# taz.de -- Mutter und Tochter über Sexualität: „Sag mir, wo du stehst“ | |
> Toni braucht das Label „bisexuell“. Mutter Dorit ist ebenfalls queer, | |
> will aber keine Schubladen. Hat auch das Leben in der DDR daran Anteil? | |
> Ein Dialog | |
Bild: Dorit David wollte einen Bereich für sich | |
Toni: Meine Mutter ist anders. Nicht nur, weil sie in ihrer Freizeit | |
Burlesque tanzte und beruflich Clown*innen ausbildet. Die Art, wie sie | |
Menschen betrachtet. Irgendwann begriff ich: Sie ist [1][queer]. Wie ich. | |
Aber sie sagte es nie. Sie sagte Dinge wie „Verlieben kann man sich immer – | |
egal was der oder die ‚da unten‘ hat“ oder erzählte von wilden jugendlic… | |
Ausflügen mit ihren lesbischen Freundinnen und schwulen Freunden. Als sich | |
zwischen mir und einer Freundin mehr als nur Freundschaft entwickelte, | |
erzählte ich ihr nichts davon. Vielleicht, weil ich ein Teenager war. | |
Vielleicht aber auch, weil ich keine Worte für meine Gefühle hatte – außer | |
„anders“. Als Erwachsene erleichtert es mich, in [2][Dating-Apps] das | |
Häkchen „bisexuell“ auswählen zu können. Ich muss mich weniger erklären… | |
ich fühle mich verbunden mit Menschen, die ihr Häkchen ebenfalls außerhalb | |
von „heterosexuell“ setzen. Blicke ich nun zurück auf die offene Erziehung | |
durch meine Mutter, frage ich mich: Warum hat sie sich mir nicht deutlicher | |
zu erkennen gegeben? | |
Dorit: In der Pubertät war ich meinen Kindern peinlich. Vor allem wenn ich | |
über Sex sprach. Sie sagten mir einmal: Dank dir war der | |
Sexualkundeunterricht in der Schule echt lahm. Offenbar habe ich freizügig | |
aufgeklärt und dennoch explizites verschwiegen. Es geschah mit jener | |
sogenannten hemdsärmeligen Offenheit in Bezug auf Sex, die „uns Ossis“ | |
manchmal zugeschrieben wird. Hinsichtlich der Hetero-, Homo- oder | |
Bisexualität (mehr Sparten gab es für mich in der DDR nicht) war es mir | |
wichtig, meine Kinder aufzuklären. Ich habe meine Bisexualität als junger | |
Mensch nicht ernst genommen. In der Szene wurde Bi damals weder von der | |
homosexuellen noch von der heterosexuellen Seite wirklich akzeptiert. Ich | |
kämpfte mit der Scham, feige zu sein, mit der Hasenherzigkeit, sich nicht | |
entscheiden zu wollen. Ich wollte einen Bereich für mich, ein Areal, | |
welches nicht deklariert und somit auch nicht kontrolliert werden konnte. | |
Im Kontrast zu dem Agitationssong des Oktoberklubs „Sag mir, wo du | |
stehst“, mit dem ich aufwuchs, wollte ich eben nicht sagen, „wo ich stehe�… | |
Der omnipräsente Politsong diente der Identifikation bei FDJ | |
Veranstaltungen, Festen und lief in jedem Propagandaspot. Ein Standpunkt | |
entschied darüber, ob ich Freund oder Feind war in diesem System. Ich | |
erlebte es hautnah in Bezug auf meine lesbische Freundin, die Berlinverbot | |
(Aufenthaltsverbot für die Hauptstadt; Anm. d. Red.) hatte. Sie fiel aus | |
der Norm. Der politischen und der geschlechtlichen. Beides bedingte sich. | |
Eine Einordnung war mir zuwider. | |
Toni: Queere Labels sind für mich keine feststehenden Kategorien, eher | |
Hilfsmittel im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Ohne klare Worte sind wir | |
sprachlos. Meine Generation will nicht mehr sprachlos sein; wir haben | |
Wörter für alles. Wir gendern, haben Situationships und unser Vokabular für | |
sexuelle und geschlechtliche Vielfalt lässt einige Boomer*innen mehr | |
schwitzen als Achtklässler*innen vor dem Französisch-Vokabeltest. Wer | |
sich an zwei bis drei Kategorien für sexuelle Orientierung und die | |
Aufteilung in Mann und Frau gewöhnt hat, kommt nun vielleicht nicht mehr | |
