| # taz.de -- Weltweit erste Münstermann-Ausstellung: Der Herrgottsschnitzer von… | |
| > Ludwig Münstermann war in der Provinz ein Bildhauer von europäischem | |
| > Rang. Das Oldenburger Landesmuseum beweist das mit einer packenden | |
| > Ausstellung. | |
| Bild: Überrascht nicht, dass auch die expressionistischen Brücke-Künstler ih… | |
| Die größte Überraschung ist der Herkules. Klar sind da auch die | |
| faszinierend extatischen Figuren, dieser Konsolenkopf etwa, der, mit | |
| Früchten bekränzt, ein erstarrter Schrei zu sein scheint. Es gibt da auch | |
| den geflügelten Lindenholz-Teufel: Halb schwebend, halb tänzelnd bietet er, | |
| krass obszön lachend, der Welt seine hängenden Brüste mit | |
| entzündlich-geröteten Zitzen genauso dar, wie einen eregierten | |
| sichelförmigen Penis. | |
| Oder der Evangelist aus hartem Holz. Mit überlangem Finger sticht er | |
| regelrecht in die aufgeschlagene Seite des Buchs: Die ganze Wahrheit, hier | |
| steht sie doch! Und die Wahrheit ist: Ludwig Münstermann, der diesen | |
| Matthäus mit dem freudig zu ihm aufblickenden, kindlichen Engel [1][im | |
| frühen 17. Jahrhundert] geschaffen hat, genau wie die ausdrucksstarken | |
| Holzköpfe – der Herrgottsschnitzer Ludwig Münstermann ist wirklich eine | |
| Wucht. | |
| Aber in ihrem Eingangsraum begrüßt und überrascht die vom | |
| [2][Oldenburgischen Landesmuseum] ausgerichtete, erste monografische | |
| Münstermann-Ausstellung überhaupt ihre Besucher*innen mit einem | |
| Herkules aus Sandstein. Das ist ein epochetypisches Sujet. Aber den | |
| Bildkonventionen gehorcht es ganz und gar nicht: Dieser Herkules ist eher | |
| so ein nachdenklicher Schlaks mit Schnäuzer, fast melancholisch. | |
| Vielleicht guckt er so traurig, weil er ja als Heide keinen Anteil an | |
| Gottes Gnade haben kann, aber wer weiß das schon. Einst hat diese Plastik | |
| einen Kaminaufbau getragen, so, wie der Held im Mythos den ganzen Erdball. | |
| Sie muss es ganz beiläufig getan haben, als ob's nichts wäre: Das Werk | |
| vermittelt den Eindruck, dass diese Person sich ihrer Kraft gewiss ist. | |
| ## Münstermanns Herkules muss sich nicht beweisen | |
| Sie muss ihre Stärke weder sich selbst, noch irgendjemandem sonst beweisen: | |
| Also hängt die rechte Schulter etwas schräg nach unten, auf der linken ruht | |
| eine recht handliche Keule, ohne die Herkules kaum als Herkules erkennbar | |
| wäre: schmal der Brustkorb, langgestreckt die Oberschenkel, echte | |
| Tänzerbeine. Das rechte ist leicht vorgestellt, das linke angewinkelt. So | |
| bildet die ganze Sandstein-Skulptur eine auch in sich noch einmal | |
| geschwungene Linie. | |
| Figura Serpentinata nennt das die Kunstgeschichte. Als ihr Entwickler gilt | |
| Michelangelo. Von ihm ausgehend ist sie in der späten Renaissance so etwas | |
| wie das [3][Merkmal des Manierismus] geworden: Sie bringt Bewegung in die | |
| Körper, in die gemalten von El Greco genauso wie in die modellierten und | |
| geschnitzten von Münstermann. Und Bewegung heißt Drama, heißt Ausdruck. Das | |
| ist, grob gesagt die [4][Gemeinsamkeit der dieser Mode des 16. und 17. | |
| Jahrhunderts zugerechneten Künstler*innen]. | |
| Die innere Bewegung wird ihnen wichtiger, als die abbildhafte Treue. Sie | |
| überdehnen Körper, vergrößern Gliedmaße, damit sie mehr ausdrücken, und s… | |
| verzerren Gesichtszüge bis zur Karikatur, die ja in ihrer modernen | |
| Ausprägung als ein Erbstück jener Stilrichtung gilt. | |
| Die Ausstellung im Oldenburger Augusteum ist eine kleine Sensation. Lange | |
| bevor er sich [5][dem Nationalsozialismus verschrieb], hatte ja der | |
| Kunsthistoriker Adolf Feulner festgestellt, man müsse Münstermanns Werke | |
| „aus ihrer Umgebung lösen und isoliert betrachten“. Dann nämlich „wirken | |
| sie wie eine Offenbarung.“ | |
| Aber das ist leichter gesagt als getan: Bis auf eine handvoll Museumsstücke | |
| in Berlin, Bremen und Oldenburg befinden sich die erhaltenen Arbeiten nach | |
| wie vor vor allem in den Kirchen der Dörfer und Flecken zwischen | |
| Wangerland, Wesermündung und Delmenhorst. | |
| ## Die Arbeiten sind weit verstreut und fest installiert | |
| „Wir können ja nicht die Altäre hierher holen“, so Museumsdirektorin Anna | |
| Heinze. Schon der Aufwand, die 35 gezeigten Einzelstücke ranzukarren und in | |
| den ersten Stock des 1867 als Museum errichteten Augusteum zu hieven, hat | |
| die Ausstellung zu einem Wagnis gemacht: Skulpturen zu zeigen ist technisch | |
| aufwändig, also teuer. | |
