, das in
einem Facebook-Post scharf. Von der Demonstration der Linkspartei am 27.
September will man Iranfans oder IS-Anhänger ausschließen. Distanz zu
Islamisten – das ist, versichern alle, Konsens in der Linksfraktion.
Es klopft. Die Tür schwingt auf. Der Kühlschrank für das Büro von Cansu
Özdemir wird geliefert.
Lea Reisner, die wie Cansu Özdemir im Auswärtigen Ausschuss sitzt,
versichert, dass der Krieg in Gaza linke Jüd*innen aus ihrem Umfeld „in
eine schwere Identitätskrise gestürzt hat, weil Israel als Hoffnung
verschwindet“. Zugleich sei die Linke manchen, die solidarisch mit
Palästina sind, „nicht laut und schnell genug“. Die Ansichten der Neuen zu
Nahost klingen eher abwägend als auftrumpfend. Die Neigung anderer Linker,
sich eine Israel- oder Palästinafahne auf den Schreibtisch zu stellen,
haben sie eher nicht.
## Als Arbeiter ins Parlament
In Cem Inces Büro wird gerade ein Plakat eingerahmt, „Nein zum Krieg“ steht
darauf. Ince kommt aus dem niedersächsischen Salzgitter, wo Fahrzeug- und
Stahlwerke dem Strukturwandel entgegenbangen. Abrüstung ist eines von Inces
Herzensthemen. Dass die kriselnde Autoindustrie demnächst Panzer baut, hält
Ince, 31 Jahre alt, für eine Sackgasse.
Seit Langem fließe in Deutschland zu viel Geld in die Rüstungsindustrie:
„Diese Militarisierung muss man stoppen.“ Bis Anfang Mai hat Ince noch bei
VW gearbeitet. In den Gremien der IG Metall in Salzgitter ist der gelernte
Elektroniker weiter aktiv, inklusive Sitzungen. „In Salzgitter fühle ich
mich noch immer wohler als in Berlin“, sagt er.
Mehr als 80 Prozent der Abgeordneten haben studiert, oft Jura. Die meisten
stammen aus gut situierten Elternhäusern, Ince nicht. Sein Großvater kam
als Gastarbeiter, sein Vater ist Betriebsrat bei VW. Ince, Kurzhaarschnitt,
T-Shirt, Kettchen am Handgelenk, glaubt, dass seine Stimme und die seiner
Kolleg*innen im Parlament gehört werden muss. Und dass – kühne These –
nur die Linkspartei von der Transformation verunsicherte Arbeiter in
Salzgitter davon abhalten könne, zur AfD zu kippen.
„Wir reden von Klassenkampf und ungerechter Verteilung, und wir hören zu.
Das macht uns bei arbeitenden Menschen glaubwürdig“, sagt Ince. Eine
Koalition mit SPD und Grünen wagen? Das brauche zu viele Kompromisse, sagt
Ince. „Dann lieber gerade bleiben.“ Sogar das klingt softer als früher.
Die Neuen achten auf Distanz zum Betrieb. Für Leute, die aus den sozialen
Bewegungen kommen, ist Parteipolitik nicht unbedingt was Gutes. Das Wort
Berufspolitiker klingt aus manchem Mund wie Kopfschmerzen, das Wort
Fahrdienst wie Verrat. Aber sie wollen Konkretes erreichen.
Özdemir vermisst den in Hamburg selbstverständlichen Austausch mit
Kolleg*innen von SPD, Grünen, CDU, der nicht nur hilfreich ist, um
Abschiebungen zu verhindern. Reisner will das Leben der Leute vor Ort
konkret verbessern, Hoß arbeitet im Rechtsausschuss an der Abschaffung von
Freiheitsstrafen für das Fahren ohne Fahrschein.
Warum sind Neu-Linke eigentlich so nett? Ist die demonstrative
Entspanntheit ein Phänomen des Anfangs, etwas, das verdampfen wird, wenn
die Routinen etabliert sind? Auch Machtgruppen brauchen ja Zeit, um sich zu
formieren und auszuhärten.
Den Zwang, harte Entscheidungen zu treffen, Situationen, in denen sich
nicht alles rückstandsfrei in wertschätzenden Debatten auflösen ließ, gab
es in der Linksfraktion noch nicht. Und: Die jungen Abgeordneten sind nur
in den Bundestag gekommen, weil Tausende Neumitglieder für die Linke
Wahlkampf gemacht haben. Machtkämpfe in der Fraktion finden die eher
abturnend.
Vielleicht spiegelt sich im freundlichen linken Mikroklima auch eine
Verschiebung der Großwetterlage. Der Stimmenanteil der AfD steigt, in
[4][Sachsen-Anhalt kam sie in einer Umfrage auf 39 Prozent]. Auch manche
Linke-Abgeordnete zweifeln daran, dass Mietwucher-App, Heizkostenrechner
und Anträge im Bundestag als Antwort auf den AfD-Höhenflug ausreichen.
Vielleicht ist die Betonung des Netten der neue linke Ton in Zeiten, in
denen sich draußen ein Orkan zusammen braut.
19 Sep 2025
## LINKS
[1] /Kommunalwahlen-in-Nordrhein-Westfalen/!6113730
[2] https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:1606d9da8ed442ea/
[3] /Linke-Veranstaltung-zu-Palaestina/!6102724
[4] /Umfrage-zur-Landtagswahl-Sachsen-Anhalt/!6111989
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Franziska Schindler
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