mit. Wir sind jetzt nicht nur schwul, sondern auch nicht binär, pansexuell, | |
trans-masc und bi-curious – dazu die freie Pronomenwahl. Sexualität und | |
Identität sind Spektren, denen wir uns mit Worten nur annähern können. | |
Dorit: Ich nehme die Gen-Z als sehr fokussiert auf Identitätsfindung wahr. | |
Ich sehe, WIE wichtig es ihnen ist. Diese Dringlichkeit, dieses Beharren, | |
ihre Akribie und Gründlichkeit kann ich nicht nachfühlen, aber ich denke: | |
Ich muss nicht alles JETZT verstehen. Jede Generation arbeitet an ihrem | |
Thema. Allein die Geschichte wird im Rückblick zeigen, warum genau das | |
wichtig war. Inmitten eines Prozesses ist man oft blind. Ich mag die | |
optische Vielfalt der queeren Szene in der Öffentlichkeit sehr. Als junger | |
Mensch hätte mir das sicher auch gutgetan und mich mit mehr Mut | |
ausgestattet. | |
Mich persönlich aber befreien Labels nicht. Für mich ist es existenzieller, | |
wie ich damit leben kann. Als ich mich einmal Hals über Kopf in eine Frau | |
verliebte, war ich noch keine Vierzig und lebte in einer | |
Mutter-Vater-Kinder-Beziehung. Mein Partner wusste von Anfang an, dass ich | |
nach beiden Seiten hin offen war. Dennoch behielt ich meine Verliebtheit | |
lange für mich, hatte aber die Vision, dass unser Lebensmodell um diese | |
Position erweiterbar wäre, was sich als Irrtum erwies. | |
Toni: Einmal fuhr meine Mutter mit meiner Schwester und mir, einer guten | |
Freundin und deren Tochter ohne meinen Vater in den Urlaub. Auch wenn ich | |
damals wahrnahm, dass nach dem „Mädelsurlaub“ unser Haussegen etwas schief | |
hing – richtig einordnen konnte ich diese Situation erst Jahre später. Ohne | |
ein offenes Gespräch mit meiner Mutter wäre ihre Freundin Ingrid (Name | |
geändert) in meinem Kopf immer nur „eine Freundin“ gewesen. Trotz offener | |
Erziehung, trotz eigener Queerness. Diese Blindheit gegenüber queerem Leben | |
in meinem engsten Umfeld macht mich traurig. Heute frage ich mich: Zwischen | |
wie vielen Holgers und Günthers, deren Heterofamilien sich heute zum | |
Plätzchenbacken treffen, hat es in den 80ern mal gefunkt? | |
Dorit: Als ich mich Freundinnen anvertraute, erzählten mir einige, dass sie | |
ebenfalls nicht „eindeutig festgelegt“ seien und vor ihrer jetzigen | |
Beziehung entweder eine gleichgeschlechtliche geführt oder sich in ihrer | |
Beziehung in eine andere Frau verliebt hätten. | |
Mit der Generation unserer Eltern, Tanten und Onkels gab es diesbezüglich | |
keine oder nur minimal offene Gespräche. Ein angeekelter Gesichtsausdruck | |
während einer Fernsehsendung, in der zwei Männer sich küssten, oder der | |
existenziell besorgte Blick, wenn ein Junge mit elf Jahren unbändigen Spaß | |
in Prinzessinnenkleidern hatte, sagte genug. Ich erinnere mich an ein | |
Aufklärungsbuch, das ich mit dreizehn aus dem Regal meiner Eltern fischte, | |
welches Homosexualität, Pädophilie, Sodomie und SM-Praktiken auf eine Stufe | |
stellte. In meiner Erinnerung setzten sie sich vor allem als eins fest: | |
Abweichungen. | |
Toni: Angriffe auf queere Menschen, der Aufschwung der Rechtsextremen und | |
[3][ein Bundeskanzler, für den die Regenbogenflagge in ein Zirkuszelt | |
gehört], sind Realität in Deutschland. Es braucht Mut, angesichts dessen | |
offen queer zu leben. Wären Ingrid und meine Mutter ein Paar geworden, | |
hätte es Fragen gegeben. Von Freund*innen, Klassenkamerad*innen, | |
wahrscheinlich auch von Fremden an der Eisdiele. Der Widerwille, seine | |
intimsten Gefühle öffentlich erklären zu müssen, weil man nicht „der Norm… | |
entspricht, ist nachvollziehbar. Gleichzeitig ist es anstrengend, seine | |