| Und dann hat er zwar einflussreiche Fans, wie Markus Lüpertz, [6][der 2015 | |
| im Berliner Bode-Museum seinem Apoll begegnet ist]. In einem Zyklus von 99 | |
| Papierarbeiten –einige sind in Oldenburg zu sehen – hat sich der | |
| Düsseldorfer Maler malerisch-zeichnerisch mit dem norddeutschen Bildhauer | |
| auseinandergesetzt. | |
| Aber trotzdem kennt ja kaum jemand diesen Ludwig oder Lütke oder Ludowig | |
| Münstermann. Man weiß auch fast nichts über ihn. Er ist irgendwann nach | |
| 1570 möglicherweise in Bremen geboren. Er hat mutmaßlich dort, vielleicht | |
| auch in Braunschweig und Magdeburg gelernt, bevor er in Hamburg das | |
| Bürgerrecht erwirbt. Dort legt er 1599 die Meisterprüfung ab. Dort hat er | |
| ein eigenes Haus besessen, eine eigene Werkstatt aufgebaut, seine erste | |
| Frau begraben, zum zweiten Mal geheiratet. | |
| Aber sein ganzes Talent hat er in Epitaphen, Altären sowie unfassbar | |
| detailreichen Taufen für die protestantischen Kirchen und Grafenschlösser | |
| [7][in und um Oldenburg gesteckt, wo während des 30-Jährigen Kriegs Frieden | |
| herrscht und Wohlstand.] Selbst vor dem großen Brand von 1842 scheint es in | |
| Hamburg kein einziges Kunstwerk von ihm gegeben zu haben. | |
| ## Die Ausstellung soll auch die Forschung wiederbeleben | |
| Warum ist nicht ganz klar. Das Hamburger Zunftrecht soll eine Rolle | |
| gespielt haben. Münstermann war dort ja nicht als Holzschnitzer oder | |
| Steinmetz registriert, sondern „Im Ambte der dreier“, also als | |
| Drechslermeister, in die Gilde aufgenommen worden. Vielleicht durfte er | |
| dort also nicht figürlich arbeiten. Aber warum dann in Oldenburg? „Die | |
| Ausstellung“, so Heinze, „soll auch die Münstermann-Forschung | |
| wiederbeleben.“ | |
| Die ist ungefähr so alt, wie der Expressionismus in der Kunst: Die | |
| Brücke-Maler hatten ihn sozusagen als Vorfahren entdeckt, [8][während sie | |
| am Jadebusen Sommerurlaub machten]. In deren Begeisterungsrufe stimmt bald | |
| eine nationalistisch-revanchistische Kunstgeschichtsschreibung ein. Nicht | |
| nur deren ideologische Übermalungen muss eine gegenwärtige Annäherung | |
| vermeiden. Denn das Oeuvre ist selbstredend von lutheranischer Ideologie | |
| inspiriert – einschließlich ihrem Hass auf Juden, vermutet Kurator Hannes | |
| Eckstein. | |
| Zum Beispiel der schreckliche Teufel: Er wirkt wie eine um 250 Jahre zu | |
| früh gekommene Verkörperung einer Wilhelm Busch-Zeichnung. Die Figurine ist | |
| fraglos ein Meisterwerk. Aber es scheint „Luthers sämtliche | |
| antijudaistischen Topoi zu reproduzieren“, wie der Münstermann-Spezialist | |
| im Katalog zu denken gibt. Oder auch der große Moses von 1611, für | |
| Oldenburgs Hauptkirche aus Sandstein gehauen: Da sind die Buchstaben, die | |
| das Hebräische eher verspotten, als es abzubilden. Und dann fungierte er | |
| auch noch als Träger einer Kanzel, und seinem Gesicht ist abzulesen, dass | |
| ihr Gewicht ihn fast schon erdrückt. Das ist ein wiederkehrendes Muster. | |
| Für St. Secundus im Dorf Schwei, das ziemlich abgelegen in der Wesermarsch | |
| gleich am Jadebusen liegt, kann man einen Münstermann-Moses sehen, aus Holz | |
| und so bunt bemalt, wie es seiner Zeit gefiel. Auch der muss den | |
| Predigtstuhl tragen. Auch dessen Blick geht suchend in den Himmel, traurig | |
| und unerlöst – während über ihm der Pastor die Worte des lebendigen Gottes | |
| verkündet. Andererseits: Moses trägt ihn eben auch. Alles ruht auf ihm. | |
| Die Sache bleibt zweideutig, und das nicht unter den Tisch fallen zu | |
| lassen, sondern zum Umgang damit aufzufordern, ist eine Qualität der | |
| Ausstellung. Sie verklärt Münstermann nicht, sie weigert sich, ihn zu | |
| verharmlosen. Sie macht das stupende architektonische Wissen sichtbar, ohne | |
| das er und seine Werkstatt die meterhohen Schnitzaltäre nicht hätte | |
| realisieren können. | |
| Und wenigstens von einem von denen, dem von der Dorfkirche von Blexen, hat | |
| das Museumsteam die großen Eichenholz-Skulpturen von Matthäus, Markus, | |
| Lukas und Johannes herabgeholt. Sonst in mehr als drei Metern Höhe dem | |
| Blick entzogen, stehen sie nun da: Es ist möglich, ihnen nahe zu treten, | |
| sie mit dem Auge ganz zu umfassen, ihren mannigfaltigen und intensiven | |
| Ausdruck zu ergründen. Und das ist etwas ganz Besonderes. Weil es berührt. | |
| 22 Sep 2025 | |
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| Benno Schirrmeister | |
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