wahren Gefühle immer zu verstecken. Ein Dilemma. | |
Dorit: Mit vierzehn schrieb ich in mein Tagebuch: | |
„… im Moment wäre es leichter homosexuell zu sein … ich würde es bei | |
manchen Mädchen als angenehmer empfinden mit ihr zusammen zu sein … ich | |
möchte auch manchmal mein Leben lang ledig bleiben …“ | |
Ein halbes Jahr später schrieb ich über eine Frau: | |
„… Ich wollte nur noch eines, vor deiner Wohnungstür stehen, du machst auf | |
und ich fall dir in die Arme, sage alles, alles, alles …“ | |
Ich liebe das Androgyne in Menschen, sowohl in Männern als auch in Frauen. | |
Ich genieße es, wenn beide Anteile in einem Wesen ihren Platz haben. Für | |
mich war schon früh klar, dass es keine Grenzen gibt. | |
Toni: Mit drei Jahren, so hat meine Mutter es in ein Baby-Tagebuch | |
geschrieben, sagte ich: „Ich will nur Frauen heiraten, die mich gerne | |
küssen.“ Irgendwo auf dem Weg in die Pubertät habe ich diese einfache | |
Erkenntnis vergessen. In einer Welt, die mich mit einem Mann sehen will, | |
musste ich sie erst wiederfinden. Nun stehe ich vor einer neuen Frage: Was, | |
wenn ich doch einen Mann heirate? Denn die queere Gen-Z hat viel zu sagen | |
über „bisexual women in straight relationships“. Memes über Frauen, die | |
sich schämen, mit einem Mann zusammen zu sein, Tiktoks darüber, ob man | |
wirklich bisexuell ist, obwohl man nie Sex mit einer Frau hatte und | |
Reddit-Threads, in denen bisexuelle Frauen in Hetero-Ehen ihre | |
Identitätskrise thematisieren. Wenn ich mich dann mit viereckigen Augen und | |
einem regenbogenfarbenen Strudel im Kopf vom Bildschirm abwende, wäre ich | |
manchmal gerne wieder drei. Und dann schalte ich zur Identitätsfindung das | |
Smartphone auch mal ab. | |
Dorit: Wie ich mich unter Gebrauch der Labels heute bezeichnen würde? Ich | |
verliebe mich in den Geist, die Kreativität, in das Gehirn eines Menschen. | |
Gibt es dafür einen Begriff? Diese Auffächerung an Möglichkeiten in der | |
queeren Szene ist für meine eigene Einordnung noch immer irrelevant. Indem | |
ich mich den sozialen Rollen verweigere, stifte ich Verwirrung im gängigen | |
System. | |
Vielleicht ist dieses Heraustreten aus dem System „männlich–weiblich“ au… | |
ein Heraustreten aus dem System der ewigen Ungleichbehandlung der | |
Geschlechter? Wenn in einer späteren oder utopischen Gesellschaft das | |
Geschlecht irrelevant dafür wäre, welche Macht ich habe, bräuchte es dann | |
diese Labels noch? Sind sie vielleicht auch Reaktion auf die | |
Ungleichberechtigung? | |
16 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-LGBTQIA/!t5025674 | |
[2] /Dating-Apps-in-der-Uebersicht/!5739419 | |
[3] /Merz-gegen-Regenbogenfahne/!6094735 | |
## AUTOREN | |
Dorit David | |
Antonia David | |
## TAGS | |
Schwerpunkt LGBTQIA | |
Familie | |
DDR | |
Generationen | |
Social-Auswahl | |
Reden wir darüber | |
Trans | |
Georgien | |
Kolumne Änder Studies | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Trans- und queere Communities: Protest gegen Kongress | |
Rund 200 Menschen folgten einem Demo-Aufruf des Bündnisses „Transfeinde | |
stressen“. Anlass war ein als transfeindlich eingestufter Kongress in | |
Berlin. | |
Queerfeindliches Gesetz in Georgien: Präsidentin verweigert Unterschrift | |
Salome Surabischwili schickt das umstrittene Familienwerte-Gesetz zurück | |
ans Parlament. Doch damit ist das Gesetz gegen LGBTQ-Rechte nicht gestoppt. | |
Bisexualität und Sichtbarkeit: Ich bin bi und das ist auch gut so | |
Wollen jetzt etwa alle bisexuell sein? Ja! Oder zumindest viele. Das ist | |
kein Trend, sondern Ausdruck einer positiven gesellschaftlichen | |
Entwicklung. |